Vom Erzählen und Zuhören

Knut Hickethi­er

l. Mündliches Erzählen

„Es war einmal…“

„Ein König!“ wer­den sofort mei­ne klei­nen Leser aus­ru­fen. Nein, Kin­der, dies­mal habt ihr es nicht erra­ten. Es war ein­mal ein Stück Holz.“

Mit die­sen Sät­zen beginnt eines der bekann­tes­ten Kin­der­bü­cher, Car­lo Col­lo­dis „Pinoc­chi­os Aben­teu­er“. (Col­lo­di, S. 7) Der Autor redet zu fik­ti­ven Zuhö­rern (die er gleich­wohl als „mei­ne klei­nen Leser“ anspricht) und gibt damit, als Ein­stieg in eine zu lesen­de Geschich­te, das Bild des münd­li­chen Erzäh­lers, der den um ihn her­um­sit­zen­den Kin­dern sei­ne Geschich­te von Pinoc­chio erzählt. Auch wenn es sich hier um eine lite­ra­ri­sche Kon­struk­ti­on han­delt, ist die dar­in ange­deu­te­te Erzähl­si­tua­ti­on an den Anfang die­ses (geschrie­be­nen und nicht erzähl­ten) Tex­tes gesetzt, weil dar­in das The­ma in knap­per Form ent­hal­ten ist: Es geht um die Bezie­hun­gen des Erzäh­lers zu sei­nen Zuhö­rern, dabei vor allem um jene Erzähl­stra­te­gien, die dar­auf abzie­len, den Zuhö­rer am Erzähl­pro­zess teil­ha­ben zu las­sen, die über den Erzähl­in­halt, über die je kon­kre­te Geschich­te hin­aus, den Zuhö­rer dazu ver­an­las­sen, sich selbst und die eige­nen Vor­stel­lun­gen in die erzähl­te Geschich­te miteinzubringen.

Das Bei­spiel vom Erzäh­ler und sei­nen Zuhö­rern ent­stammt einem Kin­der­buch. Das ist nicht zufäl­lig, denn aus­führ­li­cher erzählt wur­de und wird auch heu­te noch vor allem Kin­dern. So wer­den auch die meis­ten der wei­te­ren Bei­spie­le, in denen es um Erzäh­l­er­fah­run­gen geht, vom Erzäh­len für Kin­der handeln.

2. Erzählen – ein dialogischer Vorgang

Wer erzählt, braucht Zuhö­rer. Das Mit­tei­lungs­be­dürf­nis, das jedem Erzäh­len zugrun­de liegt, stößt ins Lee­re, wenn nie­mand da ist, der zuhört. Erzäh­len, münd­li­ches Erzäh­len, ist Spre­chen von Erleb­nis­sen, Ereig­nis­sen, ist das Sich-Mit­tei­len. Es ist aber immer auch Spre­chen zu jeman­dem, ist ein Anderen-etwas-Mitteilen.

Erzäh­len und Zuhö­ren sind zusam­men­ge­hö­ri­ge Tei­le eines Kom­mu­ni­ka­ti­ons­vor­gan­ges: So wie der Erzäh­ler auf die Zuhö­rer sieht, ihre Reak­tio­nen auf­nimmt und damit selbst, wenn auch meist auf der Ebe­ne ande­rer Mit­tei­lungs­sys­te­me als der Spra­che, gleich­zei­tig „Zuhö­rer“, Auf­neh­men­der ist, so ist umge­kehrt das Zuhö­ren nicht pas­siv. Zuhö­ren ist Auf­neh­men und Sich­ver­ge­gen­wär­ti­gen des Erzähl­ten, Zuhö­ren ist zugleich ein spe­zi­fi­sches Mit­tun. Wer zuhört, macht dem Erzäh­ler deut­lich, wie er zuhört, ob es ihn inter­es­siert oder lang­weilt, und beein­flusst damit den Erzäh­ler in der Art und Wei­se sei­nes Erzäh­lens. Der Erzäh­ler wie­der­um muss sich in sei­nem Erzäh­len auf sei­ne Zuhö­rer ein­stel­len, will er nicht an ihnen „vor­bei reden“. Er muss sich auf ihre Auf­nah­me­fä­hig­keit und -bereit­schaft ein­stel­len, sich die Geschich­te anzu­hö­ren, kann die­se aber auch durch bestimm­te Tech­ni­ken des Span­nungs­auf­baus, der Ver­rät­se­lung etc. wecken. Das Erzäh­len ist des­halb nicht vom Erzäh­ler allein gesteu­ert, son­dern immer auch von den Zuhö­rern. Die Betei­li­gung der Zuhö­rer kann sehr unter­schied­lich sein, ganz wesent­lich dabei ist, wel­chen Raum der Erzäh­ler ihnen dafür gibt, wel­che Impul­se er zur Aus­fül­lung die­ses Rau­mes den Zuhö­rern über­mit­telt, wie er das vom Zuhö­rer Ein­ge­brach­te auf­nimmt und weiterverwendet.

In den Erzähl­di­dak­ti­ken der Schu­le fin­det sich der Hin­weis, dass Erzäh­lun­gen so zu gestal­ten sei­en, dass das eige­ne Erleb­nis des Erzäh­lers zum Erleb­nis des Zuhö­rers wer­den müs­se und dies gelin­ge nur dann, wenn nicht „lust­los und im zer­stö­re­ri­schen Eil­tem­po“ erzählt werde:

„Der Schü­ler muss dar­auf aus­ge­hen, durch sein Erzäh­len sei­ne Mit­schü­ler zu unter­hal­ten, sie in Span­nung zu ver­set­zen sie zum Schmun­zeln oder Lachen zu brin­gen, sie trau­rig oder nach­denk­lich zu stim­men – in jedem Fall aber ihre Auf­merk­sam­keit zu gewin­nen und sie wäh­rend des Erzähl­vor­gan­ges fest­zu­hal­ten.“ (Wint­gens, S. 39)

Doch dies gelingt nicht allein durch „ein zum Bers­ten gespann­tes Mit­teil­unigs­be­dürf­nis“. Die Auf­merk­sam­keit der Zuhö­rer gewinnt der Erzäh­ler nur, wenn er, eine grund­sätz­li­che Bereit­schaft zum Zuhö­ren vor­aus­ge­setzt, die Zuhö­rer nicht über­schüt­tet, son­dern ihnen zwi­schen­durch Luft lässt, ihnen Raum für die eige­ne Asso­zia­ti­ons­bil­dung schafft.

Erzäh­len ist, so ver­stan­den, ein dia­lo­gi­scher Vor­gang – eine Auf­fas­sung, die gera­de lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen Erzähl­theo­rien, die ihr Para­dig­ma in der Gat­tung Roman haben, wider­spricht (vgl. F. K. Stan­zel). Münd­li­ches Erzäh­len, und das unter­schei­det es von dem an die schrift­li­che Text­form gebun­de­nen, beschränkt sich nicht auf die Spra­che als ein­zi­gem Zei­chen­sys­tem, son­dern benutzt selbst­ver­ständ­lich eben­falls alle die münd­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­on mit­kon­sti­tu­ie­ren­den Zei­chen­sys­te­me: Die kur­ze Ver­stän­di­gung über den Blick, die ver­schie­de­nen Mög­lich­kei­ten der Beto­nung und der Akzen­tu­ie­rung des Spre­chens, der Stimm­ver­än­de­rung, schließ­lich die mimi­schen und ges­ti­schen For­men der Unter­stüt­zung oder Kom­men­tie­rung des gespro­che­nen Wor­tes. Wie der Erzäh­ler eben durch den geziel­ten Ein­satz die­ser Mit­tel das Erzähl­te „zum Erleb­nis des Zuhö­rers“ wer­den las­sen kann, so arti­ku­liert sich auch der Zuhö­rer, häu­fig unbe­wusst, durch nicht­sprach­li­che Mit­tel über die Art sei­nes Zuhö­rens, ver­si­chert dem Erzäh­ler durch eine Viel­zahl von Signa­len, dass er wei­ter­hin zuhört.

Wir ken­nen dies, auf der Ebe­ne des Akus­ti­schen, von den Tele­fon-Erzäh­lun­gen. Geben wir dem Erzäh­ler als Hören­de nicht in Abstän­den akus­ti­sche Signa­le (und sei es nur durch ein „hm“), so denkt der Erzäh­ler, wir hör­ten nicht mehr zu, ver­stummt und lässt uns eine län­ge­re und deut­li­che Pau­se. Er for­dert uns damit auf, ihm zu ver­si­chern, dass wir noch „da“ sind und mit Anteil­nah­me lau­schen. Erst nach der nun deut­li­chen Ver­si­che­rung unse­res Inter­es­ses wird er fort­fah­ren. Beim Erzäh­len, das nicht durch ein tech­ni­sches Medi­um ver­mit­telt ist, geschieht die­se Bestä­ti­gung des Zuhö­rens meist auf ande­ren Ebe­nen. So ist in Erzähl­be­rich­ten oft von den „leuch­ten­den“ Augen der Zuhö­rer die Rede, von den offe­nen Mün­dern der Selbst­ver­ges­sen­heit, auch von den Zwi­schen­ru­fen, Nach­fra­gen, von dem Sich-Ein­men­gen der Zuhörer.

Die Erzäh­lung ent­wi­ckelt sich aus dem Gespräch. Die Pola­ri­sie­rung auf einen Erzäh­ler und Zuhö­ren­de in der Wei­se, dass der Zuhö­rer nur pas­siv auf­nimmt, ist Fik­ti­on. Sicher gibt es bei der Betei­li­gung des Zuhö­rers am Erzäh­len Abstu­fun­gen, gibt es unter­schied­li­che Kon­ven­tio­na­li­sie­run­gen, aber gänz­lich kann kein Erzäh­ler auf die Betei­li­gung der Zuhö­rer verzichten.

Der sechs­jäh­ri­ge Fabi­an fragt am Abend im Bade­zim­mer sei­nen Vater:

„Weißt du, was wir heu­te gemacht haben?“ – „Nein, wann denn?“ – „Als ich mit Bar­ba­ra beim Ein­kau­fen war.“ – „Erzähl mal.“ – „Wir sind mit dem Auto gefah­ren und in der Stra­ße stan­den über­all Poli­zis­ten und Feu­er­wehr­män­ner. Da waren auch Poli­zei­au­tos, ein gro­ßes und zwei klei­ne. Und alles war abge­sperrt. Wir konn­ten auch gar nicht wei­ter­fah­ren.“ – „Und was habt ihr da gemacht?“ – „Wir haben ange­hal­ten und sind aus­ge­stie­gen und haben geguckt. Und stell dir vor, da ist in dem einen Haus, näm­lich im vier­ten Stock, da hat jemand Spreng­zeug hin­ge­legt, da ist dann ein Stück von der Wand raus­ge­flo­gen. Rich­tig raus­ge­flo­gen. Auf die Stra­ße und oben war ein gro­ßes Loch. Wie es run­ter­ge­fal­len ist, haben wir nicht gese­hen, aber so klei­ne Autos von der Feu­er­wehr waren da.“ – „Das ist ja auf­re­gend. Wie ist denn das pas­siert?“ – „Von dem Spreng­zeug kam das.“ – „Habt ihr gese­hen, wer das gemacht hat?“ -· „Nein.“ – „Und was habt ihr dann gemacht?“ – „Wir sind so umge­dreht mit dem Auto, so und dann so, und dann sind wir weg­ge­fah­ren. (Dabei macht er die Bewe­gung eines auf dem Bade­wan­nen­rand fah­ren­den Autos.) Und dann ist das Auto so lang gefah­ren – und dann ist es auf eine ande­re Dya­ne (Fahr­zeug­typ) drauf­ge­fah­ren.“ – „Na, das glaub ich nicht.“ (Lachen)

Für man­che Erzähl­for­scher mag die­se Geschich­te nicht den for­ma­len Prin­zi­pi­en einer Erzäh­lung im Sin­ne eines gat­tungs­ori­en­tier­ten Klas­si­fi­ka­ti­ons­sche­mas sein, auch wird sie sicher nicht in den „Erzähl­schatz“ eines Erzäh­lers auf­ge­nom­men wer­den, doch ist sie, gera­de auch in ihrem Anspruch, auf einer Tat­sa­che zu beru­hen und die­se zu berich­ten, ein Bei­spiel des „all­täg­li­chen Erzäh­lens“. Am Abend nach der regio­na­len „Abend­schau“ des Fern­se­hens, die über die Explo­si­on berich­te­te (und die auch zu erzäh­len wuss­te, dass hier zwei Män­ner einen Spreng­satz hat­ten bas­teln wol­len und dabei selbst in die Luft geflo­gen waren), wird die Kin­der­er­zäh­lung noch um die mora­li­sche Leh­re ver­voll­stän­digt: Da sieht man, dass man mit sol­chem gefähr­li­chen Zeug nicht spie­len soll. Der Oma kann am nächs­ten Tag bereits alles noch zusam­men­hän­gen­der erzählt wer­den. In der ers­ten Fas­sung, die den Ent­ste­hungs­pro­zess der Erzäh­lung noch erken­nen lässt, ist das dia­lo­gi­sche Prin­zip klar abzulesen.

Der Erzäh­ler erkun­det zunächst die Bereit­schaft des poten­ti­el­len Zuhö­rers, weckt sein Inter­es­se, bis die­ser ihn zum Erzäh­len auf­for­dert. Der Zuhö­rer begnügt sich nicht mit dem blo­ßen Anhö­ren, er fragt zwi­schen­durch nach, lässt sich Ein­zel­hei­ten, die ihm zu unbe­stimmt sind, genau­er erzäh­len und bekun­det damit zugleich das Inter­es­se, mehr zu hören. Als der eigent­li­che Erzähl­stoff, die Schil­de­rung des Ereig­nis­ses, been­det ist, wird eine „phan­tas­ti­sche“ Ergän­zung ange­hängt (der Zusam­men­stoß der bei­den Autos), die jedoch als nicht den Tat­sa­chen ent­spre­chend vom Zuhö­rer ange­zwei­felt wird. Das gemein­sa­me Lachen been­det den Erzähl­vor­gang und ent­las­tet hier vor allem den Erzäh­ler vom Erlebnisdruck.

3. Vorlesen und Erzählen

„Ich erzäh­le abends zum Ein­schla­fen mei­ner Kin­der kei­ne Geschich­ten mehr“, erklärt ein Vater einem ande­ren, „ich habe das frü­her ein­mal gemacht, aber da sind sie nicht ein­ge­schla­fen. Da habe ich drei, vier, manch­mal noch mehr Geschich­ten erzählt, Erleb­nis­se vom Tage, Geschich­ten von frü­her, was immer auch, da sind sie immer wach geblie­ben und haben nach­ge­fragt, etwas ein­ge­wor­fen und selbst dazwi­schen­er­zählt. Wir sind so ins Reden gekom­men, und ein­ge­schla­fen sind sie nicht. Dann habe ich ange­fan­gen, zum Ein­schla­fen Geschich­ten vor­zu­le­sen. Das ging bes­ser, doch da gibt es auch Unter­schie­de. Wenn ich beson­ders span­nend vor­le­se, mit Beto­nung und klei­nen Pau­sen, dann schla­fen die bei­den, Fabi­an und Ben­ja­min, schwe­rer ein, als wenn ich bewusst ein­för­mig, ohne Akzen­tu­ie­rung vor­le­se. Mit lei­ser wer­den­der Stim­me, das Gele­se­ne län­ger zie­hend, dann auch noch län­ge­re Geschich­ten, viel­leicht sogar noch etwas unüber­sicht­lich in ihrer Struk­tur, dann schla­fen sie schnel­ler ein.“

Natür­lich hängt das auch von der Art der Geschich­ten ab, ob viel pas­siert, ob es ver­ständ­lich ist oder lan­ge Beschrei­bun­gen vor­han­den sind, erklärt er dann auf Nach­fra­ge, auch davon, ob es schon spä­ter ist und bei­de müde sind. „Aber auf­ge­fal­len ist mir doch, dass man durch die Art des Vor­le­sens das Zuhö­ren und die Teil­nah­me steu­ern kann. Ich habe das dann auch schon mal gezielt ein­ge­setzt, wenn ich abends wenig Zeit hat­te und das Ein­schla­fen schnell gehen soll­te. Sie haben dann aber schnell mit­be­kom­men, dass ich lie­ber län­ge­re Geschich­ten vor­le­se und sie lie­ber kür­ze­re, über­schau­ba­re hören woll­ten. So zum Bei­spiel die Geschich­ten vom klei­nen Sta­ti­ons­vor­ste­her, dem klei­nen Zau­be­rer und dem Nacht­wäch­ter oder die unsäg­li­chen von „Pün­kel­chen“. Ganz sicher spielt auch die Affi­ni­tät zu den klei­nen Haupt­fi­gu­ren die­ser Geschich­ten eine Rol­le, eben­so auch, dass bei die­sen Geschich­ten immer Abbil­dun­gen dabei sind, die dann auch ange­se­hen wer­den müssen.“

Ein lite­ra­ri­sches Bild ergänzt den Erzähl­be­richt. Wil­helm Hauff hat in sei­nen drei Mär­chen­al­ma­na­chen Rah­men­hand­lun­gen ent­wi­ckelt, die dann Erzähl­si­tua­tio­nen für die ver­schie­de­nen Mär­chen und Geschich­ten abge­ben: Im Zelt der Kara­wa­nen erzäh­len sich die Rei­sen­den abends reih­um Geschich­ten eben­so wie im Haus des Scheiks von Ales­sand­ria. Im Wirts­haus im Spes­sart erzäh­len sich die Gäs­te gegen­sei­tig aus Furcht vor Räu­bern Geschich­ten, um so nicht ein­zu­schla­fen, son­dern wach zu blei­ben. Es ist nicht nur das Erzäh­len, son­dern auch das Dar­an-Betei­ligt­sein, das wach hält: Rund­um erzählt jeder eine Geschich­te – eine Erzähl­si­tua­ti­on, die Hauff mehr­fach anspricht:

„Das haben die Bau­ers­leu­te wohl bedacht“, sagt der Jäger, „wenn die Frau­en und Mäd­chen in den lan­gen Win­ter­aben­den bei Licht spin­nen, so blei­ben sie nicht ein­sam zu Hau­se, weil sie da wohl mit­ten unter der Arbeit ein­schlie­fen, son­dern sie kom­men zusam­men in den soge­nann­ten Licht­stu­ben, set­zen sich in gro­ßen Gesell­schaf­ten zur Arbeit und erzäh­len.“ (Hauff, S. 274)

Die Beson­der­heit des Erzäh­lens wird im Ver­gleich zum Vor­le­sen deut­lich. Vor­le­sen ist noch stark bestimmt durch den aneig­nen­den Lese­vor­gang. Das gleich­zei­ti­ge Spre­chen ist ein dem Lesen zusätz­lich Bei­gege­be­nes, Lesen als eine Kul­tur­tech­nik ist bei uns stil­les Lesen. Da wir den zu lesen­den Text zumeist nicht ken­nen, ihn zum ersten­mal lesen, spre­chen wir ihn beim Vor­le­sen anders, als wenn wir sei­nen Inhalt als einen uns bekann­ten und wohl­ver­trau­ten erzäh­len. Beim Vor­le­sen sind wir mit den Augen beim Text, nicht bei den Zuhö­rern. Der feh­len­de Blick­kon­takt zum Zuhö­rer bedeu­tet, dass wir des­sen Reak­tio­nen weni­ger Beach­tung schen­ken. Die Inter­ak­ti­on fin­det pri­mär zwi­schen dem Lesen­den und dem Text statt, die zwi­schen dem Spre­chen­den und den Zuhö­rern ist nach­ge­ord­net. Dabei pas­siert es denn auch, dass Beto­nun­gen häu­fig nicht an den rich­ti­gen Stel­len erfol­gen oder manch­mal auch ganz unter­blei­ben, Pau­sen wer­den eben­falls weni­ger gemacht oder kom­men an der fal­schen Stel­le, wie wir dann beim Wei­ter­le­sen feststellen.

Schon wenn wir den Text ein zwei­tes Mal (vor)lesen, lesen wir anders, spre­chen beton­ter, akzen­tu­ier­ter, in aller Regel auch lang­sa­mer. Wir wen­den uns, da wir den Text jetzt schon ken­nen, häu­fi­ger Pau­sen set­zend, an die Zuhö­rer, suchen deren Blick und ihr Ein­ver­ständ­nis. Dabei ist wich­tig, dass wir die Kon­struk­ti­on des Tex­tes, sei­ne Abschnit­te und Ver­bin­dungs­stü­cke, die für die Erzäh­lung wich­ti­gen Gelenk­stel­len ken­nen und auf sie hin das Vor­le­sen aus­rich­ten: Die Wie­der­ho­lun­gen eines Vor­gan­ges, deren drit­te die Wen­de bringt, wer­den so rich­tig akzen­tu­iert, die mehr­fa­che Auf­zäh­lung von Gegen­stän­den wird so beim Vor­le­sen refrain­ar­tig betont, Stei­ge­run­gen in den Adjek­ti­ven wer­den beim Spre­chen her­vor­ge­ho­ben, Gegen­über­set­zun­gen, Glie­de­run­gen, der Auf­bau der Geschich­te in ihrer Figu­ren- und Pro­blem­ex­po­si­ti­on, die Zuspit­zung des Kon­flikts, retar­die­ren­de Momen­te bis zum glück­li­chen Aus­gang der Geschich­te wer­den ent­spre­chend umgesetzt.

Bewuss­ter lässt sich das Tem­po ein­set­zen, kön­nen wir die Lese- und Sprech­ge­schwin­dig­keit beschleu­ni­gen und ver­lang­sa­men, weil wir das Ziel der Bewe­gung ken­nen. Spre­cher im Rund­funk z. B. ver­se­hen des­halb die von ihnen zu spre­chen­den (vor­zu­le­sen­den) Tex­te mit Mar­kie­run­gen, um so auch im Spre­chen den Sinn­zu­sam­men­hang des Tex­tes zu ver­deut­li­chen. Bei ihnen ist das Vor­le­sen pro­fes­sio­na­li­siert, doch auch bei ihnen erken­nen wir im Zuhö­ren Unter­schie­de, mer­ken wir bei geüb­tem Hören, ob sie vor­le­sen, einen geschrie­be­nen Text spre­chen oder eher eine Geschich­te erzäh­len, von der man den Ein­druck hat, sie kom­me aus ihnen selbst.

„Ich erin­ne­re mich noch an einen Erzäh­ler im Rund­funk Ende der fünf­zi­ger Jah­re, der regel­mä­ßig Tier­ge­schich­ten erzähl­te. Es waren Berich­te von sei­nen Wan­de­run­gen und Beob­ach­tun­gen aus sei­ner nächs­ten Umge­bung – jeden­falls habe ich sie als sol­che in Erin­ne­rung. Er war wohl in Ham­burg ansäs­sig, sprach mit nord­deut­schem Akzent, es waren wohl auch Sen­dun­gen des NDR. Der Erzäh­ler hieß Pelz von Felin­au, und sei­ne sin­gen­de, melo­di­sche und rhyth­misch beton­te Sprech­wei­se ist mir heu­te noch in Erin­ne­rung. Er sprach in klei­nen über­schau­ba­ren Sprech­bö­gen, mit klei­nen bedeu­tungs­vol­len Pau­sen dazwi­schen: „… und denk dir, da ste­he ich am Weg­rand und im Gras­bü­schel bewe­gen sich zwei klei­ne Hal­me. Ich war­te und – wirk­lich – da sehe ich plötz­lich einen Käfer am Halm her­auf­krab­beln. Ganz lang­sam. Was meinst du, ob das der Käfer gewe­sen ist, der die lau­te Musik gemacht hat?“

Das Bei­spiel ist aus Rede­wen­dun­gen kon­stru­iert, die mir nach Jah­ren noch in Erin­ne­rung geblie­ben sind. Die Geschich­ten selbst habe ich längst ver­ges­sen. Ich weiß nur noch, wie er erzählt hat. Und dass ich jedes Mal atem­los zuge­hört habe, fas­zi­niert war von der Stim­me, von der Erzähl­wei­se, wohl auch von der häu­fi­gen Hörer­an­spra­che, auch dass ich die Bege­ben­hei­ten immer als sehr span­nend, weil span­nend erzählt, emp­fun­den habe und so beein­druckt davon war, dass ich ähn­li­che Erleb­nis­se haben wollte.“

Erzäh­len ist Rhyth­mus. Das Erzähl­te wird in einer zeit­li­chen Ebe­ne struk­tu­riert, zeit­lich geglie­dert mit Beto­nun­gen und ein­ge­plan­ten Pau­sen. Wie ein Musik­stück hat auch jede Erzäh­lung ihren Rhyth­mus, in dem sie zu erzäh­len ist. Der Pau­se kommt dabei beson­de­re Bedeu­tung zu: Sie glie­dert die Sinn­zu­sam­men­hän­ge, so wie wir im schrift­li­chen Text Abschnit­te ken­nen: Im Zuhö­rer soll das sprach­lich ent­wi­ckel­te Bild, die beschrie­be­ne Situa­ti­on, der Vor­gang, das Ereig­nis zur Wir­kung kom­men, bevor in der Geschich­te fort­ge­fah­ren wird. Die Pau­se wird auch span­nungs­stei­gernd ein­ge­setzt. Kurz vor dem Höhe­punkt, dem Show­down der Geg­ner, dem Lüf­ten des Geheim­nis­ses, der Wen­de des Gesche­hens schnäuzt sich der Erzäh­ler, hält inne (viel­leicht auch, um den ent­schei­den­den Satz effekt­voll zu for­mu­lie­ren) und die Vor­stel­lungs­kraft der Zuhö­rer kann vor­aus­ei­len und sich das Kom­men­de ausmalen.

„Im Höhe­punkt einer Geschich­te ist eine Pau­se von größ­ter Wir­kung“, schreibt Hein­rich Mey­er in sei­ner als Anlei­tung zu lesen­den „Kunst des Erzäh­lens“, wobei er jedoch ein­schränkt, dass „Unter­bre­chun­gen nur da wir­ken, wo man wei­ter­hö­ren möch­te, wo man schon von der Erzäh­lung gepackt ist.“ Zugleich stellt er fest, hängt der „Bewe­gungs­rhyth­mus und Erzähl­rhyth­mus, viel­leicht auch „Tem­po“ oder „move­ment“, zu dem die „epi­schen For­meln“ und die Unter­bre­chun­gen ins­ge­samt bei­tra­gen, von der Nei­gung der Zuhö­rer (bzw. Leser) und den „Zeit­um­stän­den“ ab. (Mey­er, S. l4ff)

Die Pau­se ist zunächst in dem Asso­zia­ti­ons­raum, den sie schafft, unge­rich­tet nur bestimmt durch das zuvor Erzähl­te, durch das in der Die­ge­se (Erzäh­lung) Gespei­cher­te, auf das der Zuhö­rer in sei­ner Asso­zia­ti­ons­bil­dung sich in ganz eigen­stän­di­ger Wei­se ein­las­sen und auch davon ent­fer­nen kann. Geziel­ter wird die­ser Asso­zia­ti­ons­raum durch Fra­gen des Erzäh­lers an die Zuhö­rer, durch Auf­for­de­run­gen zur Bestä­ti­gung und Kom­men­tie­rung, Ergän­zung oder Fort­füh­rung des Erzähl­ten aus­ge­rich­tet. Zugleich weiß damit der Zuhö­rer deut­lich, dass die Pau­se sei­ne Pau­se ist, dass sie nicht bloß Unter­bre­chung oder gar Abbruch der Geschich­te des Erzäh­lers ist, son­dern dass er jetzt tätig wer­den soll. Kin­der sind hier in aller Regel eher bereit, sich spon­tan zu äußern, wohl weil bestimm­te Rezep­ti­ons­ri­tua­le und -erwar­tun­gen, z.B. dass man nicht dazwi­schen spricht, noch nicht so stark ver­fes­tigt sind. In den meis­ten lite­ra­ri­schen Tex­ten (auch in den meis­ten im Rund­funk vor­ge­tra­ge­nen, auf Schall­plat­ten und Kas­set­ten) blei­ben Auf­for­de­run­gen des Spre­chers an die Hörer, in das Erzähl­te ein­zu­grei­fen, in aller Regel „rhe­to­risch“, weil die Ant­wor­ten der Leser oder Hörer nicht auf­ge­nom­men wer­den kön­nen und für den Fort­gang der Geschich­te fol­gen­los bleiben.

Um die­sen „rhe­to­ri­schen“ Cha­rak­ter zu ver­mei­den, haben Erzäh­ler im Rund­funk, gera­de in den Kin­der­pro­gram­men, sich schon früh Zuhö­rer ins Auf­nah­me­stu­dio geholt und haben ihnen Geschich­ten erzählt und sie auch häu­fig an den Geschich­ten betei­ligt. So hat z. B. Lisa Tetz­ner, nach dem sie zwi­schen 1918 und 1920 als Mär­chen­er­zäh­le­rin durch Thü­rin­gen, Schwa­ben, das Rhein­land und das Ruhr­ge­biet gewan­dert war und in immer wie­der neu­er und abge­wan­del­ter Form Mär­chen erzählt hat­te, als Lei­te­rin der Kin­der­stun­de des Ber­li­ner Rund­funks (von 1927 bis 1933) als eine der ers­ten Mär­chen, aber auch ande­re Geschich­ten zusam­men mit einer „Kin­der-Spiel­schar“ vor dem Mikro­fon live und in impro­vi­sier­ter Form erzählt und gespielt. Von einer sol­chen Impro­vi­sa­ti­on berich­te­te sie selbst:

„Ich ver­ab­re­de­te mit eini­gen von mei­ner Spiel­schar, dass wir die ande­ren ver­blüf­fen und in Ver­le­gen­heit brin­gen woll­ten… Wir saßen vor dem Mikro­fon. Es war ein unge­wöhn­lich war­mer Dezem­ber­tag, und drau­ßen goss es in Strö­men. Da begann einer von unse­rer Par­tei zu erzäh­len, dass es drau­ßen im Gru­ne­wald schneie und dass am Schlach­ten­see schon über zehn Zen­ti­me­ter Schnee lie­ge. Ganz ernst­haft wur­de das berich­tet, ohne Lächeln, ohne das Gesicht zu ver­zie­hen. Jeder wuss­te etwas ande­res zu erzäh­len, als ob er es eben auf der Her­fahrt selbst gese­hen hät­te. Der Fünf­zehn­jäh­ri­ge war fas­sungs­los, starr­te ver­stört zu uns hin­über, wäre am liebs­ten auf­ge­sprun­gen und hin­aus­ge­fah­ren, um das Natur­wun­der zu sehen. Da, auf ein­mal merk­te er, dass wir ihn aus­lach­ten. Und da war er es, der am lus­tigs­ten war, uns nun zu über­trump­fen such­te, einer steck­te den ande­ren an, die Ein­fäl­le über­stürz­ten sich. Es wur­de ganz über­ra­schend das lus­tigs­te Spiel, das wir je vor dem Mikro­fon erlebt hat­ten.“ (Tetz­ner, S. 39 f)

Die­se Form, Kin­dern im Stu­dio vor dem Mikro­fon Geschich­ten zu erzäh­len, so dass sie ein­grei­fen, mit­ge­stal­ten kön­nen, ist denn auch spä­ter immer wie­der auf­ge­grif­fen wor­den und hat das Erzäh­len von Geschich­ten in den Kin­der­pro­gram­men des Rund­funks bis in die sech­zi­ger Jah­re hin­ein bestimmt.

4. Unbestimmtheiten und Leerstellen

In Hauffs Rah­men­er­zäh­lung „Der Scheik von Ales­sand­ria und sei­ne Skla­ven“ ver­sucht ein alter Zuhö­rer einem jun­gen des­sen Fas­zi­na­ti­on am Geschich­ten­hö­ren zu erklären:

„Indem Ihr den Erzäh­lun­gen des Skla­ven zuhör­tet, die nur Dich­tun­gen waren, die einst ein ande­rer erfand, habt Ihr selbst auch mit­ge­dich­tet. Ihr blie­bet nicht ste­hen bei den Gegen­stän­den um Euch her, bei Euren gewöhn­li­chen Gedan­ken, nein, Ihr erleb­tet alles mit, Ihr waret es selbst, dem dies und jenes Wun­der­ba­re begeg­ne­te, so sehr nah­met Ihr teil an dem Mann, von dem man Euch erzähl­te.“ (Hauff, S.147)

Die Lite­ra­tur­wis­sen­schaft hat an fik­ti­ven Tex­ten eini­ge Merk­ma­le der Leser­bin­dung, als einer Stra­te­gie des Autors, die Akti­vi­tät des Lesers zu beschäf­ti­gen, her­aus­ge­ar­bei­tet, die gera­de für unser Pro­blem des münd­li­chen Erzäh­lens und der Pau­se des Zuhö­rers von Inter­es­se sind. Wolf­gang Iser hat, von der Fra­ge aus­ge­hend, war­um die Lek­tü­re von Lite­ra­tur ver­gan­ge­ner Jahr­hun­der­te uns heu­te immer noch Genus berei­tet, die Theo­rie ent­wi­ckelt, dass gera­de fik­tio­na­le Tex­te durch einen hohen Grad an Unbe­stimmt­hei­ten und Leer­stel­len gekenn­zeich­net sind. Das im Text Dar­ge­stell­te ent­steht im Leser durch eine Viel­zahl von Aspek­ten, „sche­ma­ti­sier­ten Ansich­ten“, die der Text lie­fert, die oft im Text unver­mit­telt auf­ein­an­der­sto­ßen. Ihre Ver­mitt­lung ist Auf­ga­be des Lesers beim Lesen: Er hat die Unbe­stimmt­heit einer sol­chen Schnitt­stel­le in eine Bestimmt­heit umzu­wan­deln. In die­sen Leer­stel­len sieht Iser einen ele­men­ta­ren Ansatz­punkt für die Wir­kung von Literatur.

„Der Leser wird sie in der Regel bei der Lek­tü­re des Romans nicht bemer­ken“, den­noch blei­ben sie nicht ohne Ein­fluss auf die Lek­tü­re, da im Lese­vor­gang stän­dig sol­che Schnit­te auftreten:

„Der Leser wird die Leer­stel­len dau­ernd auf­fül­len bzw. besei­ti­gen. Indem er sie besei­tigt, nutzt er den Aus­le­gungs­spiel­raum und stellt selbst die nicht for­mu­lier­ten Bezie­hun­gen zwi­schen den ein­zel­nen Ansich­ten her.“ (Iser, S. 235) Der Leser bringt hier sei­ne eige­nen Vor­stel­lun­gen, Bedeu­tungs­zu­wei­sun­gen, Sinn­ge­bun­gen ein. Jede Lek­tü­re ist so eine „Aktua­li­sie­rung des Tex­tes“, jeder Text rea­li­siert sich so neu und in ganz spe­zi­fi­scher Wei­se im Kopf des Lesers. Dies ist auch der Grund, war­um wir heu­te noch Roma­ne des 18. und 19. Jahr­hun­derts mit gro­ßem Genus lesen kön­nen: Die von uns in der Lek­tü­re auf­ge­füll­ten Leer­stel­len und Unbe­stimmt­hei­ten machen uns das Roman­ge­sche­hen gegen­wär­tig, wir fül­len die Leer­stel­len mit unse­ren eige­nen Asso­zia­tio­nen, Gefüh­len und Vor­stel­lun­gen auf.

„Erst die Leer­stel­len gewäh­ren einen Anteil am Mit­voll­zug und an der Sinn­kon­sti­tu­ti­on des Gesche­hens.“ (Iser, S. 236)Wie aber sehen die­se Unbe­stimmt­hei­ten aus, was sind Leer­stel­len im Text? Iser ist hier selbst sehr „unbe­stimmt“, bleibt im Vagen. Ganz sicher ist damit nicht ein seman­ti­sches Pro­blem, das der Wort­be­deu­tun­gen, gemeint, son­dern etwas ande­res. Ger­hard Storz hat an ver­schie­de­nen Bei­spie­len gezeigt, dass die knap­pen Andeu­tun­gen, das lite­ra­risch nur Skiz­zier­te, Unvoll­stän­di­ge die ima­gi­nie­ren­de Akti­vi­tät des Lesers stär­ker anregt als die voll­stän­dig aus­ge­führ­te Beschrei­bung und dass detail­lier­te Per­so­nen­be­schrei­bun­gen vom Leser als sta­tisch, als Unter­bre­chung des „ima­gi­na­ti­ven Mit­wir­kens“ emp­fun­den wer­den, weil sie dem Leser kei­nen Raum geben. (Storz, S. 409ff)

Iser selbst gibt ein ande­res Bei­spiel, das er selbst ein „recht pri­mi­ti­ves“ nennt: Den Span­nungs­um­bruch, oder wie er es nennt, den „Sus­pen­se-Effekt“, beim Fort­set­zungs­ro­man. Der Fort­set­zungs­ro­man, als Roman in der Zei­tung in ein­zel­nen Fol­gen abge­teilt, baut (wenn er bewusst für den Fort­set­zungs­ab­druck geschrie­ben ist) häu­fig am Ende sei­ner ein­zel­nen Fol­gen eine neue Span­nung auf – und bricht dann ab: Fort­set­zung folgt. Der Leser wird so in Erwar­tung auf die nächs­te Fol­ge ver­setzt, kauft so die nächs­te Zei­tungs­num­mer, um die nächs­te Fol­ge zu lesen. Der im 19. Jahr­hun­dert erfolg­rei­che Unter­hal­tungs­au­tor Felix Dahn gab iro­nisch eine Kurz­ver­si­on eines sol­chen Spannungsumbruchs:

„Da öff­ne­te die üppi­ge Wit­we die wei­ßen Arme, riss ihn an ihren wogen­den Busen und sprach: Fort­set­zung mor­gen.“ (zit. nach Becker S. 382) Mit dem „Fort­set­zung mor­gen“ ent­steht ein Schnitt: Der Leser kann sich jetzt vor­stel­len, was nun geschieht. Der Erzäh­ler macht eine Pau­se, die Geschich­te gehört jetzt bis zur nächs­ten Num­mer dem Leser. Des­sen Phan­ta­sie eilt vor­aus, der Leser malt sich selbst aus, wie es weitergeht.

Natür­lich sind die­se Leer­stel­len nicht belie­big gesetzt, auch nicht vom Leser belie­big aus­zu­fül­len. Sie sind vom Autor kal­ku­liert, er gibt einen Spiel­raum für die Asso­zia­tio­nen vor, und zu Beginn der nächs­ten Fol­ge gibt er dann sei­ne Ver­si­on des wei­te­ren Ver­laufs der Geschich­te bekannt. Häu­fig ist man als Leser ent­täuscht, eben weil man sich viel mehr (oder zumin­dest ande­res) vor­ge­stellt hat. Wolf­gang Iser deu­tet dies unter sys­te­ma­ti­schen Gesichtspunkten:

„Der Leser wird gezwun­gen, durch die ihm ver­ord­ne­ten Pau­sen sich immer etwas mehr vor­zu­stel­len, als dies bei kon­ti­nu­ier­li­cher Lek­tü­re in der Regel der Fall ist. Wenn daher ein Text als Fort­set­zungs­ro­man einen ande­ren Ein­druck hin­ter­lässt als in Buch­form, so nicht zuletzt des­halb, weil er einen zusätz­li­chen Betrag an Unbe­stimmt­heit ein­führt bzw. durch die Pau­se bis zur nächs­ten Fort­set­zung eine vor­han­de­ne Leer­stel­le eigens akzen­tu­iert. Sein Qua­li­täts­ni­veau ist kei­nes­wegs höher. Er bringt nur eine ande­re Form der Rea­li­sie­rung zustan­de, an der der Leser durch das Auf­fül­len zusätz­li­cher Leer­stel­len stär­ker betei­ligt ist.“ (Iser, S. 237 f)

Das Bei­spiel des Fort­set­zungs­ro­mans ist zugleich his­to­risch außer­or­dent­lich ein­drucks­voll. Gera­de die gro­ßen, als „Erzäh­ler“ immer wie­der bezeich­ne­ten eng­li­schen und fran­zö­si­schen Autoren des 19. Jahr­hun­derts, aber auch die meis­ten der deut­schen bür­ger­li­chen Rea­lis­ten in der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts haben fast alle für die Zei­tung geschrie­ben. Von Dickens bei­spiels­wei­se weiß man, dass er häu­fig die neu­en Fol­gen auf die Publi­kums­re­ak­tio­nen der bis­her abge­druck­ten hin schrieb, von Autoren wie Dumas und Sue ist ähn­li­ches bekannt. Wie sehr gera­de die­se Fort­set­zungs­tech­nik mit ihren Leer­stel­len die Phan­ta­sie der dama­li­gen Leser akti­viert hat, kön­nen wir uns heu­te kaum noch vor­stel­len. Anek­do­tisch wird berich­tet, dass die ein­zel­nen Fol­gen von Sues „Geheim­nis­sen von Paris“ mit gro­ßer Span­nung erwar­tet wur­den, dass gan­ze Dorf­ge­mein­schaf­ten dem Post­bo­ten mit der neu­en Aus­ga­be des „Jour­nal des Debüts“ ent­ge­gen­gin­gen, um die nächs­te Fort­set­zung von einem Lese­kun­di­gen vor­ge­le­sen zu bekom­men, dass sogar Ster­ben­de mit dem Ster­ben gewar­tet haben sol­len, um das Ende des Romans zu erfah­ren, den aller­dings Sue durch immer neue, aktu­ell geschrie­be­ne Fol­gen hin­aus­zö­ger­te. Ent­schei­dend ist auch der Hin­weis, dass die­se Leer­stel­len­tech­nik sich hier mit ganz mate­ri­el­len Zie­len ver­band: der Roman in der Zei­tung erwies sich als beson­ders publi­kums­wirk­sam und stei­ger­te beträcht­lich die Abon­nen­ten­zah­len der betref­fen­den Zeitungen.

Für das Pro­blem der Pau­se beim Erzäh­len ist die Leer­stel­le im Text unter ver­schie­de­nen Aspek­ten von Inter­es­se. Anders als im Bei­spiel von Ger­hard Storz geht es beim Fort­set­zungs­ab­druck nicht um eine beim Erzäh­len all­ge­mein her­vor­ge­ru­fe­ne „ima­gi­na­ti­ve Akti­vi­tät“ des Lesers, son­dern um ein zusätz­li­ches, eher von außen kom­men­des Moment (das dann aber erzähl­stra­te­gisch in die Erzähl­hand­lung ein­ge­baut wird). Damit wird die­se Form der Leer­stel­le auch der Pau­se beim münd­li­chen Erzäh­len ver­gleich­bar. Denn auch hier ist die Pau­se nicht unbe­dingt eine, die sich nur aus dem Erzähl­ge­sche­hen, dem Erzähl­ten selbst, moti­viert. Sie bedingt sich eben­so auch aus der Erzähl­si­tua­ti­on, aus dem Kon­text von Erzäh­ler und Zuhö­rer. So wie beim Fort­set­zungs­ro­man im Extrem­fall das Fol­gen­de will­kür­lich in einen Text ein­ge­schnit­ten wer­den kann (bestimmt nur durch den vor­ge­ge­be­nen Platz in der Zei­tung), so kann auch der Erzäh­ler durch die Situa­ti­on bedingt, plötz­lich und will­kür­lich unter­bre­chen müs­sen. Sicher wird sich der Erzäh­ler um einen ent­spre­chen­den, vor­läu­fi­gen Abschluss oder eine die Erwar­tung wecken­de Ver­trös­tung bemü­hen, doch das Spiel mit der unvoll­stän­di­gen Geschich­te gehört ganz selbst­ver­ständ­lich auch in das Reper­toire des münd­li­chen Erzählers.

So erzählt die Toch­ter des Groß­we­sirs, Sche­hera­sa­de, ihrer Schwes­ter Dinars­a­de eine Geschich­te im Bei­sein des Sul­tans, mit dem sie sich gera­de ver­mählt hat, und sie lässt die­se Geschich­te vom Kauf­mann und dem Geist auf dem Höhe­punkt abbre­chen. Der eigent­li­che Zuhö­rer, der Sul­tan, wird, um den Erwar­tungs­druck, den die­ser Abbruch erzeugt, beson­ders anschau­lich zu machen, als frau­en­mor­dend beschrie­ben, er lässt jeder sei­ner Frau­en nach der ers­ten Nacht den Kopf abschlagen:

„… Als der Kauf­mann mit die­sen Ver­sen fer­tig war, sag­te der Geist: Du redest ver­geb­lich, denn Dein Tod ist unver­meid­lich. Bei die­sen Worten… „

Hier bemerk­te Sche­hera­sa­de, dass es Tag war, und da sie wuss­te, dass der Sul­tan sehr früh auf­stand, um sein Gebet zu ver­rich­ten und mit sei­nen Räten zu arbei­ten, so erzähl­te sie nicht weiter.

„Guter Gott“, hub als­bald Dinars­a­de an, „wie wun­der­bar ist die­se Geschichte!“

„Die Fort­set­zung ist aber noch viel wun­der­ba­rer“, ent­geg­ne­te Sche­hera­sa­de, „und Du wür­dest mir des­halb bei­stim­men, wenn mich der Sul­tan heu­te noch am Leben las­sen woll­te, sie dir in der kom­men­den Nacht zu erzählen.“

Schahr­jar (der Sul­tan) hat­te mit Ver­gnü­gen Sche­hera­sa­dens Erzäh­lung ange­hört und dachte:

„Ich will bis mor­gen war­ten; aber töten las­se ich sie doch, wenn ich das Ende der Geschich­te ver­nom­men habe.

„Nach der nächs­ten Nacht aber bricht sie wie­der ab und ver­heißt den bei­den Zuhö­rern: „Das Bes­te von mei­ner Erzäh­lung kommt noch!“ und baut nun eine Geschich­te in die ande­re, so daß immer aufs neue ein offe­ner Schluß entsteht.“(1001 Nacht,S. Bf)

Aus der Fest­stel­lung sol­cher phan­ta­sie­an­re­gen­der Leer­stel­len ent­wi­ckelt Iser die The­se, dass von der Lite­ra­tur des 18. Jahr­hun­derts an die Unbe­stimmt­hei­ten in der Lite­ra­tur bis zur Gegen­wart stän­dig zuge­nom­men hät­ten. Extre­mes Bei­spiel, bei dem die Tole­ranz­gren­ze der Unbe­stimmt­hei­ten im Text für vie­le Leser schon über­schrit­ten ist, ist für ihn das Werk von Samu­el Beckett. Nun ist jedoch gene­rell zu fra­gen, ob nicht jeder fik­tio­na­le Text Unbe­stimmt­hei­ten auf­weist. Nicht immer müs­sen es dabei Schnit­te oder Brü­che sein, die die Leser­phan­ta­sie her­aus­for­dern. Fik­tio­na­le Tex­te gren­zen aus der Welt des Erzähl­ba­ren das Über­maß an Mög­lich­kei­ten aus, wäh­len davon nur die eine, die erzählt wird, und die wie­der­um hat in sich vie­le Lücken und lee­re Stel­len. Die Erzähl­struk­tur des Spiel­films macht das anschau­lich: Erzählt und gezeigt wird nur, was für die Geschich­te wich­tig ist; was unwich­tig ist, wird aus­ge­spart. Vom Gang einer Figur ist nur der Anfang und das Ende zu sehen, oder es wird sogar nur bei­läu­fig der Orts­wech­sel signa­li­siert. Das Nicht-Bedeut­sa­me aus­zu­las­sen, hat zur Fol­ge, dass wir in unse­ren Wahr­neh­mungs­ge­wohn­hei­ten das im Film Dar­ge­stell­te und Erzähl­te in allen Ein­zel­hei­ten für bedeut­sam hal­ten, ihm des­halb Auf­merk­sam­keit schenken.

Die Aus­las­sun­gen neh­men wir nicht wahr, das Über­sprin­gen ist Teil der Sinn­kon­sti­tu­ti­on. Der Unter­schied zur Pau­se nach der Fort­set­zungs­fol­ge ist hier, dass die Brü­cke im Erzähl­ten selbst liegt: In ihm müs­sen jeweils die bei­den Ansatz­stü­cke zum Über­que­ren der Aus­las­sung vor­han­den sein, die glei­che han­deln­de Per­son, die glei­che (Erzähl)Bewegung, der über­grei­fen­de Sinn­zu­sam­men­hang. Dem Lesen­den oder Zuschau­en­den ist kei­ne Ver­an­las­sung gege­ben, selbst einen Brü­cken­pfei­ler zu set­zen, er braucht nur die Anschluss­stel­len mit­ein­an­der zu ver­bin­den. Beim „Fort­set­zung folgt“ ist nur das eine Ansatz­stück gege­ben, von dem aus die Phan­ta­sie des Lesers wei­ter frei asso­zi­ie­ren kann, auch muss das nächs­te Ansatz­stück nicht unbe­dingt grad­li­nig gesucht werden.

Dass auch die­ses Über­sprin­gen eine akti­ve Form des Lesens, Zuhö­rens oder eben auch des Zuschau­ens ist, mer­ken wir gera­de bei klei­ne­ren Kin­dern. Erzähl­vor­gän­ge im Fern­se­hen wer­den von ihnen häu­fig nicht ver­stan­den, weil sie die­ses Prin­zip des Aus­las­sens nicht als Erzähl­tech­nik begrei­fen. Mit wach­sen­der Wahr­neh­mungs­fä­hig­keit stellt sich dann bei ihnen auch ein Ver­ste­hen von fil­misch erzähl­ten Geschich­ten ein, eben­so wie auch das Zuhö­ren und Ver­ste­hen von erzähl­ten oder vor­ge­le­se­nen Geschich­ten sich erst mit einem bestimm­ten Alter und mit dem vor­han­de­nen Ange­bot herausbildet.

5. Fortgesetzte Erzählgeschichten

Der Fort­set­zungs­ro­man ist Resul­tat einer Aus­wei­tung des lite­ra­ri­schen Mark­tes, der lite­ra­ri­schen Öffent­lich­keit im 19. Jahr­hun­dert. Sei­ne Bedeu­tung hat er zum Teil an die audio­vi­su­el­le Seri­en­un­ter­hal­tung abge­tre­ten, mehr noch hat die Ver­viel­fa­chung des Unter­hal­tungs­an­ge­bo­tes in den ver­schie­de­nen Medi­en ins­ge­samt, deren per­ma­nen­te Prä­senz und unmit­tel­ba­ren Zugriffs­mög­lich­kei­ten zu einer Bedeu­tungs­min­de­rung der Fort­set­zungs­un­ter­hal­tung heu­te geführt: Wo sich alles pau­sen­los fort­setzt und wie­der­holt, wird die ein­zel­ne Fort­set­zungs­ge­schich­te belanglos.

Gleich­zei­tig lässt sich im münd­li­chen Erzäh­len ein Auf­grei­fen alter Erzähl­stra­te­gien beob­ach­ten. So wie auch die Leser­an­spra­che, die Ver­si­che­rung der Authen­ti­zi­tät des Erzähl­ten dem Leser gegen­über, die Her­aus­for­de­rung des Leser­kom­men­tars, alles in der Lite­ra­tur des 18. und frü­hen 19. Jahr­hun­derts viel­ge­üb­te Erzähl­prak­ti­ken, in die münd­li­chen Erzähl­stra­te­gien Ein­gang gefun­den bzw. sich als ele­men­ta­re For­men der Erzäh­ler-Zuhö­rer-Bezie­hung gehal­ten haben, so ist auch das Fort­set­zungs­prin­zip im Reper­toire des münd­li­chen Erzäh­lens für Kin­der vorhanden.

Ilse­do­re erzählt sich mit Dani­el, ihrem fünf­jäh­ri­gen Sohn schon seit mehr als einem Jahr Fort­set­zungs­ge­schich­ten. Die Tren­nung von Erzäh­ler- und Zuhö­rer­po­si­ti­on ist auf­ge­ho­ben, die Geschich­te wird im stän­di­gen Wech­sel Satz für Satz gemein­sam erzählt. Das offe­ne, jeweils fort­zu­set­zen­de Ende for­dert stän­dig die Phan­ta­sie der bei­den Erzäh­len­den her­aus, jeder Satz kann eine bis dahin nicht geahn­te Ver­än­de­rung brin­gen. Das Mit­tun, das Aus­fül­len der Leer­stel­le, for­dert jeweils erneut die Asso­zia­ti­ons­kraft des ande­ren her­aus. Das Geschich­ten­er­zäh­len ist bei­den schon zur Insti­tu­ti­on gewor­den. Die Geschich­ten haben sich über die Zeit geän­dert, sind vor allem län­ger gewor­den. Frü­her waren die Geschich­ten so lang, wie in einem Erzähl­vor­gang erzählt wer­den konn­te, heu­te kann die Geschich­te auch über Wochen gehen, sie wird dann immer „kapi­tel­wei­se“ erzählt bzw. umge­kehrt: Was in einem Erzähl­vor­gang ent­stan­den ist, wird zum Kapi­tel erklärt. Zugleich hat sich bei ihnen ein Reper­toire an Figu­ren und Hand­lungs­mus­tern her­aus­ge­bil­det: Ein König, eine Köni­gin, eine Prin­zes­sin und ein klei­ner, immer sieg­rei­cher Jun­ge spie­len mit. Dazu wer­den je nach Bedarf kämp­fen­de Rit­ter, See­räu­ber, Raum­fah­rer, Rie­sen oder Poli­zis­ten und Müll­män­ner ein­ge­setzt. Die Prin­zes­sin wird meist geraubt oder geht sonst­wie ver­lo­ren und wird dann befreit oder wie­der­ge­fun­den. Das Reper­toire hat sei­ne Vor­bil­der ein­deu­tig in den vor­ge­le­se­nen oder von den Ton-Cas­set­ten her bekann­ten Mär­chen- und Aben­teu­er­ge­schich­ten. Mit die­sem Reper­toire wird jedoch eigen­stän­dig umge­gan­gen, wobei Dani­el auf das Ein­hal­ten sei­ner Erzähl­lo­gik besteht: Das Erzähl­te muss sich in der Kon­se­quenz des bereits Erzähl­ten hal­ten, es darf kei­ne Wider­sprü­che zu dem in der Die­ge­se Gespei­cher­ten geben.

Zwei For­men der Geschich­ten haben sich her­aus­ge­bil­det: Eine rea­lis­ti­sche, die sich im Rah­men des real Mög­li­chen zu bewe­gen hat, und eine phan­tas­ti­sche, bei der alles mög­lich ist. Ganz ein­deu­tig besteht beim Jun­gen die Nei­gung zur phan­tas­ti­schen Geschich­te. Ein­mal soll­ten in einer rea­lis­ti­schen Geschich­te Gespens­ter vorkommen.

„Aber die gibt es doch nicht“, erklärt die Mutter.

„Es könn­ten sich doch aber wel­che als Gespens­ter ver­klei­den“, erklärt der Sohn und ret­tet damit die Gespens­ter für die Geschich­te. Ein ande­res Mal wer­den phan­tas­ti­sche Figu­ren als Traum­fi­gu­ren für zuläs­sig erklärt.

Die Geschich­te wird also nicht nur erzählt, son­dern über ihren Fort­gang kommt es zu Ver­hand­lun­gen, er wird erör­tert, kom­men­tiert. Das Erzähl­tem­po bestim­men bei­de, wobei ins­ge­samt die Ten­denz zu einem schnel­len, hand­lungs­be­ton­ten Ver­lauf (was nicht im Wider­spruch zur Län­ge der Geschich­te steht) vor­han­den ist. Immer wie­der ist Ilse­do­re fas­zi­niert von der unver­hoff­ten Wen­de, von der gegen­sei­ti­gen Sti­mu­la­ti­on der Asso­zia­tio­nen. So war bei­spiels­wei­se eine Geschich­te so weit, erzählt sie, dass die Prin­zes­sin einen Frei­er hei­ra­ten soll­te, der von weit her kam, sie ihn aber nicht woll­te. Das gro­ße Fest­mahl war schon vor­be­rei­tet. Wie da nun her­aus­kom­men? Der ret­ten­de Ein­fall kam von Dani­el: Dem von weit­her ange­reis­ten Frei­er wird eine ver­sal­ze­ne Sup­pe ser­viert. Klar, dass er danach die Prin­zes­sin nicht hei­ra­ten wollte.

Ein wei­te­res belie­big her­aus­ge­grif­fe­nes Bei­spiel, es ist nicht beson­ders kunst­voll, auch ohne beson­de­re Einfälle:

I: Wol­len wir eine neue Geschich­te anfangen?

D: Es soll eine rea­lis­ti­sche Geschich­te sein.

I: Und wer soll mitspielen?

D: Müll­män­ner, Poli­zis­ten, ein Bäcker. Kein König, ein Bürgermeister.

I: Gut, dann fängt es mit dem Bäcker an. Eines Mor­gens, als die Kun­den schon vor der Tür stan­den auf die fri­schen Bröt­chen war­te­ten, hol­te der Bäcker die Bröt­chen aus dem Ofen und stell­te fest, dass alle ganz schwarz ver­brannt waren. Was soll­te er tun?

D: Da sag­te der Bäcker:. Ver­flucht! – Und dann fing er wie­der von vorn an, die Bröt­chen zu backen und die waren dann nicht verbrannt.

I: Die Kun­den war­te­ten aber schon und konn­ten auch nicht mehr län­ger war­ten. Der Leh­rer sag­te, er müss­te jetzt gehen und ging ohne Früh stück in die Schu­le. Und was mach­te er da?

D: Da war er sehr ärger­lich? Und was mach­ten die Polizisten?

I: Waren die denn auch bei dem Bäcker?

D: Ja, die war­te­ten auch auf die Brötchen.

I: Hm, die Poli­zis­ten. Die Ver­kehrs­po­li­zis­ten muss­ten auch auf ihr Früh­stück verzichten.

D: Ja und auch die Kri­mi­nal­po­li­zis­ten. Die hat­ten auch nichts zu früh stü­cken und konn­ten kei­ne Ver­bre­cher fangen.

I: Alle muss­ten war­ten, weil der Teig noch nicht fer­tig war. Nur die Rent­ner konn­ten war­ten. Und was mach­ten die?

D: Die kauf­ten in der Zeit alles ein was sie brauchten.

I: Beim zwei­ten­mal hat­ten die Bäcker in die Bröt­chen eine Über­ra­schung ein­ge­ba­cken. Und als die bei­den Rent­ne­rin­nen zu Hau­se aus­pack­ten und die Bröt­chen aßen, was war da drin.

D: Ein klei­ner Bau­ern­hof mit Tie­ren aus Holz…

I: Also, die Kin­der sind noch gar nicht schla­fen gegan­gen, son­dern hal­ten sich noch in den Kar­tons ver­steckt. Plötz­lich kamen drei Böse­wich­ter in die Woh­nung rein und schlepp­ten die bei­den Kar­tons weg, weil sie dar­in Schät­ze vermuteten.

D: Als sie die Kar­tons die Trep­pe run­ter tru­gen, krach­te es auf der Trep­pe und dann wach­ten die bei­den Müt­ter davon auf.

I: Und sie lie­fen hin­ter­her und sahen nur noch, wie die bei­den Kar­tons auf den Las­ter gela­den wur­den. Und dann fuh­ren die bei­den Böse­wich­ter davon.

D: Da setz­ten sich die Müt­ter in ein schnel­les Auto und braus­ten hinterher.

I: Die Böse­wich­ter merk­ten das und fuh­ren schnel­ler. Bis ihr Ben­zin alle war da muss­ten sie anhalten.

D: Da hiel­ten auch die bei­den Müt­ter an und stie­gen aus.

I: Die drei Böse­wich­ter stie­gen auch aus dem LKW aus.

D: Da kamen die Män­ner von den Frau­en her­bei, und da waren sie schon­vier gegen drei.

I: Plötz­lich hör­ten sie Stim­men aus dem Kar­ton „Hil­fe“ rufen und sie beka­men gro­ße Kraft und gin­gen auf die Böse­wich­ter zu.

D: Da kamen zufäl­lig noch drei Poli­zis­ten daher und grif­fen ein.

I: Sie befrei­ten die Kin­der und die Eltern freu­ten sich sehr und alle fuh­ren nach Hau­se. Nun war aber immer noch nicht das Pro­blem gelöst, dass sie noch nicht der Mut­ter gesagt hat­ten, dass das eine Kind bei dem Jun­gen schla­fen wollte.

Deut­lich kann man an der Geschich­te erken­nen, wie bei­de Erzäh­ler sich gegen­sei­tig sti­mu­lie­ren, auch gele­gent­lich gegen­ein­an­der arbei­ten, weil jeder etwas ande­res erzählt wis­sen will. Bestimm­te Erzähl­ab­sich­ten, z. B. von Ilse­do­re zu Beginn, wer auf die Bröt­chen war­tet, wer­den abge­blockt: Es soll kei­ne Geschich­te vom Leh­rer wer­den. Sie ver­sucht dage­gen, die Poli­zis­ten drau­ßen zu hal­ten, was ihr jedoch nicht gelingt. Die häu­fig ver­wen­de­te Fra­ge­form ist direk­te Auf­for­de­rung ein bestimm­tes Detail auf­zu­grei­fen und wird stär­ker von der Mut­ter, aber auch vom Jun­gen ein­ge­setzt. Deut­lich wird auch, wie die Geschich­te sich in nur wenig zusam­men­hän­gen­de Epi­so­den auf­löst. Die Ursa­che dafür kann dar­in lie­gen, dass die­ses Erzäh­len häu­fig von außen gestört wurde.

6. Die Phantasie der Zuhörer

Ilse­do­re erklärt auch, war­um ihr die­se fort­ge­setz­ten Geschich­ten so wich­tig sind: Sie erfährt so etwas über den Phan­ta­sie­stand des Jun­gen, erhält Ein­blick in die Vor­stel­lungs­welt des Kin­des. Die­ses eher päd­ago­gi­sche Inter­es­se ist jedoch nicht pri­mär, das Erzäh­len bestimmt sich zunächst und vor allem durch die Lust am Erzäh­len selbst. Wie aber sieht es mit der Phan­ta­sie aus? Natür­lich haben die in den Leer­stel­len, in der Pau­se evo­zier­ten Asso­zia­tio­nen und Vor­stel­lun­gen, die neu erfun­de­nen Fort­set­zun­gen etwas mit Phan­ta­sie zu tun, aber in wel­cher Weise?

Wenn heu­te von Phan­ta­sie im Zusam­men­hang mit ästhe­ti­schem Han­deln Lite­ra­tur und Medi­en­ge­brauch die Rede ist, so heißt es in der Regel, dass Lesen als phan­ta­sie­för­dernd gilt, Medi­en­ge­brauch (vor allem beim Film, ganz beson­ders aber beim Fern­se­hen) als phan­ta­sie­hem­mend, wenn nicht gar -zer­stö­rend ange­se­hen wird. Phan­ta­sie­tä­tig­keit beim Lesen heißt in aller Regel, dass beim Lesen – vor allem von erzäh­len­der Pro­sa – ein stän­di­ger Bil­der­strom unser Bewusst­sein durch­zieht. Die­ser beglei­tet jedoch unse­re Lek­tü­re und wird nicht selbst zum Gegen­stand unse­rer Auf­merk­sam­keit. Das gilt selbst dort noch, wo sich sol­che Bil­der­fol­gen zu einem gan­zen Pan­ora­ma zusam­men­schlie­ßen. “ (Iser, S. 260)

Die all­ge­mei­ne Annah­me ist dass beim Lesen von nur sprach­li­chen Tex­ten die­se Bil­der „aus uns selbst“ kom­men, wäh­rend bei Erzäh­lun­gen in Bil­dern (also Comics, Film und Fern­se­hen) die­se eige­nen Bil­der durch „vor­ge­präg­te“ Bil­der der Medi­en ersetzt wer­den, mit­hin die eige­ne Phan­ta­sie­tä­tig­keit aus­ge­schal­tet wird.

Nun hat die­ser „stän­di­ge Bil­der­strom“ bei der Lek­tü­re ja auch irgend­wo sei­nen Ursprung, sind die Bil­der ver­ar­bei­te­te Ein­drü­cke aus der Rea­li­tät und aus dem vor­an­ge­gan­ge­nen Medi­en­ge­brauch. Ande­rer­seits sind auch die Bil­der im Kopf der Comic­le­ser und Film­zu­schau­er nicht mit den Bil­dern des jewei­li­gen Medi­ums iden­tisch, son­dern stel­len Selek­tio­nen und Ver­ar­bei­tun­gen dar. Iser hat in sei­ner Unter­su­chung des Lese­vor­gangs deut­lich gemacht dass das „Bil­der­se­hen in der Ein­bil­dungs­kraft kein opti­sches Sehen (ist), son­dern der Ver­such, sich gera­de vor­zu­stel­len, was man nicht sehen kann“. (Iser, S. 261)

Die Ima­gi­na­ti­on setzt gera­de das Vor­han­den­sein von Leer­stel­len vor­aus, die wir als Leser auf­fül­len. Leer­stel­len gibt es aber auch beim Film und bei den fik­tio­na­len For­men in ande­ren Medi­en (z. B. beim Hör­spiel und beim Fern­seh­spiel), nur gibt der Text mit sei­nen sprach­li­chen Aus­drucks­for­men ande­re Leer­stel­len vor als dies z. B. der Film mit sei­ner spe­zi­fi­schen Zei­chen­struk­tur macht, weil die dar­stel­len­den und die erzäh­len­den Mit­tel jeweils unter­schied­lich sind. Gegen­über der lite­ra­ri­schen Beschrei­bung eines Ortes emp­fin­den wir des­sen fil­mi­sche Dar­stel­lung häu­fig als ent­täu­schend, weil sie durch das foto­gra­fi­sche Bild ein­deu­ti­ger, weni­ger in Rela­tio­nen zu ande­rem gesetzt ist, in die wir als Leser gera­de unse­re Kon­kre­tio­nen und Vor­stel­lun­gen ein­brin­gen kön­nen. Mimi­sche und ges­ti­sche Ver­wei­se von han­deln­den Figu­ren, Kör­per­be­we­gun­gen dage­gen sind z. B. im Film für uns häu­fig viel­deu­ti­ger und mit ihren Unbe­stimmt­hei­ten von uns als Zuschau­er durch eige­ne Asso­zia­tio­nen und Inter­pre­ta­tio­nen in Bestimmt­hei­ten auf­zu­lö­sen. Nicht zufäl­lig auch ist Isers Defi­ni­ti­on der durch lite­ra­ri­sche Schnitt­tech­ni­ken ent­stan­de­nen Leer­stel­len direkt auch auf fil­mi­sche Mon­ta­ge anwendbar.

Beim münd­li­chen Erzäh­len ist nun die Pau­se im Erzähl­vor­gang selbst häu­fig durch ein visu­el­les Zei­chen des Erzäh­lers auf­ge­füllt. Indem er z. B. die Kör­per­be­we­gung eines Tie­res oder eines Men­schen mit der Hand andeu­tet, einen Gegen­stand in sei­ner Grö­ße angibt, indem er auf ver­schie­dens­te Wei­se ein erzähl­tes Detail visu­ell durch eine Ges­te ver­an­schau­licht, for­dert er die Phan­ta­sie sei­ner Zuhö­rer (und Zuschau­er) auf eine neue und ande­re Wei­se her­aus. Hier ist die Pau­se durch ein Erzäh­len auf einer ande­ren Mit­tei­lungs­ebe­ne über­brückt, fin­det letzt­lich ein „Medi­en­wech­sel“ im Erzähl­vor­gang statt.

Gera­de Kin­dern gegen­über ist der Ein­bau mimi­scher und ges­ti­scher Ele­men­te in das münd­li­che Erzäh­len eine wich­ti­ge Berei­che­rung und eine gan­ze Rei­he von neue­ren Geschich­ten für Kin­der sind dar­auf­hin ange­legt, dass der Erzäh­ler Details kör­per­sprach­lich umsetzt. So baut z.B. Hein­rich Han­no­ver in sei­ne Kin­der­ge­schich­ten häu­fig ges­ti­sche Ele­men­te ein wie auch Johan­nes Mer­kel in sei­nem vor kur­zem erschie­ne­nen Band von All­tags­ge­schich­ten. Weni­ger expli­zit for­dern auch ande­re Kin­der­bü­cher das ges­ti­sche Erzäh­len des Vor­le­sen­den her­aus, etwa wenn in „Pinoc­chi­os Aben­teu­er“ der Pup­pen­spie­ler als einer beschrie­ben wird, „der ein so gro­ßer und häss­li­cher Kerl war, dass schon sein Anblick Furcht und Schre­cken ver­brei­te­te. Er hat­te einen strup­pi­gen Bart, der so schwarz war wie ein Tin­ten­klecks und so lang, dass er von sei­nem Kinn bis zur Erde reich­te. “ Und „sein Mund war so groß wie ein Back­ofen und sei­ne Augen waren wie zwei rote Glas­la­ter­nen“. (Col­lo­di, S. 35)

Da kann man sich vor­stel­len, mit wel­chen Gri­mas­sen der Vor­le­sen­de die Details mimisch und ges­tisch aus­malt. Der „stän­di­ge Bil­der­fluss“ beim Zuhö­ren ist Resul­tat der Ver­ar­bei­tung, der Aneig­nung des Erzähl­ten durch den Zuhö­rer, wobei die­se Aneig­nung über den eigent­li­chen Erzähl­vor­gang hin­aus­ge­hen kann, und der Zuhö­rer die beim Erzäh­len in sei­nem Kopf ent­stan­de­ne Welt, sei­ne Vor­stel­lun­gen in einer Art Wachtraum erhält, sie wei­ter­denkt, weiter“spinnt“. In der Dis­kus­si­on um den Phan­ta­sie­be­griff und um die Phan­ta­sie­tä­tig­keit ist der Aneig­nungs­be­griff immer wie­der in einer Wei­se ver­wen­det wor­den, in der Phan­ta­sie selbst als eine spe­zi­fi­sche Aneig­nungs­form ver­stan­den wur­de, wobei es hier um die spie­le­ri­sche Ver­ar­bei­tung von Rea­li­täts­er­fah­run­gen geht, weni­ger um das Fest­hal­ten hal­lu­zi­na­to­ri­scher Traum­wel­ten, wie Jörg Richard betont. Auch bei der psy­chi­schen Ver­ar­bei­tung des Erzähl­ten geht es dar­um, das Gehör­te zu bewäl­ti­gen, die dar­in ent­hal­te­nen Erfah­run­gen und auch phan­tas­ti­schen Momen­te für die eige­ne Vor­stel­lungs­welt nutz­bar zu machen. Das eige­ne Wei­ter­erzäh­len, das Ein­wer­fen von Fra­gen, der Wider­spruch sind Momen­te die­ser Verarbeitung.

Gera­de im Erzäh­len für Kin­der kommt der mimi­schen und ges­ti­schen Unter­stüt­zung beson­de­re Bedeu­tung zu, weil die kind­li­che Phan­ta­sie­tä­tig­keit in stär­ke­rem Maße als die der Älte­ren noch eng mit dem Spiel ver­haf­tet ist. Wygotskis Beob­ach­tung, dass die Phan­ta­sie des Kin­des noch eines ver­ge­gen­ständ­lich­ten Spiel­mit­tels, des Spiel­zeugs, bedarf und sich die Phan­ta­sie­tä­tig­keit in der spä­te­ren Ent­wick­lung davon löst, gilt auch der Ges­te beim Erzäh­len: Sie ist Ver­an­schau­li­chung des nur mit Wor­ten Erzähl­ten, ist „gegen­ständ­li­che“ Unter­stüt­zung. Ges­tisch und mimisch stär­ker akzen­tu­ier­tes Erzäh­len bringt das Erzäh­len dem Spiel näher. Der Erzäh­ler über­nimmt dabei auch in gewis­ser Wei­se schau­spie­le­ri­sche, dar­stel­len­de Ele­men­te, schafft damit Leben­dig­keit. Nicht zufäl­lig geht in dem oben erwähn­ten Bei­spiel von Lisa Tetz­ner das gemein­sa­me, impro­vi­sie­ren­de Erzäh­len so leicht ins Spiel vor dem Mikro­fon über. Johan­nes Mer­kel hat mit Blick auf Wygotskis Phan­ta­sie­be­griff dar­auf hin­ge­wie­sen, dass aus die­ser Kom­bi­na­ti­on von erzähl­ter Geschich­te, visu­el­ler Anschau­lich­keit und Gegen­ständ­lich­keit der Medi­en­ver­bund der kom­mer­zi­el­len Kin­der­kul­tur sei­ne Fas­zi­na­ti­on bezieht. Und in der Tat ist die in die­ser Kom­bi­na­ti­on ent­hal­te­ne sinn­li­che Attrak­ti­on der Anspra­che an die Phan­ta­sie der Kin­der nicht nur nega­tiv, als kom­mer­zi­ell betrie­be­ne „Media­ti­sie­rung von Erfah­rung“, als Vehi­kel einer „Wirk­lich­keit aus zwei­ter Hand“ (Bauer/Hengst), die den Blick für die Rea­li­tät ver­stellt, zu sehen, son­dern ihre Ele­men­te sind auch posi­tiv für das eige­ne Erzäh­len zu verwenden.

„Mit Hän­den kann man viel machen“, erzählt Ben­ja­mins Vater, mir fällt da sofort Hein­rich Han­no­vers über die Bett­de­cke der Kin­der rei­ten­der „ver­gess­li­cher“ Cow­boy ein, der immer hin- und her­rei­tet, weil er ganz ver­schie­de­ne Din­ge ver­ges­sen hat. Oder als wir ein­mal dem Fabi­an erzäh­len woll­ten, was Ben­ja­min und ich unter­wegs an einem gro­ßen, metal­le­nen Appa­rat gekauft haben, habe ich das mit den Hän­den beschrie­ben: Es war unten fest und spitz, in der Mit­te kugel­för­mig aus­ge­beult, oben war etwas Wei­ches, Wei­ßes, Kal­tes drauf­ge­krin­gelt und lief dann nach oben spitz zu. Aus den Andeu­tun­gen erkann­te Fabi­an, dass wir ein Eis gekauft haben. Sol­che anschau­li­chen Andeu­tun­gen las­sen sich an den ver­schie­dens­ten Stel­len ein­bau­en, da erzählt man dann auch lang­sa­mer, weil mehr Zeit zum Über­le­gen sein muss so lan­ge, bis klar ist, was gemeint ist.

Wir haben es aber auch umge­kehrt gemacht, dass wir uns z. B. Bil­der­bü­cher von Ali Mit­gutsch ange­se­hen haben, in denen ohne Text vie­le sehr deut­lich und detail­liert gemal­te Figu­ren in All­tags­sze­nen zu sehen sind. Frü­her haben wir, was zu sehen ist, nur beschrie­ben und erklärt, jetzt erzäh­len wir dazu Kata­stro­phen­ge­schich­ten, die man dort gar nicht sehen kann: Was pas­siert, wenn der Tau­cher vom Becken­rand ins Was­ser springt, dabei der Bade­meis­ter so nass wird, dass er vor Schreck über das Bade­tuch der Frau neben ihm stol­pert und in die Eis­tü­ten des Eis­ver­käu­fers fällt, der dar­auf­hin im hohen Bogen auf die Was­ser­rut­sche springt, auf einen Plas­tik­schwan eines Jun­gen fällt und wie­der abprallt… Die­se Geschich­ten machen allen Spaß, jeder will den ande­ren über­tref­fen und ver­sucht, was ganz Ver­rück­tes aus den Bil­dern zu machen.

7. Die Pau­se als Ange­bot Es gibt die ver­schie­dens­ten For­men und Mög­lich­kei­ten, Geschich­ten zu erzäh­len, zu erfin­den, gemein­sam zu fabu­lie­ren. Ent­schei­dend ist, dass es allen Betei­lig­ten Spaß macht. Bedenk­lich scheint des­halb die Ten­denz in der Deutsch­di­dak­tik, Erzäh­len als „neu­es“ opti­ma­les Modell für Ler­nen anzu­se­hen und damit das Erzäh­len zu päd­ago­gi­sie­ren, schu­lisch aus­zu­beu­ten. Die Pau­se beim Erzäh­len päd­ago­gisch zu nut­zen, ist schon längst eini­gen Kin­der­buch­au­to­ren ein­ge­fal­len. Bar­ba­ra Schwindt z. B. hat ihre „Geschich­ten vom Klein­sein und Grö­ßer­wer­den“ immer an den ent­schei­den­den Kon­flikt­punk­ten unter­bro­chen und stellt, bevor sie den Schluss erzählt, jedes Mal die Fra­ge: „Und was pas­siert jetzt?“, wobei der Vor­le­sen­de an die­ser Stel­le mit den kind­li­chen Zuhö­rern das Kon­flikt­ver­hal­ten der Figu­ren (der drei­jäh­ri­gen Andrea und dem sechs­jäh­ri­gen Mar­ko) erör­tern und dis­ku­tie­ren soll. Ob das von den Benut­zern des Buches gemacht wird, möch­te ich bezwei­feln, dazu sind die gesetz­ten Pau­sen zu sehr vom erho­be­nen Zei­ge­fin­ger des Pro­blem­lö­sungs­den­kens bestimmt und las­sen der Phan­ta­sie zu wenig Spiel­raum. Anre­gen­der sind dage­gen die schon erwähn­ten Kin­der­bü­cher von Han­no­ver und Mer­kel ähn­lich, wenn auch im Bereich der Bil­der­ge­schich­te, ist Fried­rich Karl Waech­ters „Mit­mach­ka­bi­nett“ anre­gen­der, weil sie Geschich­ten mit bewusst ein­fa­chen Erzähl­struk­tu­ren ent­wi­ckeln, Geschich­ten, die man selbst zu erzäh­len sich auch zutraut. Gera­de der Kunst­an­spruch, der in Ben­ja­mins Satz vom „recht­schaf­fe­nen Erzäh­len“ letzt­lich steckt, ver­hin­dert ja oft, dass man es, unbe­hol­fen wie man dabei zu Beginn auch ist, selbst ein­mal ver­sucht. Zwei Erzähl­be­rich­te ste­hen des­halb als Anre­gung am Schluss:

„Reent erzählt, dass er Enno und Fen­na schon so viel Geschich­ten erzählt hat, als Con­ny und er klein waren, wie sie über die Wie­sen und Fel­der gezo­gen sind, wie sie den bäu­er­li­chen Groß­el­tern Kaf­fee ans Feld gebracht haben, wie die Rüben­ma­schi­nen gero­chen haben und wie sie die Kühe gefüt­tert haben, alles mög­li­che, und dass er dabei, wie er sagt, immer wie­der bei sich selbst auch „Kis­ten“ auf­ge­ris­sen hat, sich an Din­ge und Details erin­nert hat, von denen er gar nichts mehr wuss­te. Erzäh­len ist auf die­se Wei­se auch eine Ver­ge­gen­wär­ti­gung des eige­nen Ichs des Erzäh­lers, hilft so, sich der eige­nen Bio­gra­fie, der eige­nen Iden­ti­tät zu versichern.

Das Erzäh­len braucht eine güns­ti­ge Erzähl­si­tua­ti­on. Nicht zufäl­lig sind Han­no­vers Geschich­ten, die aus solch einem leben­di­gen Erzäh­len her­aus ent­stan­den sind, Gute-Nacht-Geschich­ten. Aber die Situa­tio­nen bie­ten sich viel­fäl­tig an: Im gemein­sa­men Urlaub, bei der Auto­fahrt, wenn man irgend­wo auf etwas wartet.

„Wir erzäh­len immer, wenn wir die Oma abho­len eine bestimm­te Form von Geschich­ten. Wir sit­zen im Auto unten, einer hat geklin­gelt, die Oma hat durch die Sprech­an­la­ge gesagt, dass sie run­ter kommt. Jetzt malen wir, wäh­rend wir war­ten, uns gemein­sam aus, was die Oma in der Zeit, bis sie aus der Haus­tür tritt, alles macht. Wie sie sich einen Hut auf­setzt, nach den Hand­schu­hen sucht, noch mal nach­sieht, ob sie den Herd auch aus­ge­schal­tet hat wie sie die Woh­nungs­tür auf­macht, durch­geht, zumacht, fest­stellt, dass sie die Schlüs­sel ver­ges­sen hat, oder wie sie noch mal rein­stürmt, weil der Fern­se­her noch läuft, oder die Haus­warts­frau trifft… Das Auf­fül­len der Pau­se, das War­ten ergibt eine Geschich­te. Alle freu­en sich, wenn die Oma dann tat­säch­lich einen Hut aufhat.“

Literatur

  • Karl W. Bauer/Heinz Hengst: Wirk­lich­keit aus zwei­ter Hand. Kin­der in der Erfah­rungs­welt von Spiel­wa­ren und Medi­en­pro­duk­ten, Rein­bek 1980
  • Her­mann Baus­in­ger: Struk­tu­ren des all­täg­li­chen Erzäh­lens, in: Fabu­la. Zeit­schrift für Erzählforschung,1. Jg.1958Eva D. Becker:
  • „Zei­tun­gen sind doch das Bes­te“. Bür­ger­li­che Rea­lis­ten und der Vor­ab­druck ihrer Wer­ke in der peri­odi­schen Pres­se, in: Gesell­schafts­ge­schich­te und Ver­hal­tens­ge­schich­te. Fest­schrift für Fritz Mar­ti­ni, hg. von Hel­mut Kreu­zer, Stutt­gart 1970
  • Wal­ter Ben­ja­min: Der Erzäh­ler, in: Illu­mi­na­tio­nen, Frankfurt/M.1961Dalziels Illus­trier­te Tau­send und eine Nacht, Ber­lin: Schrei­ter­sche Ver­lags­buch o.J. (um 1900)
  • Mecht­hild Dehn/Wilhelm Dehn: Erzähl­struk­tur und Lern­pro­zeß, in: Der Deutsch­un­ter­richt, 32. Jg. 1980 2 S. 94ff; vgl. auch die Bei­trä­ge von Wer­ner Klo­se, Hans-Her­bert Wint­gens und Joa­chim Fritz­sche in die­sem Heft.
  • Wil­helm Hauff: Mär­chen­al­ma­nach für Söh­ne und Töch­ter gebil­de­ter Stän­de auf das Jahr 1828. Das Wirts­haus im Spes­sart, in: Sämt­li­che Mär­chen, Mün­chen 1979, 1981
  • Wer­ner Humm (Hg.): Das Mär­chen und Lisa Tetz­ner. Ein Lebens­bild, Aarau/ Frankfurt/M.1966
  • Wolf­gang Iser: Die Appell­struk­tur der Tex­te, Kon­stanz 1970.
  • Hier zitiert nach dem Abdruck in: Rai­ner War­ning (Hg): Rezep­ti­ons­äs­the­tik, Mün­chen 1970 (UTB 30 3)
  • Wolf­gang Iser: Der Lese­vor­gang, in: R. War­ning (Hg): Rezeptionsästhetik
  • Johan­nes Mer­kel: Kin­der­un­ter­hal­tungs­me­di­en. Annä­he­run­gen an einen undeut­li­chen Begriff, in: Ästhe­tik und Kom­mu­ni­ka­ti­on 8. Jg.1977 27
  • Hein­rich Mey­er: Die Kunst des Erzäh­lens, Bern/München 1972Jörg Richard: Phan­ta­sie­tä­tig­keit – Spielpädagogik.
  • Stich­wor­te zur Dis­kus­si­on, in: Asthe­tik und Kom­mu­ni­ka­ti­on 6. Jg.1975 20
  • Franz K. Stan­zel: Theo­rie des Erzäh­lens, Göt­tin­gen 1979 (UTB 904)
  • Ger­hard Storz: Erzäh­ler und Leser, in: Pro­ble­me des Erzäh­lens in der Weltliteratur.
  • Fest­schrift für Käte Ham­bur­ger, hg. von Fritz Mar­ti­ni, Stutt­gart 1971
  • Hans-Her­bert Wint­gens: Moti­ve und Stra­te­gien für das Erler­nen des münd­li­chen Erzäh­lens im Unter­richt, in: Der Deutsch­un­ter­richt, 32. Jg.1980 2
  • L. S. Wygot­ski: Das Spiel und sei­ne Rol­le für die psy­chi­sche Ent­wick­lung des Kin­des, in: Ästhe­tik und Kom­mu­ni­ka­ti­on 4. Jg.197311
  • Kin­der­bü­cher
  • Car­lo Col­lo­di: Pinoc­chi­os Aben­teu­er (über­setzt von Heinz Riedt) o. O., Hei­me­ran Ver­lag 1966 (ital. Ori­gi­nal­aus­ga­be 1883)
  • Hein­rich Han­no­ver: Die Bir­nen­die­be vom Boden­see, Rein­beck 1973;
  • Ders.: Der müde Poli­zist. Und ande­re Geschich­ten, Rein­bek 1975;
  • Ders.: Der ver­geß­li­che Cow­boy und ande­re Geschich­ten, Rein­bek 1978
  • Dick Laan: Pün­kel­chens Aben­teu­er, Mün­chen: dtv 1973,1979
  • Johan­nes Mer­kel: Ich kann euch was erzäh­len. Spiel­ge­schich­ten, Rein­bek 1981
  • Ali Mit­gutsch: Rund­her­um in mei­ner Stadt, Ravens­burg 1968;
  • Ders.: Komm mit ans Was­ser, Ravens­burg 1971
  • Gina Ruck-Pau­quet: Sand­männ­chen erzählt von sei­nen klei­nen Freun­den, Ravens­burg 1966,1980
  • Bar­ba­ra Schwindt: Und was pas­siert jetzt? Geschich­ten vom Klein­sein und Größerwerden,
  • Ravens­burg 1978
  • Fried­rich Karl Waech­ter: Opa Huckes Mit­mach-Kabi­nett, Weinheim/Basel 1976, 1981

(Die­ser Auf­satz erschien ursprüng­lich in: Johan­nes Merkel/ Micha­el Nagel (Hg.): Erzäh­len. Die Wie­der­ent­de­ckung einer ver­ges­se­nen Kunst, Rein­bek 1982)