Vom Erzählen und Zuhören
Knut Hickethier
l. Mündliches Erzählen
„Es war einmal…“
„Ein König!“ werden sofort meine kleinen Leser ausrufen. Nein, Kinder, diesmal habt ihr es nicht erraten. Es war einmal ein Stück Holz.“
Mit diesen Sätzen beginnt eines der bekanntesten Kinderbücher, Carlo Collodis „Pinocchios Abenteuer“. (Collodi, S. 7) Der Autor redet zu fiktiven Zuhörern (die er gleichwohl als „meine kleinen Leser“ anspricht) und gibt damit, als Einstieg in eine zu lesende Geschichte, das Bild des mündlichen Erzählers, der den um ihn herumsitzenden Kindern seine Geschichte von Pinocchio erzählt. Auch wenn es sich hier um eine literarische Konstruktion handelt, ist die darin angedeutete Erzählsituation an den Anfang dieses (geschriebenen und nicht erzählten) Textes gesetzt, weil darin das Thema in knapper Form enthalten ist: Es geht um die Beziehungen des Erzählers zu seinen Zuhörern, dabei vor allem um jene Erzählstrategien, die darauf abzielen, den Zuhörer am Erzählprozess teilhaben zu lassen, die über den Erzählinhalt, über die je konkrete Geschichte hinaus, den Zuhörer dazu veranlassen, sich selbst und die eigenen Vorstellungen in die erzählte Geschichte miteinzubringen.
Das Beispiel vom Erzähler und seinen Zuhörern entstammt einem Kinderbuch. Das ist nicht zufällig, denn ausführlicher erzählt wurde und wird auch heute noch vor allem Kindern. So werden auch die meisten der weiteren Beispiele, in denen es um Erzählerfahrungen geht, vom Erzählen für Kinder handeln.
2. Erzählen – ein dialogischer Vorgang
Wer erzählt, braucht Zuhörer. Das Mitteilungsbedürfnis, das jedem Erzählen zugrunde liegt, stößt ins Leere, wenn niemand da ist, der zuhört. Erzählen, mündliches Erzählen, ist Sprechen von Erlebnissen, Ereignissen, ist das Sich-Mitteilen. Es ist aber immer auch Sprechen zu jemandem, ist ein Anderen-etwas-Mitteilen.
Erzählen und Zuhören sind zusammengehörige Teile eines Kommunikationsvorganges: So wie der Erzähler auf die Zuhörer sieht, ihre Reaktionen aufnimmt und damit selbst, wenn auch meist auf der Ebene anderer Mitteilungssysteme als der Sprache, gleichzeitig „Zuhörer“, Aufnehmender ist, so ist umgekehrt das Zuhören nicht passiv. Zuhören ist Aufnehmen und Sichvergegenwärtigen des Erzählten, Zuhören ist zugleich ein spezifisches Mittun. Wer zuhört, macht dem Erzähler deutlich, wie er zuhört, ob es ihn interessiert oder langweilt, und beeinflusst damit den Erzähler in der Art und Weise seines Erzählens. Der Erzähler wiederum muss sich in seinem Erzählen auf seine Zuhörer einstellen, will er nicht an ihnen „vorbei reden“. Er muss sich auf ihre Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft einstellen, sich die Geschichte anzuhören, kann diese aber auch durch bestimmte Techniken des Spannungsaufbaus, der Verrätselung etc. wecken. Das Erzählen ist deshalb nicht vom Erzähler allein gesteuert, sondern immer auch von den Zuhörern. Die Beteiligung der Zuhörer kann sehr unterschiedlich sein, ganz wesentlich dabei ist, welchen Raum der Erzähler ihnen dafür gibt, welche Impulse er zur Ausfüllung dieses Raumes den Zuhörern übermittelt, wie er das vom Zuhörer Eingebrachte aufnimmt und weiterverwendet.
In den Erzähldidaktiken der Schule findet sich der Hinweis, dass Erzählungen so zu gestalten seien, dass das eigene Erlebnis des Erzählers zum Erlebnis des Zuhörers werden müsse und dies gelinge nur dann, wenn nicht „lustlos und im zerstörerischen Eiltempo“ erzählt werde:
„Der Schüler muss darauf ausgehen, durch sein Erzählen seine Mitschüler zu unterhalten, sie in Spannung zu versetzen sie zum Schmunzeln oder Lachen zu bringen, sie traurig oder nachdenklich zu stimmen – in jedem Fall aber ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen und sie während des Erzählvorganges festzuhalten.“ (Wintgens, S. 39)
Doch dies gelingt nicht allein durch „ein zum Bersten gespanntes Mitteilunigsbedürfnis“. Die Aufmerksamkeit der Zuhörer gewinnt der Erzähler nur, wenn er, eine grundsätzliche Bereitschaft zum Zuhören vorausgesetzt, die Zuhörer nicht überschüttet, sondern ihnen zwischendurch Luft lässt, ihnen Raum für die eigene Assoziationsbildung schafft.
Erzählen ist, so verstanden, ein dialogischer Vorgang – eine Auffassung, die gerade literaturwissenschaftlichen Erzähltheorien, die ihr Paradigma in der Gattung Roman haben, widerspricht (vgl. F. K. Stanzel). Mündliches Erzählen, und das unterscheidet es von dem an die schriftliche Textform gebundenen, beschränkt sich nicht auf die Sprache als einzigem Zeichensystem, sondern benutzt selbstverständlich ebenfalls alle die mündliche Kommunikation mitkonstituierenden Zeichensysteme: Die kurze Verständigung über den Blick, die verschiedenen Möglichkeiten der Betonung und der Akzentuierung des Sprechens, der Stimmveränderung, schließlich die mimischen und gestischen Formen der Unterstützung oder Kommentierung des gesprochenen Wortes. Wie der Erzähler eben durch den gezielten Einsatz dieser Mittel das Erzählte „zum Erlebnis des Zuhörers“ werden lassen kann, so artikuliert sich auch der Zuhörer, häufig unbewusst, durch nichtsprachliche Mittel über die Art seines Zuhörens, versichert dem Erzähler durch eine Vielzahl von Signalen, dass er weiterhin zuhört.
Wir kennen dies, auf der Ebene des Akustischen, von den Telefon-Erzählungen. Geben wir dem Erzähler als Hörende nicht in Abständen akustische Signale (und sei es nur durch ein „hm“), so denkt der Erzähler, wir hörten nicht mehr zu, verstummt und lässt uns eine längere und deutliche Pause. Er fordert uns damit auf, ihm zu versichern, dass wir noch „da“ sind und mit Anteilnahme lauschen. Erst nach der nun deutlichen Versicherung unseres Interesses wird er fortfahren. Beim Erzählen, das nicht durch ein technisches Medium vermittelt ist, geschieht diese Bestätigung des Zuhörens meist auf anderen Ebenen. So ist in Erzählberichten oft von den „leuchtenden“ Augen der Zuhörer die Rede, von den offenen Mündern der Selbstvergessenheit, auch von den Zwischenrufen, Nachfragen, von dem Sich-Einmengen der Zuhörer.
Die Erzählung entwickelt sich aus dem Gespräch. Die Polarisierung auf einen Erzähler und Zuhörende in der Weise, dass der Zuhörer nur passiv aufnimmt, ist Fiktion. Sicher gibt es bei der Beteiligung des Zuhörers am Erzählen Abstufungen, gibt es unterschiedliche Konventionalisierungen, aber gänzlich kann kein Erzähler auf die Beteiligung der Zuhörer verzichten.
Der sechsjährige Fabian fragt am Abend im Badezimmer seinen Vater:
„Weißt du, was wir heute gemacht haben?“ – „Nein, wann denn?“ – „Als ich mit Barbara beim Einkaufen war.“ – „Erzähl mal.“ – „Wir sind mit dem Auto gefahren und in der Straße standen überall Polizisten und Feuerwehrmänner. Da waren auch Polizeiautos, ein großes und zwei kleine. Und alles war abgesperrt. Wir konnten auch gar nicht weiterfahren.“ – „Und was habt ihr da gemacht?“ – „Wir haben angehalten und sind ausgestiegen und haben geguckt. Und stell dir vor, da ist in dem einen Haus, nämlich im vierten Stock, da hat jemand Sprengzeug hingelegt, da ist dann ein Stück von der Wand rausgeflogen. Richtig rausgeflogen. Auf die Straße und oben war ein großes Loch. Wie es runtergefallen ist, haben wir nicht gesehen, aber so kleine Autos von der Feuerwehr waren da.“ – „Das ist ja aufregend. Wie ist denn das passiert?“ – „Von dem Sprengzeug kam das.“ – „Habt ihr gesehen, wer das gemacht hat?“ -· „Nein.“ – „Und was habt ihr dann gemacht?“ – „Wir sind so umgedreht mit dem Auto, so und dann so, und dann sind wir weggefahren. (Dabei macht er die Bewegung eines auf dem Badewannenrand fahrenden Autos.) Und dann ist das Auto so lang gefahren – und dann ist es auf eine andere Dyane (Fahrzeugtyp) draufgefahren.“ – „Na, das glaub ich nicht.“ (Lachen)
Für manche Erzählforscher mag diese Geschichte nicht den formalen Prinzipien einer Erzählung im Sinne eines gattungsorientierten Klassifikationsschemas sein, auch wird sie sicher nicht in den „Erzählschatz“ eines Erzählers aufgenommen werden, doch ist sie, gerade auch in ihrem Anspruch, auf einer Tatsache zu beruhen und diese zu berichten, ein Beispiel des „alltäglichen Erzählens“. Am Abend nach der regionalen „Abendschau“ des Fernsehens, die über die Explosion berichtete (und die auch zu erzählen wusste, dass hier zwei Männer einen Sprengsatz hatten basteln wollen und dabei selbst in die Luft geflogen waren), wird die Kindererzählung noch um die moralische Lehre vervollständigt: Da sieht man, dass man mit solchem gefährlichen Zeug nicht spielen soll. Der Oma kann am nächsten Tag bereits alles noch zusammenhängender erzählt werden. In der ersten Fassung, die den Entstehungsprozess der Erzählung noch erkennen lässt, ist das dialogische Prinzip klar abzulesen.
Der Erzähler erkundet zunächst die Bereitschaft des potentiellen Zuhörers, weckt sein Interesse, bis dieser ihn zum Erzählen auffordert. Der Zuhörer begnügt sich nicht mit dem bloßen Anhören, er fragt zwischendurch nach, lässt sich Einzelheiten, die ihm zu unbestimmt sind, genauer erzählen und bekundet damit zugleich das Interesse, mehr zu hören. Als der eigentliche Erzählstoff, die Schilderung des Ereignisses, beendet ist, wird eine „phantastische“ Ergänzung angehängt (der Zusammenstoß der beiden Autos), die jedoch als nicht den Tatsachen entsprechend vom Zuhörer angezweifelt wird. Das gemeinsame Lachen beendet den Erzählvorgang und entlastet hier vor allem den Erzähler vom Erlebnisdruck.
3. Vorlesen und Erzählen
„Ich erzähle abends zum Einschlafen meiner Kinder keine Geschichten mehr“, erklärt ein Vater einem anderen, „ich habe das früher einmal gemacht, aber da sind sie nicht eingeschlafen. Da habe ich drei, vier, manchmal noch mehr Geschichten erzählt, Erlebnisse vom Tage, Geschichten von früher, was immer auch, da sind sie immer wach geblieben und haben nachgefragt, etwas eingeworfen und selbst dazwischenerzählt. Wir sind so ins Reden gekommen, und eingeschlafen sind sie nicht. Dann habe ich angefangen, zum Einschlafen Geschichten vorzulesen. Das ging besser, doch da gibt es auch Unterschiede. Wenn ich besonders spannend vorlese, mit Betonung und kleinen Pausen, dann schlafen die beiden, Fabian und Benjamin, schwerer ein, als wenn ich bewusst einförmig, ohne Akzentuierung vorlese. Mit leiser werdender Stimme, das Gelesene länger ziehend, dann auch noch längere Geschichten, vielleicht sogar noch etwas unübersichtlich in ihrer Struktur, dann schlafen sie schneller ein.“
Natürlich hängt das auch von der Art der Geschichten ab, ob viel passiert, ob es verständlich ist oder lange Beschreibungen vorhanden sind, erklärt er dann auf Nachfrage, auch davon, ob es schon später ist und beide müde sind. „Aber aufgefallen ist mir doch, dass man durch die Art des Vorlesens das Zuhören und die Teilnahme steuern kann. Ich habe das dann auch schon mal gezielt eingesetzt, wenn ich abends wenig Zeit hatte und das Einschlafen schnell gehen sollte. Sie haben dann aber schnell mitbekommen, dass ich lieber längere Geschichten vorlese und sie lieber kürzere, überschaubare hören wollten. So zum Beispiel die Geschichten vom kleinen Stationsvorsteher, dem kleinen Zauberer und dem Nachtwächter oder die unsäglichen von „Pünkelchen“. Ganz sicher spielt auch die Affinität zu den kleinen Hauptfiguren dieser Geschichten eine Rolle, ebenso auch, dass bei diesen Geschichten immer Abbildungen dabei sind, die dann auch angesehen werden müssen.“
Ein literarisches Bild ergänzt den Erzählbericht. Wilhelm Hauff hat in seinen drei Märchenalmanachen Rahmenhandlungen entwickelt, die dann Erzählsituationen für die verschiedenen Märchen und Geschichten abgeben: Im Zelt der Karawanen erzählen sich die Reisenden abends reihum Geschichten ebenso wie im Haus des Scheiks von Alessandria. Im Wirtshaus im Spessart erzählen sich die Gäste gegenseitig aus Furcht vor Räubern Geschichten, um so nicht einzuschlafen, sondern wach zu bleiben. Es ist nicht nur das Erzählen, sondern auch das Daran-Beteiligtsein, das wach hält: Rundum erzählt jeder eine Geschichte – eine Erzählsituation, die Hauff mehrfach anspricht:
„Das haben die Bauersleute wohl bedacht“, sagt der Jäger, „wenn die Frauen und Mädchen in den langen Winterabenden bei Licht spinnen, so bleiben sie nicht einsam zu Hause, weil sie da wohl mitten unter der Arbeit einschliefen, sondern sie kommen zusammen in den sogenannten Lichtstuben, setzen sich in großen Gesellschaften zur Arbeit und erzählen.“ (Hauff, S. 274)
Die Besonderheit des Erzählens wird im Vergleich zum Vorlesen deutlich. Vorlesen ist noch stark bestimmt durch den aneignenden Lesevorgang. Das gleichzeitige Sprechen ist ein dem Lesen zusätzlich Beigegebenes, Lesen als eine Kulturtechnik ist bei uns stilles Lesen. Da wir den zu lesenden Text zumeist nicht kennen, ihn zum erstenmal lesen, sprechen wir ihn beim Vorlesen anders, als wenn wir seinen Inhalt als einen uns bekannten und wohlvertrauten erzählen. Beim Vorlesen sind wir mit den Augen beim Text, nicht bei den Zuhörern. Der fehlende Blickkontakt zum Zuhörer bedeutet, dass wir dessen Reaktionen weniger Beachtung schenken. Die Interaktion findet primär zwischen dem Lesenden und dem Text statt, die zwischen dem Sprechenden und den Zuhörern ist nachgeordnet. Dabei passiert es denn auch, dass Betonungen häufig nicht an den richtigen Stellen erfolgen oder manchmal auch ganz unterbleiben, Pausen werden ebenfalls weniger gemacht oder kommen an der falschen Stelle, wie wir dann beim Weiterlesen feststellen.
Schon wenn wir den Text ein zweites Mal (vor)lesen, lesen wir anders, sprechen betonter, akzentuierter, in aller Regel auch langsamer. Wir wenden uns, da wir den Text jetzt schon kennen, häufiger Pausen setzend, an die Zuhörer, suchen deren Blick und ihr Einverständnis. Dabei ist wichtig, dass wir die Konstruktion des Textes, seine Abschnitte und Verbindungsstücke, die für die Erzählung wichtigen Gelenkstellen kennen und auf sie hin das Vorlesen ausrichten: Die Wiederholungen eines Vorganges, deren dritte die Wende bringt, werden so richtig akzentuiert, die mehrfache Aufzählung von Gegenständen wird so beim Vorlesen refrainartig betont, Steigerungen in den Adjektiven werden beim Sprechen hervorgehoben, Gegenübersetzungen, Gliederungen, der Aufbau der Geschichte in ihrer Figuren- und Problemexposition, die Zuspitzung des Konflikts, retardierende Momente bis zum glücklichen Ausgang der Geschichte werden entsprechend umgesetzt.
Bewusster lässt sich das Tempo einsetzen, können wir die Lese- und Sprechgeschwindigkeit beschleunigen und verlangsamen, weil wir das Ziel der Bewegung kennen. Sprecher im Rundfunk z. B. versehen deshalb die von ihnen zu sprechenden (vorzulesenden) Texte mit Markierungen, um so auch im Sprechen den Sinnzusammenhang des Textes zu verdeutlichen. Bei ihnen ist das Vorlesen professionalisiert, doch auch bei ihnen erkennen wir im Zuhören Unterschiede, merken wir bei geübtem Hören, ob sie vorlesen, einen geschriebenen Text sprechen oder eher eine Geschichte erzählen, von der man den Eindruck hat, sie komme aus ihnen selbst.
„Ich erinnere mich noch an einen Erzähler im Rundfunk Ende der fünfziger Jahre, der regelmäßig Tiergeschichten erzählte. Es waren Berichte von seinen Wanderungen und Beobachtungen aus seiner nächsten Umgebung – jedenfalls habe ich sie als solche in Erinnerung. Er war wohl in Hamburg ansässig, sprach mit norddeutschem Akzent, es waren wohl auch Sendungen des NDR. Der Erzähler hieß Pelz von Felinau, und seine singende, melodische und rhythmisch betonte Sprechweise ist mir heute noch in Erinnerung. Er sprach in kleinen überschaubaren Sprechbögen, mit kleinen bedeutungsvollen Pausen dazwischen: „… und denk dir, da stehe ich am Wegrand und im Grasbüschel bewegen sich zwei kleine Halme. Ich warte und – wirklich – da sehe ich plötzlich einen Käfer am Halm heraufkrabbeln. Ganz langsam. Was meinst du, ob das der Käfer gewesen ist, der die laute Musik gemacht hat?“
Das Beispiel ist aus Redewendungen konstruiert, die mir nach Jahren noch in Erinnerung geblieben sind. Die Geschichten selbst habe ich längst vergessen. Ich weiß nur noch, wie er erzählt hat. Und dass ich jedes Mal atemlos zugehört habe, fasziniert war von der Stimme, von der Erzählweise, wohl auch von der häufigen Höreransprache, auch dass ich die Begebenheiten immer als sehr spannend, weil spannend erzählt, empfunden habe und so beeindruckt davon war, dass ich ähnliche Erlebnisse haben wollte.“
Erzählen ist Rhythmus. Das Erzählte wird in einer zeitlichen Ebene strukturiert, zeitlich gegliedert mit Betonungen und eingeplanten Pausen. Wie ein Musikstück hat auch jede Erzählung ihren Rhythmus, in dem sie zu erzählen ist. Der Pause kommt dabei besondere Bedeutung zu: Sie gliedert die Sinnzusammenhänge, so wie wir im schriftlichen Text Abschnitte kennen: Im Zuhörer soll das sprachlich entwickelte Bild, die beschriebene Situation, der Vorgang, das Ereignis zur Wirkung kommen, bevor in der Geschichte fortgefahren wird. Die Pause wird auch spannungssteigernd eingesetzt. Kurz vor dem Höhepunkt, dem Showdown der Gegner, dem Lüften des Geheimnisses, der Wende des Geschehens schnäuzt sich der Erzähler, hält inne (vielleicht auch, um den entscheidenden Satz effektvoll zu formulieren) und die Vorstellungskraft der Zuhörer kann vorauseilen und sich das Kommende ausmalen.
„Im Höhepunkt einer Geschichte ist eine Pause von größter Wirkung“, schreibt Heinrich Meyer in seiner als Anleitung zu lesenden „Kunst des Erzählens“, wobei er jedoch einschränkt, dass „Unterbrechungen nur da wirken, wo man weiterhören möchte, wo man schon von der Erzählung gepackt ist.“ Zugleich stellt er fest, hängt der „Bewegungsrhythmus und Erzählrhythmus, vielleicht auch „Tempo“ oder „movement“, zu dem die „epischen Formeln“ und die Unterbrechungen insgesamt beitragen, von der Neigung der Zuhörer (bzw. Leser) und den „Zeitumständen“ ab. (Meyer, S. l4ff)
Die Pause ist zunächst in dem Assoziationsraum, den sie schafft, ungerichtet nur bestimmt durch das zuvor Erzählte, durch das in der Diegese (Erzählung) Gespeicherte, auf das der Zuhörer in seiner Assoziationsbildung sich in ganz eigenständiger Weise einlassen und auch davon entfernen kann. Gezielter wird dieser Assoziationsraum durch Fragen des Erzählers an die Zuhörer, durch Aufforderungen zur Bestätigung und Kommentierung, Ergänzung oder Fortführung des Erzählten ausgerichtet. Zugleich weiß damit der Zuhörer deutlich, dass die Pause seine Pause ist, dass sie nicht bloß Unterbrechung oder gar Abbruch der Geschichte des Erzählers ist, sondern dass er jetzt tätig werden soll. Kinder sind hier in aller Regel eher bereit, sich spontan zu äußern, wohl weil bestimmte Rezeptionsrituale und -erwartungen, z.B. dass man nicht dazwischen spricht, noch nicht so stark verfestigt sind. In den meisten literarischen Texten (auch in den meisten im Rundfunk vorgetragenen, auf Schallplatten und Kassetten) bleiben Aufforderungen des Sprechers an die Hörer, in das Erzählte einzugreifen, in aller Regel „rhetorisch“, weil die Antworten der Leser oder Hörer nicht aufgenommen werden können und für den Fortgang der Geschichte folgenlos bleiben.
Um diesen „rhetorischen“ Charakter zu vermeiden, haben Erzähler im Rundfunk, gerade in den Kinderprogrammen, sich schon früh Zuhörer ins Aufnahmestudio geholt und haben ihnen Geschichten erzählt und sie auch häufig an den Geschichten beteiligt. So hat z. B. Lisa Tetzner, nach dem sie zwischen 1918 und 1920 als Märchenerzählerin durch Thüringen, Schwaben, das Rheinland und das Ruhrgebiet gewandert war und in immer wieder neuer und abgewandelter Form Märchen erzählt hatte, als Leiterin der Kinderstunde des Berliner Rundfunks (von 1927 bis 1933) als eine der ersten Märchen, aber auch andere Geschichten zusammen mit einer „Kinder-Spielschar“ vor dem Mikrofon live und in improvisierter Form erzählt und gespielt. Von einer solchen Improvisation berichtete sie selbst:
„Ich verabredete mit einigen von meiner Spielschar, dass wir die anderen verblüffen und in Verlegenheit bringen wollten… Wir saßen vor dem Mikrofon. Es war ein ungewöhnlich warmer Dezembertag, und draußen goss es in Strömen. Da begann einer von unserer Partei zu erzählen, dass es draußen im Grunewald schneie und dass am Schlachtensee schon über zehn Zentimeter Schnee liege. Ganz ernsthaft wurde das berichtet, ohne Lächeln, ohne das Gesicht zu verziehen. Jeder wusste etwas anderes zu erzählen, als ob er es eben auf der Herfahrt selbst gesehen hätte. Der Fünfzehnjährige war fassungslos, starrte verstört zu uns hinüber, wäre am liebsten aufgesprungen und hinausgefahren, um das Naturwunder zu sehen. Da, auf einmal merkte er, dass wir ihn auslachten. Und da war er es, der am lustigsten war, uns nun zu übertrumpfen suchte, einer steckte den anderen an, die Einfälle überstürzten sich. Es wurde ganz überraschend das lustigste Spiel, das wir je vor dem Mikrofon erlebt hatten.“ (Tetzner, S. 39 f)
Diese Form, Kindern im Studio vor dem Mikrofon Geschichten zu erzählen, so dass sie eingreifen, mitgestalten können, ist denn auch später immer wieder aufgegriffen worden und hat das Erzählen von Geschichten in den Kinderprogrammen des Rundfunks bis in die sechziger Jahre hinein bestimmt.
4. Unbestimmtheiten und Leerstellen
In Hauffs Rahmenerzählung „Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven“ versucht ein alter Zuhörer einem jungen dessen Faszination am Geschichtenhören zu erklären:
„Indem Ihr den Erzählungen des Sklaven zuhörtet, die nur Dichtungen waren, die einst ein anderer erfand, habt Ihr selbst auch mitgedichtet. Ihr bliebet nicht stehen bei den Gegenständen um Euch her, bei Euren gewöhnlichen Gedanken, nein, Ihr erlebtet alles mit, Ihr waret es selbst, dem dies und jenes Wunderbare begegnete, so sehr nahmet Ihr teil an dem Mann, von dem man Euch erzählte.“ (Hauff, S.147)
Die Literaturwissenschaft hat an fiktiven Texten einige Merkmale der Leserbindung, als einer Strategie des Autors, die Aktivität des Lesers zu beschäftigen, herausgearbeitet, die gerade für unser Problem des mündlichen Erzählens und der Pause des Zuhörers von Interesse sind. Wolfgang Iser hat, von der Frage ausgehend, warum die Lektüre von Literatur vergangener Jahrhunderte uns heute immer noch Genus bereitet, die Theorie entwickelt, dass gerade fiktionale Texte durch einen hohen Grad an Unbestimmtheiten und Leerstellen gekennzeichnet sind. Das im Text Dargestellte entsteht im Leser durch eine Vielzahl von Aspekten, „schematisierten Ansichten“, die der Text liefert, die oft im Text unvermittelt aufeinanderstoßen. Ihre Vermittlung ist Aufgabe des Lesers beim Lesen: Er hat die Unbestimmtheit einer solchen Schnittstelle in eine Bestimmtheit umzuwandeln. In diesen Leerstellen sieht Iser einen elementaren Ansatzpunkt für die Wirkung von Literatur.
„Der Leser wird sie in der Regel bei der Lektüre des Romans nicht bemerken“, dennoch bleiben sie nicht ohne Einfluss auf die Lektüre, da im Lesevorgang ständig solche Schnitte auftreten:
„Der Leser wird die Leerstellen dauernd auffüllen bzw. beseitigen. Indem er sie beseitigt, nutzt er den Auslegungsspielraum und stellt selbst die nicht formulierten Beziehungen zwischen den einzelnen Ansichten her.“ (Iser, S. 235) Der Leser bringt hier seine eigenen Vorstellungen, Bedeutungszuweisungen, Sinngebungen ein. Jede Lektüre ist so eine „Aktualisierung des Textes“, jeder Text realisiert sich so neu und in ganz spezifischer Weise im Kopf des Lesers. Dies ist auch der Grund, warum wir heute noch Romane des 18. und 19. Jahrhunderts mit großem Genus lesen können: Die von uns in der Lektüre aufgefüllten Leerstellen und Unbestimmtheiten machen uns das Romangeschehen gegenwärtig, wir füllen die Leerstellen mit unseren eigenen Assoziationen, Gefühlen und Vorstellungen auf.
„Erst die Leerstellen gewähren einen Anteil am Mitvollzug und an der Sinnkonstitution des Geschehens.“ (Iser, S. 236)Wie aber sehen diese Unbestimmtheiten aus, was sind Leerstellen im Text? Iser ist hier selbst sehr „unbestimmt“, bleibt im Vagen. Ganz sicher ist damit nicht ein semantisches Problem, das der Wortbedeutungen, gemeint, sondern etwas anderes. Gerhard Storz hat an verschiedenen Beispielen gezeigt, dass die knappen Andeutungen, das literarisch nur Skizzierte, Unvollständige die imaginierende Aktivität des Lesers stärker anregt als die vollständig ausgeführte Beschreibung und dass detaillierte Personenbeschreibungen vom Leser als statisch, als Unterbrechung des „imaginativen Mitwirkens“ empfunden werden, weil sie dem Leser keinen Raum geben. (Storz, S. 409ff)
Iser selbst gibt ein anderes Beispiel, das er selbst ein „recht primitives“ nennt: Den Spannungsumbruch, oder wie er es nennt, den „Suspense-Effekt“, beim Fortsetzungsroman. Der Fortsetzungsroman, als Roman in der Zeitung in einzelnen Folgen abgeteilt, baut (wenn er bewusst für den Fortsetzungsabdruck geschrieben ist) häufig am Ende seiner einzelnen Folgen eine neue Spannung auf – und bricht dann ab: Fortsetzung folgt. Der Leser wird so in Erwartung auf die nächste Folge versetzt, kauft so die nächste Zeitungsnummer, um die nächste Folge zu lesen. Der im 19. Jahrhundert erfolgreiche Unterhaltungsautor Felix Dahn gab ironisch eine Kurzversion eines solchen Spannungsumbruchs:
„Da öffnete die üppige Witwe die weißen Arme, riss ihn an ihren wogenden Busen und sprach: Fortsetzung morgen.“ (zit. nach Becker S. 382) Mit dem „Fortsetzung morgen“ entsteht ein Schnitt: Der Leser kann sich jetzt vorstellen, was nun geschieht. Der Erzähler macht eine Pause, die Geschichte gehört jetzt bis zur nächsten Nummer dem Leser. Dessen Phantasie eilt voraus, der Leser malt sich selbst aus, wie es weitergeht.
Natürlich sind diese Leerstellen nicht beliebig gesetzt, auch nicht vom Leser beliebig auszufüllen. Sie sind vom Autor kalkuliert, er gibt einen Spielraum für die Assoziationen vor, und zu Beginn der nächsten Folge gibt er dann seine Version des weiteren Verlaufs der Geschichte bekannt. Häufig ist man als Leser enttäuscht, eben weil man sich viel mehr (oder zumindest anderes) vorgestellt hat. Wolfgang Iser deutet dies unter systematischen Gesichtspunkten:
„Der Leser wird gezwungen, durch die ihm verordneten Pausen sich immer etwas mehr vorzustellen, als dies bei kontinuierlicher Lektüre in der Regel der Fall ist. Wenn daher ein Text als Fortsetzungsroman einen anderen Eindruck hinterlässt als in Buchform, so nicht zuletzt deshalb, weil er einen zusätzlichen Betrag an Unbestimmtheit einführt bzw. durch die Pause bis zur nächsten Fortsetzung eine vorhandene Leerstelle eigens akzentuiert. Sein Qualitätsniveau ist keineswegs höher. Er bringt nur eine andere Form der Realisierung zustande, an der der Leser durch das Auffüllen zusätzlicher Leerstellen stärker beteiligt ist.“ (Iser, S. 237 f)
Das Beispiel des Fortsetzungsromans ist zugleich historisch außerordentlich eindrucksvoll. Gerade die großen, als „Erzähler“ immer wieder bezeichneten englischen und französischen Autoren des 19. Jahrhunderts, aber auch die meisten der deutschen bürgerlichen Realisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben fast alle für die Zeitung geschrieben. Von Dickens beispielsweise weiß man, dass er häufig die neuen Folgen auf die Publikumsreaktionen der bisher abgedruckten hin schrieb, von Autoren wie Dumas und Sue ist ähnliches bekannt. Wie sehr gerade diese Fortsetzungstechnik mit ihren Leerstellen die Phantasie der damaligen Leser aktiviert hat, können wir uns heute kaum noch vorstellen. Anekdotisch wird berichtet, dass die einzelnen Folgen von Sues „Geheimnissen von Paris“ mit großer Spannung erwartet wurden, dass ganze Dorfgemeinschaften dem Postboten mit der neuen Ausgabe des „Journal des Debüts“ entgegengingen, um die nächste Fortsetzung von einem Lesekundigen vorgelesen zu bekommen, dass sogar Sterbende mit dem Sterben gewartet haben sollen, um das Ende des Romans zu erfahren, den allerdings Sue durch immer neue, aktuell geschriebene Folgen hinauszögerte. Entscheidend ist auch der Hinweis, dass diese Leerstellentechnik sich hier mit ganz materiellen Zielen verband: der Roman in der Zeitung erwies sich als besonders publikumswirksam und steigerte beträchtlich die Abonnentenzahlen der betreffenden Zeitungen.
Für das Problem der Pause beim Erzählen ist die Leerstelle im Text unter verschiedenen Aspekten von Interesse. Anders als im Beispiel von Gerhard Storz geht es beim Fortsetzungsabdruck nicht um eine beim Erzählen allgemein hervorgerufene „imaginative Aktivität“ des Lesers, sondern um ein zusätzliches, eher von außen kommendes Moment (das dann aber erzählstrategisch in die Erzählhandlung eingebaut wird). Damit wird diese Form der Leerstelle auch der Pause beim mündlichen Erzählen vergleichbar. Denn auch hier ist die Pause nicht unbedingt eine, die sich nur aus dem Erzählgeschehen, dem Erzählten selbst, motiviert. Sie bedingt sich ebenso auch aus der Erzählsituation, aus dem Kontext von Erzähler und Zuhörer. So wie beim Fortsetzungsroman im Extremfall das Folgende willkürlich in einen Text eingeschnitten werden kann (bestimmt nur durch den vorgegebenen Platz in der Zeitung), so kann auch der Erzähler durch die Situation bedingt, plötzlich und willkürlich unterbrechen müssen. Sicher wird sich der Erzähler um einen entsprechenden, vorläufigen Abschluss oder eine die Erwartung weckende Vertröstung bemühen, doch das Spiel mit der unvollständigen Geschichte gehört ganz selbstverständlich auch in das Repertoire des mündlichen Erzählers.
So erzählt die Tochter des Großwesirs, Scheherasade, ihrer Schwester Dinarsade eine Geschichte im Beisein des Sultans, mit dem sie sich gerade vermählt hat, und sie lässt diese Geschichte vom Kaufmann und dem Geist auf dem Höhepunkt abbrechen. Der eigentliche Zuhörer, der Sultan, wird, um den Erwartungsdruck, den dieser Abbruch erzeugt, besonders anschaulich zu machen, als frauenmordend beschrieben, er lässt jeder seiner Frauen nach der ersten Nacht den Kopf abschlagen:
„… Als der Kaufmann mit diesen Versen fertig war, sagte der Geist: Du redest vergeblich, denn Dein Tod ist unvermeidlich. Bei diesen Worten… „
Hier bemerkte Scheherasade, dass es Tag war, und da sie wusste, dass der Sultan sehr früh aufstand, um sein Gebet zu verrichten und mit seinen Räten zu arbeiten, so erzählte sie nicht weiter.
„Guter Gott“, hub alsbald Dinarsade an, „wie wunderbar ist diese Geschichte!“
„Die Fortsetzung ist aber noch viel wunderbarer“, entgegnete Scheherasade, „und Du würdest mir deshalb beistimmen, wenn mich der Sultan heute noch am Leben lassen wollte, sie dir in der kommenden Nacht zu erzählen.“
Schahrjar (der Sultan) hatte mit Vergnügen Scheherasadens Erzählung angehört und dachte:
„Ich will bis morgen warten; aber töten lasse ich sie doch, wenn ich das Ende der Geschichte vernommen habe.
„Nach der nächsten Nacht aber bricht sie wieder ab und verheißt den beiden Zuhörern: „Das Beste von meiner Erzählung kommt noch!“ und baut nun eine Geschichte in die andere, so daß immer aufs neue ein offener Schluß entsteht.“(1001 Nacht,S. Bf)
Aus der Feststellung solcher phantasieanregender Leerstellen entwickelt Iser die These, dass von der Literatur des 18. Jahrhunderts an die Unbestimmtheiten in der Literatur bis zur Gegenwart ständig zugenommen hätten. Extremes Beispiel, bei dem die Toleranzgrenze der Unbestimmtheiten im Text für viele Leser schon überschritten ist, ist für ihn das Werk von Samuel Beckett. Nun ist jedoch generell zu fragen, ob nicht jeder fiktionale Text Unbestimmtheiten aufweist. Nicht immer müssen es dabei Schnitte oder Brüche sein, die die Leserphantasie herausfordern. Fiktionale Texte grenzen aus der Welt des Erzählbaren das Übermaß an Möglichkeiten aus, wählen davon nur die eine, die erzählt wird, und die wiederum hat in sich viele Lücken und leere Stellen. Die Erzählstruktur des Spielfilms macht das anschaulich: Erzählt und gezeigt wird nur, was für die Geschichte wichtig ist; was unwichtig ist, wird ausgespart. Vom Gang einer Figur ist nur der Anfang und das Ende zu sehen, oder es wird sogar nur beiläufig der Ortswechsel signalisiert. Das Nicht-Bedeutsame auszulassen, hat zur Folge, dass wir in unseren Wahrnehmungsgewohnheiten das im Film Dargestellte und Erzählte in allen Einzelheiten für bedeutsam halten, ihm deshalb Aufmerksamkeit schenken.
Die Auslassungen nehmen wir nicht wahr, das Überspringen ist Teil der Sinnkonstitution. Der Unterschied zur Pause nach der Fortsetzungsfolge ist hier, dass die Brücke im Erzählten selbst liegt: In ihm müssen jeweils die beiden Ansatzstücke zum Überqueren der Auslassung vorhanden sein, die gleiche handelnde Person, die gleiche (Erzähl)Bewegung, der übergreifende Sinnzusammenhang. Dem Lesenden oder Zuschauenden ist keine Veranlassung gegeben, selbst einen Brückenpfeiler zu setzen, er braucht nur die Anschlussstellen miteinander zu verbinden. Beim „Fortsetzung folgt“ ist nur das eine Ansatzstück gegeben, von dem aus die Phantasie des Lesers weiter frei assoziieren kann, auch muss das nächste Ansatzstück nicht unbedingt gradlinig gesucht werden.
Dass auch dieses Überspringen eine aktive Form des Lesens, Zuhörens oder eben auch des Zuschauens ist, merken wir gerade bei kleineren Kindern. Erzählvorgänge im Fernsehen werden von ihnen häufig nicht verstanden, weil sie dieses Prinzip des Auslassens nicht als Erzähltechnik begreifen. Mit wachsender Wahrnehmungsfähigkeit stellt sich dann bei ihnen auch ein Verstehen von filmisch erzählten Geschichten ein, ebenso wie auch das Zuhören und Verstehen von erzählten oder vorgelesenen Geschichten sich erst mit einem bestimmten Alter und mit dem vorhandenen Angebot herausbildet.
5. Fortgesetzte Erzählgeschichten
Der Fortsetzungsroman ist Resultat einer Ausweitung des literarischen Marktes, der literarischen Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert. Seine Bedeutung hat er zum Teil an die audiovisuelle Serienunterhaltung abgetreten, mehr noch hat die Vervielfachung des Unterhaltungsangebotes in den verschiedenen Medien insgesamt, deren permanente Präsenz und unmittelbaren Zugriffsmöglichkeiten zu einer Bedeutungsminderung der Fortsetzungsunterhaltung heute geführt: Wo sich alles pausenlos fortsetzt und wiederholt, wird die einzelne Fortsetzungsgeschichte belanglos.
Gleichzeitig lässt sich im mündlichen Erzählen ein Aufgreifen alter Erzählstrategien beobachten. So wie auch die Leseransprache, die Versicherung der Authentizität des Erzählten dem Leser gegenüber, die Herausforderung des Leserkommentars, alles in der Literatur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts vielgeübte Erzählpraktiken, in die mündlichen Erzählstrategien Eingang gefunden bzw. sich als elementare Formen der Erzähler-Zuhörer-Beziehung gehalten haben, so ist auch das Fortsetzungsprinzip im Repertoire des mündlichen Erzählens für Kinder vorhanden.
Ilsedore erzählt sich mit Daniel, ihrem fünfjährigen Sohn schon seit mehr als einem Jahr Fortsetzungsgeschichten. Die Trennung von Erzähler- und Zuhörerposition ist aufgehoben, die Geschichte wird im ständigen Wechsel Satz für Satz gemeinsam erzählt. Das offene, jeweils fortzusetzende Ende fordert ständig die Phantasie der beiden Erzählenden heraus, jeder Satz kann eine bis dahin nicht geahnte Veränderung bringen. Das Mittun, das Ausfüllen der Leerstelle, fordert jeweils erneut die Assoziationskraft des anderen heraus. Das Geschichtenerzählen ist beiden schon zur Institution geworden. Die Geschichten haben sich über die Zeit geändert, sind vor allem länger geworden. Früher waren die Geschichten so lang, wie in einem Erzählvorgang erzählt werden konnte, heute kann die Geschichte auch über Wochen gehen, sie wird dann immer „kapitelweise“ erzählt bzw. umgekehrt: Was in einem Erzählvorgang entstanden ist, wird zum Kapitel erklärt. Zugleich hat sich bei ihnen ein Repertoire an Figuren und Handlungsmustern herausgebildet: Ein König, eine Königin, eine Prinzessin und ein kleiner, immer siegreicher Junge spielen mit. Dazu werden je nach Bedarf kämpfende Ritter, Seeräuber, Raumfahrer, Riesen oder Polizisten und Müllmänner eingesetzt. Die Prinzessin wird meist geraubt oder geht sonstwie verloren und wird dann befreit oder wiedergefunden. Das Repertoire hat seine Vorbilder eindeutig in den vorgelesenen oder von den Ton-Cassetten her bekannten Märchen- und Abenteuergeschichten. Mit diesem Repertoire wird jedoch eigenständig umgegangen, wobei Daniel auf das Einhalten seiner Erzähllogik besteht: Das Erzählte muss sich in der Konsequenz des bereits Erzählten halten, es darf keine Widersprüche zu dem in der Diegese Gespeicherten geben.
Zwei Formen der Geschichten haben sich herausgebildet: Eine realistische, die sich im Rahmen des real Möglichen zu bewegen hat, und eine phantastische, bei der alles möglich ist. Ganz eindeutig besteht beim Jungen die Neigung zur phantastischen Geschichte. Einmal sollten in einer realistischen Geschichte Gespenster vorkommen.
„Aber die gibt es doch nicht“, erklärt die Mutter.
„Es könnten sich doch aber welche als Gespenster verkleiden“, erklärt der Sohn und rettet damit die Gespenster für die Geschichte. Ein anderes Mal werden phantastische Figuren als Traumfiguren für zulässig erklärt.
Die Geschichte wird also nicht nur erzählt, sondern über ihren Fortgang kommt es zu Verhandlungen, er wird erörtert, kommentiert. Das Erzähltempo bestimmen beide, wobei insgesamt die Tendenz zu einem schnellen, handlungsbetonten Verlauf (was nicht im Widerspruch zur Länge der Geschichte steht) vorhanden ist. Immer wieder ist Ilsedore fasziniert von der unverhofften Wende, von der gegenseitigen Stimulation der Assoziationen. So war beispielsweise eine Geschichte so weit, erzählt sie, dass die Prinzessin einen Freier heiraten sollte, der von weit her kam, sie ihn aber nicht wollte. Das große Festmahl war schon vorbereitet. Wie da nun herauskommen? Der rettende Einfall kam von Daniel: Dem von weither angereisten Freier wird eine versalzene Suppe serviert. Klar, dass er danach die Prinzessin nicht heiraten wollte.
Ein weiteres beliebig herausgegriffenes Beispiel, es ist nicht besonders kunstvoll, auch ohne besondere Einfälle:
I: Wollen wir eine neue Geschichte anfangen?
D: Es soll eine realistische Geschichte sein.
I: Und wer soll mitspielen?
D: Müllmänner, Polizisten, ein Bäcker. Kein König, ein Bürgermeister.
I: Gut, dann fängt es mit dem Bäcker an. Eines Morgens, als die Kunden schon vor der Tür standen auf die frischen Brötchen warteten, holte der Bäcker die Brötchen aus dem Ofen und stellte fest, dass alle ganz schwarz verbrannt waren. Was sollte er tun?
D: Da sagte der Bäcker:. Verflucht! – Und dann fing er wieder von vorn an, die Brötchen zu backen und die waren dann nicht verbrannt.
I: Die Kunden warteten aber schon und konnten auch nicht mehr länger warten. Der Lehrer sagte, er müsste jetzt gehen und ging ohne Früh stück in die Schule. Und was machte er da?
D: Da war er sehr ärgerlich? Und was machten die Polizisten?
I: Waren die denn auch bei dem Bäcker?
D: Ja, die warteten auch auf die Brötchen.
I: Hm, die Polizisten. Die Verkehrspolizisten mussten auch auf ihr Frühstück verzichten.
D: Ja und auch die Kriminalpolizisten. Die hatten auch nichts zu früh stücken und konnten keine Verbrecher fangen.
I: Alle mussten warten, weil der Teig noch nicht fertig war. Nur die Rentner konnten warten. Und was machten die?
D: Die kauften in der Zeit alles ein was sie brauchten.
I: Beim zweitenmal hatten die Bäcker in die Brötchen eine Überraschung eingebacken. Und als die beiden Rentnerinnen zu Hause auspackten und die Brötchen aßen, was war da drin.
D: Ein kleiner Bauernhof mit Tieren aus Holz…
I: Also, die Kinder sind noch gar nicht schlafen gegangen, sondern halten sich noch in den Kartons versteckt. Plötzlich kamen drei Bösewichter in die Wohnung rein und schleppten die beiden Kartons weg, weil sie darin Schätze vermuteten.
D: Als sie die Kartons die Treppe runter trugen, krachte es auf der Treppe und dann wachten die beiden Mütter davon auf.
I: Und sie liefen hinterher und sahen nur noch, wie die beiden Kartons auf den Laster geladen wurden. Und dann fuhren die beiden Bösewichter davon.
D: Da setzten sich die Mütter in ein schnelles Auto und brausten hinterher.
I: Die Bösewichter merkten das und fuhren schneller. Bis ihr Benzin alle war da mussten sie anhalten.
D: Da hielten auch die beiden Mütter an und stiegen aus.
I: Die drei Bösewichter stiegen auch aus dem LKW aus.
D: Da kamen die Männer von den Frauen herbei, und da waren sie schonvier gegen drei.
I: Plötzlich hörten sie Stimmen aus dem Karton „Hilfe“ rufen und sie bekamen große Kraft und gingen auf die Bösewichter zu.
D: Da kamen zufällig noch drei Polizisten daher und griffen ein.
I: Sie befreiten die Kinder und die Eltern freuten sich sehr und alle fuhren nach Hause. Nun war aber immer noch nicht das Problem gelöst, dass sie noch nicht der Mutter gesagt hatten, dass das eine Kind bei dem Jungen schlafen wollte.
Deutlich kann man an der Geschichte erkennen, wie beide Erzähler sich gegenseitig stimulieren, auch gelegentlich gegeneinander arbeiten, weil jeder etwas anderes erzählt wissen will. Bestimmte Erzählabsichten, z. B. von Ilsedore zu Beginn, wer auf die Brötchen wartet, werden abgeblockt: Es soll keine Geschichte vom Lehrer werden. Sie versucht dagegen, die Polizisten draußen zu halten, was ihr jedoch nicht gelingt. Die häufig verwendete Frageform ist direkte Aufforderung ein bestimmtes Detail aufzugreifen und wird stärker von der Mutter, aber auch vom Jungen eingesetzt. Deutlich wird auch, wie die Geschichte sich in nur wenig zusammenhängende Episoden auflöst. Die Ursache dafür kann darin liegen, dass dieses Erzählen häufig von außen gestört wurde.
6. Die Phantasie der Zuhörer
Ilsedore erklärt auch, warum ihr diese fortgesetzten Geschichten so wichtig sind: Sie erfährt so etwas über den Phantasiestand des Jungen, erhält Einblick in die Vorstellungswelt des Kindes. Dieses eher pädagogische Interesse ist jedoch nicht primär, das Erzählen bestimmt sich zunächst und vor allem durch die Lust am Erzählen selbst. Wie aber sieht es mit der Phantasie aus? Natürlich haben die in den Leerstellen, in der Pause evozierten Assoziationen und Vorstellungen, die neu erfundenen Fortsetzungen etwas mit Phantasie zu tun, aber in welcher Weise?
Wenn heute von Phantasie im Zusammenhang mit ästhetischem Handeln Literatur und Mediengebrauch die Rede ist, so heißt es in der Regel, dass Lesen als phantasiefördernd gilt, Mediengebrauch (vor allem beim Film, ganz besonders aber beim Fernsehen) als phantasiehemmend, wenn nicht gar -zerstörend angesehen wird. Phantasietätigkeit beim Lesen heißt in aller Regel, dass beim Lesen – vor allem von erzählender Prosa – ein ständiger Bilderstrom unser Bewusstsein durchzieht. Dieser begleitet jedoch unsere Lektüre und wird nicht selbst zum Gegenstand unserer Aufmerksamkeit. Das gilt selbst dort noch, wo sich solche Bilderfolgen zu einem ganzen Panorama zusammenschließen. “ (Iser, S. 260)
Die allgemeine Annahme ist dass beim Lesen von nur sprachlichen Texten diese Bilder „aus uns selbst“ kommen, während bei Erzählungen in Bildern (also Comics, Film und Fernsehen) diese eigenen Bilder durch „vorgeprägte“ Bilder der Medien ersetzt werden, mithin die eigene Phantasietätigkeit ausgeschaltet wird.
Nun hat dieser „ständige Bilderstrom“ bei der Lektüre ja auch irgendwo seinen Ursprung, sind die Bilder verarbeitete Eindrücke aus der Realität und aus dem vorangegangenen Mediengebrauch. Andererseits sind auch die Bilder im Kopf der Comicleser und Filmzuschauer nicht mit den Bildern des jeweiligen Mediums identisch, sondern stellen Selektionen und Verarbeitungen dar. Iser hat in seiner Untersuchung des Lesevorgangs deutlich gemacht dass das „Bildersehen in der Einbildungskraft kein optisches Sehen (ist), sondern der Versuch, sich gerade vorzustellen, was man nicht sehen kann“. (Iser, S. 261)
Die Imagination setzt gerade das Vorhandensein von Leerstellen voraus, die wir als Leser auffüllen. Leerstellen gibt es aber auch beim Film und bei den fiktionalen Formen in anderen Medien (z. B. beim Hörspiel und beim Fernsehspiel), nur gibt der Text mit seinen sprachlichen Ausdrucksformen andere Leerstellen vor als dies z. B. der Film mit seiner spezifischen Zeichenstruktur macht, weil die darstellenden und die erzählenden Mittel jeweils unterschiedlich sind. Gegenüber der literarischen Beschreibung eines Ortes empfinden wir dessen filmische Darstellung häufig als enttäuschend, weil sie durch das fotografische Bild eindeutiger, weniger in Relationen zu anderem gesetzt ist, in die wir als Leser gerade unsere Konkretionen und Vorstellungen einbringen können. Mimische und gestische Verweise von handelnden Figuren, Körperbewegungen dagegen sind z. B. im Film für uns häufig vieldeutiger und mit ihren Unbestimmtheiten von uns als Zuschauer durch eigene Assoziationen und Interpretationen in Bestimmtheiten aufzulösen. Nicht zufällig auch ist Isers Definition der durch literarische Schnitttechniken entstandenen Leerstellen direkt auch auf filmische Montage anwendbar.
Beim mündlichen Erzählen ist nun die Pause im Erzählvorgang selbst häufig durch ein visuelles Zeichen des Erzählers aufgefüllt. Indem er z. B. die Körperbewegung eines Tieres oder eines Menschen mit der Hand andeutet, einen Gegenstand in seiner Größe angibt, indem er auf verschiedenste Weise ein erzähltes Detail visuell durch eine Geste veranschaulicht, fordert er die Phantasie seiner Zuhörer (und Zuschauer) auf eine neue und andere Weise heraus. Hier ist die Pause durch ein Erzählen auf einer anderen Mitteilungsebene überbrückt, findet letztlich ein „Medienwechsel“ im Erzählvorgang statt.
Gerade Kindern gegenüber ist der Einbau mimischer und gestischer Elemente in das mündliche Erzählen eine wichtige Bereicherung und eine ganze Reihe von neueren Geschichten für Kinder sind daraufhin angelegt, dass der Erzähler Details körpersprachlich umsetzt. So baut z.B. Heinrich Hannover in seine Kindergeschichten häufig gestische Elemente ein wie auch Johannes Merkel in seinem vor kurzem erschienenen Band von Alltagsgeschichten. Weniger explizit fordern auch andere Kinderbücher das gestische Erzählen des Vorlesenden heraus, etwa wenn in „Pinocchios Abenteuer“ der Puppenspieler als einer beschrieben wird, „der ein so großer und hässlicher Kerl war, dass schon sein Anblick Furcht und Schrecken verbreitete. Er hatte einen struppigen Bart, der so schwarz war wie ein Tintenklecks und so lang, dass er von seinem Kinn bis zur Erde reichte. “ Und „sein Mund war so groß wie ein Backofen und seine Augen waren wie zwei rote Glaslaternen“. (Collodi, S. 35)
Da kann man sich vorstellen, mit welchen Grimassen der Vorlesende die Details mimisch und gestisch ausmalt. Der „ständige Bilderfluss“ beim Zuhören ist Resultat der Verarbeitung, der Aneignung des Erzählten durch den Zuhörer, wobei diese Aneignung über den eigentlichen Erzählvorgang hinausgehen kann, und der Zuhörer die beim Erzählen in seinem Kopf entstandene Welt, seine Vorstellungen in einer Art Wachtraum erhält, sie weiterdenkt, weiter“spinnt“. In der Diskussion um den Phantasiebegriff und um die Phantasietätigkeit ist der Aneignungsbegriff immer wieder in einer Weise verwendet worden, in der Phantasie selbst als eine spezifische Aneignungsform verstanden wurde, wobei es hier um die spielerische Verarbeitung von Realitätserfahrungen geht, weniger um das Festhalten halluzinatorischer Traumwelten, wie Jörg Richard betont. Auch bei der psychischen Verarbeitung des Erzählten geht es darum, das Gehörte zu bewältigen, die darin enthaltenen Erfahrungen und auch phantastischen Momente für die eigene Vorstellungswelt nutzbar zu machen. Das eigene Weitererzählen, das Einwerfen von Fragen, der Widerspruch sind Momente dieser Verarbeitung.
Gerade im Erzählen für Kinder kommt der mimischen und gestischen Unterstützung besondere Bedeutung zu, weil die kindliche Phantasietätigkeit in stärkerem Maße als die der Älteren noch eng mit dem Spiel verhaftet ist. Wygotskis Beobachtung, dass die Phantasie des Kindes noch eines vergegenständlichten Spielmittels, des Spielzeugs, bedarf und sich die Phantasietätigkeit in der späteren Entwicklung davon löst, gilt auch der Geste beim Erzählen: Sie ist Veranschaulichung des nur mit Worten Erzählten, ist „gegenständliche“ Unterstützung. Gestisch und mimisch stärker akzentuiertes Erzählen bringt das Erzählen dem Spiel näher. Der Erzähler übernimmt dabei auch in gewisser Weise schauspielerische, darstellende Elemente, schafft damit Lebendigkeit. Nicht zufällig geht in dem oben erwähnten Beispiel von Lisa Tetzner das gemeinsame, improvisierende Erzählen so leicht ins Spiel vor dem Mikrofon über. Johannes Merkel hat mit Blick auf Wygotskis Phantasiebegriff darauf hingewiesen, dass aus dieser Kombination von erzählter Geschichte, visueller Anschaulichkeit und Gegenständlichkeit der Medienverbund der kommerziellen Kinderkultur seine Faszination bezieht. Und in der Tat ist die in dieser Kombination enthaltene sinnliche Attraktion der Ansprache an die Phantasie der Kinder nicht nur negativ, als kommerziell betriebene „Mediatisierung von Erfahrung“, als Vehikel einer „Wirklichkeit aus zweiter Hand“ (Bauer/Hengst), die den Blick für die Realität verstellt, zu sehen, sondern ihre Elemente sind auch positiv für das eigene Erzählen zu verwenden.
„Mit Händen kann man viel machen“, erzählt Benjamins Vater, mir fällt da sofort Heinrich Hannovers über die Bettdecke der Kinder reitender „vergesslicher“ Cowboy ein, der immer hin- und herreitet, weil er ganz verschiedene Dinge vergessen hat. Oder als wir einmal dem Fabian erzählen wollten, was Benjamin und ich unterwegs an einem großen, metallenen Apparat gekauft haben, habe ich das mit den Händen beschrieben: Es war unten fest und spitz, in der Mitte kugelförmig ausgebeult, oben war etwas Weiches, Weißes, Kaltes draufgekringelt und lief dann nach oben spitz zu. Aus den Andeutungen erkannte Fabian, dass wir ein Eis gekauft haben. Solche anschaulichen Andeutungen lassen sich an den verschiedensten Stellen einbauen, da erzählt man dann auch langsamer, weil mehr Zeit zum Überlegen sein muss so lange, bis klar ist, was gemeint ist.
Wir haben es aber auch umgekehrt gemacht, dass wir uns z. B. Bilderbücher von Ali Mitgutsch angesehen haben, in denen ohne Text viele sehr deutlich und detailliert gemalte Figuren in Alltagsszenen zu sehen sind. Früher haben wir, was zu sehen ist, nur beschrieben und erklärt, jetzt erzählen wir dazu Katastrophengeschichten, die man dort gar nicht sehen kann: Was passiert, wenn der Taucher vom Beckenrand ins Wasser springt, dabei der Bademeister so nass wird, dass er vor Schreck über das Badetuch der Frau neben ihm stolpert und in die Eistüten des Eisverkäufers fällt, der daraufhin im hohen Bogen auf die Wasserrutsche springt, auf einen Plastikschwan eines Jungen fällt und wieder abprallt… Diese Geschichten machen allen Spaß, jeder will den anderen übertreffen und versucht, was ganz Verrücktes aus den Bildern zu machen.
7. Die Pause als Angebot Es gibt die verschiedensten Formen und Möglichkeiten, Geschichten zu erzählen, zu erfinden, gemeinsam zu fabulieren. Entscheidend ist, dass es allen Beteiligten Spaß macht. Bedenklich scheint deshalb die Tendenz in der Deutschdidaktik, Erzählen als „neues“ optimales Modell für Lernen anzusehen und damit das Erzählen zu pädagogisieren, schulisch auszubeuten. Die Pause beim Erzählen pädagogisch zu nutzen, ist schon längst einigen Kinderbuchautoren eingefallen. Barbara Schwindt z. B. hat ihre „Geschichten vom Kleinsein und Größerwerden“ immer an den entscheidenden Konfliktpunkten unterbrochen und stellt, bevor sie den Schluss erzählt, jedes Mal die Frage: „Und was passiert jetzt?“, wobei der Vorlesende an dieser Stelle mit den kindlichen Zuhörern das Konfliktverhalten der Figuren (der dreijährigen Andrea und dem sechsjährigen Marko) erörtern und diskutieren soll. Ob das von den Benutzern des Buches gemacht wird, möchte ich bezweifeln, dazu sind die gesetzten Pausen zu sehr vom erhobenen Zeigefinger des Problemlösungsdenkens bestimmt und lassen der Phantasie zu wenig Spielraum. Anregender sind dagegen die schon erwähnten Kinderbücher von Hannover und Merkel ähnlich, wenn auch im Bereich der Bildergeschichte, ist Friedrich Karl Waechters „Mitmachkabinett“ anregender, weil sie Geschichten mit bewusst einfachen Erzählstrukturen entwickeln, Geschichten, die man selbst zu erzählen sich auch zutraut. Gerade der Kunstanspruch, der in Benjamins Satz vom „rechtschaffenen Erzählen“ letztlich steckt, verhindert ja oft, dass man es, unbeholfen wie man dabei zu Beginn auch ist, selbst einmal versucht. Zwei Erzählberichte stehen deshalb als Anregung am Schluss:
„Reent erzählt, dass er Enno und Fenna schon so viel Geschichten erzählt hat, als Conny und er klein waren, wie sie über die Wiesen und Felder gezogen sind, wie sie den bäuerlichen Großeltern Kaffee ans Feld gebracht haben, wie die Rübenmaschinen gerochen haben und wie sie die Kühe gefüttert haben, alles mögliche, und dass er dabei, wie er sagt, immer wieder bei sich selbst auch „Kisten“ aufgerissen hat, sich an Dinge und Details erinnert hat, von denen er gar nichts mehr wusste. Erzählen ist auf diese Weise auch eine Vergegenwärtigung des eigenen Ichs des Erzählers, hilft so, sich der eigenen Biografie, der eigenen Identität zu versichern.
Das Erzählen braucht eine günstige Erzählsituation. Nicht zufällig sind Hannovers Geschichten, die aus solch einem lebendigen Erzählen heraus entstanden sind, Gute-Nacht-Geschichten. Aber die Situationen bieten sich vielfältig an: Im gemeinsamen Urlaub, bei der Autofahrt, wenn man irgendwo auf etwas wartet.
„Wir erzählen immer, wenn wir die Oma abholen eine bestimmte Form von Geschichten. Wir sitzen im Auto unten, einer hat geklingelt, die Oma hat durch die Sprechanlage gesagt, dass sie runter kommt. Jetzt malen wir, während wir warten, uns gemeinsam aus, was die Oma in der Zeit, bis sie aus der Haustür tritt, alles macht. Wie sie sich einen Hut aufsetzt, nach den Handschuhen sucht, noch mal nachsieht, ob sie den Herd auch ausgeschaltet hat wie sie die Wohnungstür aufmacht, durchgeht, zumacht, feststellt, dass sie die Schlüssel vergessen hat, oder wie sie noch mal reinstürmt, weil der Fernseher noch läuft, oder die Hauswartsfrau trifft… Das Auffüllen der Pause, das Warten ergibt eine Geschichte. Alle freuen sich, wenn die Oma dann tatsächlich einen Hut aufhat.“
Literatur
- Karl W. Bauer/Heinz Hengst: Wirklichkeit aus zweiter Hand. Kinder in der Erfahrungswelt von Spielwaren und Medienprodukten, Reinbek 1980
- Hermann Bausinger: Strukturen des alltäglichen Erzählens, in: Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung,1. Jg.1958Eva D. Becker:
- „Zeitungen sind doch das Beste“. Bürgerliche Realisten und der Vorabdruck ihrer Werke in der periodischen Presse, in: Gesellschaftsgeschichte und Verhaltensgeschichte. Festschrift für Fritz Martini, hg. von Helmut Kreuzer, Stuttgart 1970
- Walter Benjamin: Der Erzähler, in: Illuminationen, Frankfurt/M.1961Dalziels Illustrierte Tausend und eine Nacht, Berlin: Schreitersche Verlagsbuch o.J. (um 1900)
- Mechthild Dehn/Wilhelm Dehn: Erzählstruktur und Lernprozeß, in: Der Deutschunterricht, 32. Jg. 1980 2 S. 94ff; vgl. auch die Beiträge von Werner Klose, Hans-Herbert Wintgens und Joachim Fritzsche in diesem Heft.
- Wilhelm Hauff: Märchenalmanach für Söhne und Töchter gebildeter Stände auf das Jahr 1828. Das Wirtshaus im Spessart, in: Sämtliche Märchen, München 1979, 1981
- Werner Humm (Hg.): Das Märchen und Lisa Tetzner. Ein Lebensbild, Aarau/ Frankfurt/M.1966
- Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte, Konstanz 1970.
- Hier zitiert nach dem Abdruck in: Rainer Warning (Hg): Rezeptionsästhetik, München 1970 (UTB 30 3)
- Wolfgang Iser: Der Lesevorgang, in: R. Warning (Hg): Rezeptionsästhetik
- Johannes Merkel: Kinderunterhaltungsmedien. Annäherungen an einen undeutlichen Begriff, in: Ästhetik und Kommunikation 8. Jg.1977 27
- Heinrich Meyer: Die Kunst des Erzählens, Bern/München 1972Jörg Richard: Phantasietätigkeit – Spielpädagogik.
- Stichworte zur Diskussion, in: Asthetik und Kommunikation 6. Jg.1975 20
- Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens, Göttingen 1979 (UTB 904)
- Gerhard Storz: Erzähler und Leser, in: Probleme des Erzählens in der Weltliteratur.
- Festschrift für Käte Hamburger, hg. von Fritz Martini, Stuttgart 1971
- Hans-Herbert Wintgens: Motive und Strategien für das Erlernen des mündlichen Erzählens im Unterricht, in: Der Deutschunterricht, 32. Jg.1980 2
- L. S. Wygotski: Das Spiel und seine Rolle für die psychische Entwicklung des Kindes, in: Ästhetik und Kommunikation 4. Jg.197311
- Kinderbücher
- Carlo Collodi: Pinocchios Abenteuer (übersetzt von Heinz Riedt) o. O., Heimeran Verlag 1966 (ital. Originalausgabe 1883)
- Heinrich Hannover: Die Birnendiebe vom Bodensee, Reinbeck 1973;
- Ders.: Der müde Polizist. Und andere Geschichten, Reinbek 1975;
- Ders.: Der vergeßliche Cowboy und andere Geschichten, Reinbek 1978
- Dick Laan: Pünkelchens Abenteuer, München: dtv 1973,1979
- Johannes Merkel: Ich kann euch was erzählen. Spielgeschichten, Reinbek 1981
- Ali Mitgutsch: Rundherum in meiner Stadt, Ravensburg 1968;
- Ders.: Komm mit ans Wasser, Ravensburg 1971
- Gina Ruck-Pauquet: Sandmännchen erzählt von seinen kleinen Freunden, Ravensburg 1966,1980
- Barbara Schwindt: Und was passiert jetzt? Geschichten vom Kleinsein und Größerwerden,
- Ravensburg 1978
- Friedrich Karl Waechter: Opa Huckes Mitmach-Kabinett, Weinheim/Basel 1976, 1981
(Dieser Aufsatz erschien ursprünglich in: Johannes Merkel/ Michael Nagel (Hg.): Erzählen. Die Wiederentdeckung einer vergessenen Kunst, Reinbek 1982)