Johannes Merkel
Unsere Erinnerung ist ein Sack voller Geschichten, auf Schritt und Tritt schleichen sie sich in unsere Unterhaltungen ein. Auch noch im überfrorenen Schneematsch bergab schlitternd, wo von Schreiten nicht mehr die Rede sein kann und der nächste Tritt droht, uns auf dem Hosenboden den Abhang hinunterzuschicken.
„So einen Berg runter muss ich immer an eine Freundin denken, die war mit ihrer Familie im Harz, vier Kinder und die Eltern. Und der kleine Bruder ist losgelaufen, erst aus Spaß und konnte nicht mehr bremsen und schreit, dass er nicht mehr bremsen kann. Da läuft der nächste los, um ihn zu halten, und kann auch nicht mehr bremsen, erst die Kinder, dann Vater und Mutter. Wie es ausgegangen ist, weiß ich nicht, nur dass der kleine Bruder vor einen Baum geknallt ist. Wo die andern gelandet sind, weiß ich nicht.“ Schon in der Schule haben wir gelernt, nicht alles mit „und und und“ zu verkleistern, und ein Erzähler, der nicht recht weiß, wovon er redet, macht eine reichlich schlechte Figur. Aber was soll er machen, wenn er es tatsächlich nicht weiß? Soll er es sich lieber aus den Fingern saugen, um Eindruck zu schinden?
Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit ödet selbst Staatsanwälte und Richter an. Interessant wird es immer erst dann, wenn einer flunkert. Wer seine Ausflüchte nur in ausufernde Erzählungen einkleidet, kriegt zwar leicht zu hören: Erzählen Sie uns doch keine Geschichten! Aber sogar die Herren Juristen lassen sich zu einem Schmunzeln hinreißen, soweit es die Würde des Hohen Gerichts nicht verletzt. Eine Chance, ungeschoren davonzukommen, hat am ehesten, wer so zu erzählen versteht, dass er damit sogar sich selbst überzeugt und Stein und Bein schwört, es sei eben die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
Sich schon beim ersten Erzählen selbst und restlos zu überzeugen, deutet auf ein außergewöhnliches Talent hin, und es ist ein Jammer, wenn solche Gaben in Gerichtssälen verkümmern. Ein Durchschnittsbegabter überzeugt sich von der Wahrheit des Erzählten erst durch wiederholtes Erzählen: Fast unmerklich schleichen sich stilistische Verbesserungen ein, kleine Übertreibungen, natürlich nur, um das sichtliche Vergnügen der Zuhörer zu steigern, Umstellungen, um den Ablauf der Sache besser nacherlebbar zu machen. Und wenn uns dabei auch ein bisschen Flunkern unterläuft, wir glauben immer noch, unsere Verbesserungen säuberlich davon unterscheiden zu können, was tatsächlich einmal passiert ist. Lügen haben kurze Beine, aber mit hinreißend zusammengeflunkerten Geschichten kommen wir ziemlich weit, und schon deswegen muss es sich um etwas ganz anderes handeln. Denn mit dem Abstand der Zeit, und je öfter wir eine Geschichte zum besten geben, desto mehr schwindet unser Bewusstsein davon „wie es wirklich war“ und alles war wirklich so gewesen, wie wir es am schönsten erzählen konnten. So schön erzählen lässt sich’s eben deshalb, weil wir inzwischen felsenfest dran glauben müssen. Wieder hat eine Geschichte unsere Vergangenheit bewältigt. Denn wir erinnern nur, was wir erzählen können, und wir erinnern es so genau, wie wir es erzählen.
2.
Auch meine Geschichte ist aus dem Leben gegriffen, und doch möchte ich für sie nicht gerade stehen: Ich habe sie schon zu oft erzählt, schließlich ist sie vor gut fünfzehn Jahren passiert und natürlich Wort für Wort so, wie ich sie erzähle.
Erst wollte ich die Geschichte niederschreiben, wie ich sie oft erzählt habe, und dabei merkte ich, dass ich für diese Geschichte keinen festen Wortlaut habe, den ich aufschreiben könnte. Ich habe einen guten Korb von Formulierungen, die ich mir nach Bedarf herausfische und zu meiner Geschichte zusammensetze. Wäre ich mein eigener Erzählforscher, würde ich mir ein Testpublikum suchen und das Band mitlaufen lassen, und der Leser dürfte noch jedes verlegene „Äh“ säuberlich transkribiert nachvollziehen. Ich wäre dann empirisch abgesichert, aber meine Geschichte, mit der ich oft genug die Lacher auf meine Seite brachte, brächte nur noch ein Gähnen zuwege.
Ich fürchte sowieso schon, dass sie beim Aufschreiben in sich zusammenschnurrt wie ein angestochener Luftballon. Offen gestanden hat sie nicht einmal eine echte Pointe, wie man sie noch von der Humorseite der „Bäckerblume“ erwarten darf. Es geht mit ihr ein bisschen wie mit jener Sorte von Kinderwitzen, deren Witz oft nur darin besteht, ein einziges ungehöriges Wörtchen am Mittagstisch zu platzieren, und schon schütteln sich die Kinder aus vor Lachen. Den Erwachsenen entlockt dann allenfalls die haltlose Heiterkeit der Kinder ein nachsichtiges Lächeln. Also schlicht und einfach: Meine Geschichte lebt nur von einer halbwegs komischen Situation, und der ganze Witz besteht darin, sie lebendig zu machen. Aber gerade weil sie als Geschichte nicht das Gelbe vom Ei ist, passt sie mir hier so gut in den Kram. Ich überlege, wo ich diese bescheidene Geschichte anbringen konnte, und mir fallen verschiedene Wohngemeinschaftsküchen ein, natürlich auch einige Kneipen, ein Zugabteil und eine Liegewiese im Schwimmbad. Ein Stichwort, z. B. Schauspielerallüren, oder wenn in einer Runde komische Erlebnisse ausgetauscht werden. Ein kritischer Blick, der erkundet, ob die Geschichte angebracht ist und die nötige Aufmerksamkeit erwartet werden kann, schließlich will man nicht zu den Figuren gehören, die Wildfremde im Zugabteil oder am Kneipentresen mit ihren Schoten nerven. Eine gewisse Unsicherheit bleibt trotzdem und erst nach den ersten Sätzen zeigt sich, ob die Geschichte greift oder in die Hose geht.
Die Erzählforschung würde meine Geschichte unter „Alltagserzählungen“ abheften, tatsächlich erzähle ich sie ja auch nicht beim Vortragsabend im Kammertheater, kann also nicht vor den Vorhang treten und abwarten, bis man eine Stecknadel fallen hörte, um dann meine Zuhörer mit dem Kopf voran in meine Geschichte zu stoßen. Ich bin gezwungen, erst einmal die Zusammenhänge klarzustellen, den Anlass, der zum geschilderten Erlebnis führte. „Ja früher, in den Sechzigern bin ich auch wie ein Depp ins Theater gerannt“. Und um zu illustrieren, wie weit der Fanatismus reichte: „Ich hatte einen Freund, der als BMW-Verkäufer jobbte und immer einen schnellen Schlitten zur Hand hatte“. (Hier ist ein Einschub möglich über die vielen Jobs dieses Freundes, die vom Schrotthändler bis zum Theologen und zum bestallten Lehrer reichen, der nach jahrelangem Prozessieren aus der Schule fliegt, weil er mit einer Kollegin im Schullandheim im gleichen Zimmer nächtigte.) „Und wir, von Freiburg aus abends kurz nach Stuttgart oder Zürich ins Theater geprescht, Uraufführung von Dürrenmatts ‚Physikern‘ und so, und gleich am Abend wieder zurück“.(Mögliche Erweiterung, um nochmals den Fanatismus zu unterstreichen: „Autobahn gab’s damals nach Zürich noch nicht, 160 Kilometer über die Landstraße“.)
Erst nach diesen Vorinformationen, die sie als wahr und erlebt ausweisen, folgt die eigentliche Einleitung der Geschichte: „Mein Freund hatte im Jahr zuvor als Regieassistent, Lastwagenfahrer und Mädchen für alles (auch hier ist gegebenenfalls der Einschub über seine Jobs möglich) bei der Wanderbühne ‚Roulotte‘ gearbeitet“ (je nach Publikum werden, die tatsächlichen Namen der Bühne und der Hauptpersonen genannt oder verschwiegen. Hier werden sie natürlich verschwiegen, schon weil ich meine Geschichte vor jedem juristischen Wahrheitsbeweis bewahren möchte). „Gut, also die ‚Roulotte‘ wurde von R. V. geleitet, der damals mit der ja sattsam bekannten S. M. verheiratet war“. (Ich mache darauf aufmerksam, dass mich die Schreibe schon längst eingeholt hat, „sattsam bekannt“ habe ich beim Erzählen niemals gebraucht, kann es aber problemlos hinschreiben.) „“Die ‚Roulotte‘ gastierte im Freiburger Stadttheater und S. M. gab die ‚Kameliendame‘. Wir stiefelten hinterher in die Theatergarderobe, und dann im Schlepptau von S. M. mit den Schauspielern in die Kneipe. S. M. steuerte natürlich stantepede (hätte ich auch nie erzählt) auf den ‚Rappen‘ zu“ (Für Ortsunkundige, die das Arsenal Plaketten am Hoteleingang nicht kennen, folgt eine Erläuterung, warum sie „natürlich“ zum „Rappen“ stiefelt. )
Und erst jetzt kann sich der Vorhang öffnen zur eigentlichen Geschichte: „S. M. stürmt ins Lokal: Alle Tische besetzt bis auf einen, gleich rechts um die Ecke, ein langer gescheuerter Tisch, so eine Art Stammtisch, an dem ein einzelner älterer Herr sitzt und trübe in sein Weinglas stiert. S. M. stürzt auf ihn zu. ‚Brauchen sie vielleicht allein einen ganzen Tisch? Ich komme mit einer ganzen Gesellschaft und sie können sich doch gradsogut noch woanders mit dransetzen‘. Der alte Herr zieht die Schultern ein, ja, das könnte er ganz sicher. Steht auf, nimmt sein Weinglas in die Hand, geht an den Nebentisch und fragt, ob er sich vielleicht noch dazusetzen dürfte und ob denn wirklich auch noch Platz wäre, und er nicht stört. Dann setzt er sich und stiert wieder in sein Glas. S. M. schält sich aus ihrem Pelz, setzt sich oben an den Tisch, wir alle setzen uns drum rum.
Die Bedienung kommt an den Tisch, legt die Hand an den Mund und flüstert: ‚Wisset’s au, wer der Herr g’wese isch? Prinz Louis Ferdinand von Hohenzollern, der deutsche Kaiser!‘ S. M. erbleicht. Sie flüstert einen Moment mit der Bedienung, die bringt ihr daraufhin Schreibzeug und Papier. Und dann schrieb sie dem deutschen Kaiser am Nebentisch einen Brief. Es täte ihr ja sehr leid, schrieb sie, aber sie konnte ja nicht ahnen, wen sie vor sich hatte. Sie wäre ja die aus Film und Fernsehen nicht ganz unbekannte S. M., und sie würde sich ja riesig freuen, falls er an den Tisch zurückkehren würde. Sie faltet den Brief zusammen, steckt ihn ins Kuvert, und die Bedienung überreicht ihn auf einem silbernen Tablett dem deutschen Kaiser am Nebentisch. Der Kaiser studierte das Schreiben lange und gründlich. Dann, nach vielleicht einer halben Stunde, lässt er sich auch Papier und Schreibzeug bringen und verfasst die Antwort, die auf dem silbernen Tablett der Bedienung an unseren Tisch wandert.
Er hätte schon den ganzen Tag über mit dem Landrat wegen irgendwelcher Waldungen verhandelt, schrieb der deutsche Kaiser, und jetzt sei er redlich müde. Außerdem hätte er schon dreimal einen Schlaganfall gehabt, und hätte nur noch das Bedürfnis, in aller Ruhe sein Glas Wein zu trinken. Im übrigen würde er sie leider nicht kennen, aber er wünscht ihr noch einen recht schönen Abend“.
Ja und, das soll alles sein? Ich habe doch gesagt, dass sie keine Pointe hat und aufgeschrieben sowieso nicht wirkt. Beim Erzählen kann ich mir wenigstens noch einen ehrenhaften Abgang verschaffen mit dem Satz: „Ich weiß ja nicht, ob der alte Mann heute noch lebt, er wirkte ja damals schon reichlich gebrechlich“. Ich bin bereit, alle Eide zu schwören, dass ich diese Geschichte erlebt habe, ich sehe den gescheuerten Tisch in der Ecke und den eingeschüchterten alten Mann am Nebentisch, „als ob es gestern gewesen wäre“. Dennoch möchte ich für keine Einzelheit die Hand ins Feuer legen. Ich bin nicht einmal sicher, ob der damalige Kronprätendent der Hohenzollern Louis Ferdinand hieß, und ich habe auch keinen Anlass, das nachzuprüfen. Als ich etwa zehn Jahre nach dieser Episode den erwähnten Freund fragte, konnte er sich nur noch dunkel daran erinnern, aus dem einfachen Grund: Ich hatte eine Geschichte erzählt, er nicht. Es ist mir auch gleichgültig, ob die Geschichte „wirklich“ so passiert ist, mich interessiert, wie ich zu dieser Geschichte komme und warum sie zum Erzählen taugt und aufgeschrieben kaum ein müdes Lächeln entlockt. Ich glaube mich zu erinnern, dass der unscheinbare Herr aus dem Hochadel sich nicht genau an den Nebentisch setzte, sondern einige Tische weiter. Aber die Formulierung vom deutschen Kaiser am Nebentisch ist mir so geläufig, dass ich sie automatisch verwende, wahrscheinlich, weil das die Vorstellung assoziieren lässt, die Briefschreiber säßen Rücken an Rücken und das Brieflein-Schreiben dadurch absurder wird.
Ich lasse auch stets die Bedienung mit badischem Anklang reden, bin mir aber gar nicht sicher, ob es eine Einheimische war, möglicherweise tut sie das nur zur Verstärkung des Lokalkolorits. Auch weiß ich nicht, ob die Schauspielerin tatsächlich schrieb, sie sei die „aus Film und Fernsehen ja auch nicht unbekannte S. M.“, obwohl ich es immer so erzählt habe und drauf bestehen möchte, dass sie ihren Film- und Fernsehruhm erwähnte. Wohin ich mich auch wende, ich stoße überall auf Formulierungen, die ihre Existenz mehr „ästhetischen“ Kategorien, ihrer Wirksamkeit und Handhabbarkeit im Prozess des Erzählens als ihrem Wahrheitsgehalt verdanken und die sich doch in immer neuen Kombinationen zu meiner Geschichte zusammenfügen. Ich brauche keine Tonbandaufnahmen auszuwerten, um zu wissen: Ich erzähle sie nie haargenau im gleichen Wortlaut.
Allerdings beachte ich eine bestimmte Reihenfolge: Vorinformationen und Einstieg sind je nach Zusammensetzung der Hörer sehr unterschiedlich, dann aber folgt auf den Eintritt in das gut besuchte Lokal die Vertreibung des alten Herrn, die Unterredung mit der Bedienung und schließlich der Briefverkehr mit der Beschreibung der beiden Briefe. (Dabei fällt mir eine seltsame Unterlassung auf: Die Schauspielerin hat uns, daran glaube ich mich zu erinnern, sowohl ihr Schreiben wie das des alten Herrn vorgelesen, und diese Tatsache ist für die Wahrscheinlichkeit der Erzählung eigentlich notwendig: Woher sollte der Erzähler sonst wissen, was in den Briefen stand. Ich hatte ursprünglich eine Formulierung in meinem Vorrat, die darauf hinauslief, dass die gute S. M. so dumm gewesen sei, das auch noch alles coram publico vorzulesen. Diese Formulierung ist mir irgendwie abhanden gekommen, ich vermute, weil sich die Allmacht des wissenden Erzählers durchsetzte und wohl auch von niemandem beanstandet wurde.)
Sicher ist auch zwischen den erzählten Passagen eine Menge passiert, beispielsweise zwischen der Abfassung des Briefes an den alten Herrn und seiner Antwort, zwischen denen einige Zeit verging, wenn ich meiner Erzählung glaube, eine halbe Stunde. Davon weiß ich heute allenfalls noch, dass der Gatte unserer Heldin ständig an seiner Pfeife zog. Ich könnte meine Erinnerung an die erzählte Situation auch beschreiben als ein Raster von Bildern oder Szenen, die ich brauche, um damit eine Geschichte zu erzählen, und dass fast alles, was ich dafür nicht benötige, als Ausschuss in der Rumpelkammer des Unbewussten gelandet ist. Ich könnte auch sagen: Ich erzähle nicht, was wirklich passiert ist, sondern ich konstruiere im Akt des Erzählens eine Geschichte, indem ich meine Phasenfolge durchgehe, in jeder Phase meine festen Formulierungen verwende und mit der Sicherheit solcher Merkteile dazwischen frei variierend spielen kann, ohne meine Geschichte und mein Publikum zu verlieren. Also beispielsweise die zweite Phase (Schauspielerin spricht älteren Herrn an): Der alte Herr „stiert in sein Glas“, vielleicht einsam oder traurig oder müde. „Er zieht die Schultern ein“, dann kann er in indirekter Rede sagen, das könnte er ganz sicher, oder in direkter Rede, „ja, aber bitte sehr, mit Vergnügen“. Dann kann er „mit seinem Weinglas in der Hand“ gehen, schleichen, schlurfen, aber immer „an den Nebentisch“. Ganz sicher, das, was man „Wirklichkeit“ oder Erlebnis nennt, bestimmt den Ablauf, die Struktur dieser Geschichte. Ist sie deshalb eine wahre und erlebte oder eine fiktive, erfundene Geschichte? Ist sie eine ästhetisch geformte oder eine Alltagsgeschichte? Man kann sich natürlich über die Qualität der Geschichte streiten, darum geht es nicht. Interessant ist, wie unscharf die scheinbar so verlässliche Grenze zwischen Fiktion und Tatsachenbericht wird, sobald es ums Erzählen geht, wie der Prozess des Erzählens selbst uns letzten Endes auch in banalen Fällen zu „Dichtern“ macht.
Ich vermute, dass die „Bauformen des Erzählens“, mit deren Hilfe ich mir‘ meine Geschichte im Akt des Erzählens produziere, den „Tiefenstrukturen“ vergleichbar sind, die wir im Prozess des Sprechens in „Oberflächenstrukturen“ überführen, in gegliederte vollständige Sätze, die der Situation und den Gesprächspartnern angemessen sind. Da ich weder bei pseudomathematischen Formeln noch pfeilchengespickten Strukturmodellen landen möchte, die eine linguistische Terminologie erst als „wissenschaftlich“ ausweisen, verlasse ich dieses Glatteis lieber, bevor ich es betrete.
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3.
Sollte der Eindruck entstanden sein, ich gehörte zu den unangenehmen Brüdern, die einen am Biertresen zu fassen kriegen und ihre faden Heldentaten andrehen: Dieser Eindruck trügt. Wie jeder ordentliche Zeitgenosse diskutiere und argumentiere ich in der Öffentlichkeit und beruflich, selbstverständlich streng rational und emotionslos, in Kneipen und Zugabteilen bin ich eher zurückhaltend, und Erzählereien beschränken sich vorwiegend auf die „Privatsphäre“. Allerdings nicht ganz, seit ein paar Jahren erzähle ich auch sozusagen halboffiziell in Kindergärten und Stadtbibliotheken oder auf Straßenfesten zusammen mit anderen selbstgestrickten Erzählern. Wir erzählen dort hauptsächlich selbst erfundene Geschichten, und die sind dann natürlich ziemlich ausgetüftelt, sie haben sogar einen echten Schluss, der aus der Geschichte wieder heraus- und zurückführt in die gewöhnliche Unterhaltung. (Übrigens sind Schlusssätze das Schwierigste beim Erfinden von Geschichten, davon weiß mancher spontane Gute-Nacht-Erzähler ein Lied zu singen, der erzählt und erzählt und doch nicht das richtige Ende findet. An den Schlusssätzen kann man am besten ablesen, wie viel eine Geschichte taugt.)
Unsere Geschichten entstehen als geschriebene Entwürfe. Geschriebene Sprache ist ein anderes Medium als gesprochene, beim Erzählen jedoch ist es von Vorteil, nicht vom Blatt singen zu können, denn dadurch ist jeder gezwungen, sie sich fürs eigene Mundwerk zurechtzulegen. Für mich heißt das: erst mehrmals durchlesen und sich die entscheidenden Stationen einprägen. In der Geschichte von den „sechs Eiern, die Küken werden wollen“ beispielsweise: Die Eier liegen im Nest, kommen auf den Markt, werden verkauft, wandern in den Kühlschrank. Werden wieder herausgeholt, der Käufer richtet die Pfanne her, die Eier rollen davon, der gute Mann brät sich ein Würstchen. Am nächsten Morgen wacht er auf, die ausgeschlüpften Küken piepen, er rennt auf die Straße. Er kommt mit dem Nachbarn zurück, die Küken sind weg.
Um dieses karge Gerüst zum Leben zu bringen, brauche ich wieder einige Formeln: Im Nest, auf dem Markt, im Kühlschrank „merken die sechs Eier von nichts, sie träumen, dass sie einmal Küken werden wollen!“ Im Kühlschrank wird eines nach dem andern unsanft geweckt: „Warum ist es denn so kalt hier?“ Der Hauptspaß an der Geschichte besteht darin, dass der gute Mann nach dem Aufwachen an die warmen Plätze langt, wohin die Eier rollten und wo sie angeblich über Nacht ausgeschlüpft sind. Da diese Handlungen aufeinander aufbauen, muss ich die Reihenfolge beachten: Sockenfach, Nähkasten, Wattebeutel, Kaffeehaube, Wischtücher. Sind es schon sechs? Nein, es fehlt noch die Manteltasche, wo sich das sechste und kleinste Ei verkrochen hat, „das nämlich – auch so eine Formel – das Schlaueste ist“. Der gute Mann langt nach diesen Gegenständen, „und was hört er?“ Spätestens beim zweitenmal krähen die Kinder mit: „Piep, piep“. Der gute Mann rennt schließlich genervt auf die Straße raus: „Bei mir piept’s“.- „Deswegen brauchen Sie doch nicht so zu schreien, das wissen wir schon lange“, sagt ihm der Nachbar. Für Kinder reicht Reden allein nicht aus, sie sind anspruchsvoller, und ich muss mir auch Gesten und Spielmöglichkeiten dazu denken, die übrigens für die Herstellung der Erzählung eine ähnliche Rolle spielen wie die sprachlichen Formeln. Wenn die Eier von ihrer Zukunft träumen, sitz ich in der Hocke und lege die Hände über den Kopf, natürlich die Augen geschlossen. Wenn sie frieren, schlottere ich mit Ellenbogen und Knien mit. Um die Eier über den Tisch zu ruckeln, fordere ich die Kinder auf, mitzuruckeln, einmal über den Tisch bis zum Rand, dann über das Sofapolster zurück, bis die Eierschachtel am Boden aufspringt und die Eier davonrollen. Sie rollen tatsächlich, ich kreise mit dem Finger und kreise, bis ich unter dem Pullover eines Kindes lande. Jetzt muss ich mir allerdings merken, welches Kind Sockenfach, Wattebeutel oder Kaffeehaube war, natürlich muss ich später in der Rolle des ahnungslosen Aufstehers dorthin greifen. Kurz und gut, diese Gesten und Spielelemente machen nicht nur den Kindern meine Geschichte verständlicher und vergnüglicher, sie helfen mir auch, die Geschichte zu erzählen. Wenn man nicht ausgesprochene „Proben“ veranstaltet, braucht man diese Formeln und Gesten als Merkhilfe besonders bei den ersten Erzählungen: Es geht dann noch etwas holprig und man hangelt sich spontan formulierend und gestikulierend von einer festen Formel oder Geste zur andern. Ich muss im allgemeinen die Geschichten dreimal erzählt haben, bevor sie mir selbstverständlich im Mund und in den Händen liegen. Aber auch später trage ich keinen Wortlaut in der Tasche, sondern eben nur mein Gerüst und meinen Vorrat an Formeln und Gesten. Ich kann sie inzwischen nur souveräner handhaben, mich besser drauf verlassen, dass mir in den Löchern dazwischen schon das richtige einfällt. Gerade die Kombination mit den Gesten führt dazu, dass die Geschichte sich allmählich selbst erzählt: Gesten ziehen Sätze nach sich und Sätze die Gesten. Auch beim bewussten Geschichtenerzählen in einer halböffentlichen Situation unterscheidet sich der Prozess des Erzählens nicht wesentlich von der Wiedergabe meiner „privaten“ Schmonzette.
4.
Literaturwissenschaftler schreiben Artikel, und an den Universitäten halten sie bestenfalls „Vorlesungen“. Selbst die „Erzählforscher“ machen nicht gerade den Eindruck, als würden sie zu erzählen verstehen. Insofern ist es nicht sehr verwunderlich, angesichts der verspritzten Tinte und dem vergeblichen Scharfsinn aber dennoch bedenklich, dass weit länger als ein Jahrhundert am falschen Ende über den Ursprung epischer Dichtungstraditionen gestritten wurde, also beispielsweise der homerischen Gesänge oder der romanischen „Chansons de geste“. Wohl weiß man seit langem, dass diese und ähnliche Werke vor einem feudal-ritterlichen Publikum gesungen wurden und uns natürlich nur geschriebene Fassungen überliefert sind. Da man jedoch selbstverständlich von geschriebener Literatur ausging, wurde mit vielen Argumenten hin- und her diskutiert, ob diese Epen von einem individuellen Dichtergenie verfasst wurden und angesichts des Umfangs der Gesänge musste der Verfasser schon über ganz phänomenale Gedächtnisleistungen verfügen – oder ob sie entsprechend einer von der Romantik herkommenden Auffassung in jahrhundertelanger Bearbeitung „vom Volk“ gedichtet wurden.
Es dauerte bis in die Mitte des 20.Jahrhunderts, ehe man bemerkte, dass in einem Winkel Europas eine Tradition des epischen Vortrags am Leben geblieben war. Diese alte, mindestens bis ins 13. Jahrhundert zurück reichende Überlieferung hat sich nach einem Aufsatz von 1933 erhalten in „Bosnien und Herzegowina, in Montenegro, in einigen abgelegenen Bezirken des dalmatinischen Randgebirges, im Sandzak Novi Pazar und im südwestlichen Randgebiet des eigentlichen Serbien (. ..) In diesen Gebieten kann man auch heute noch überall dem Heldenlied begegnen. Es wird bei geselligen Zusammenkünften, im Privatkreis und im Kaffeehaus gesungen – bei den Moslims vor allem in den Nächten des Fastenmonats Ramadan; es findet dankbare und begeisterte Zuhörer bei Hochzeiten und anderen Festlichkeiten, sowie es früher z. B. eine wichtige Ausschmückung der beliebten Pferderennen bildete“ (Braun, S. 357).
Die Sänger dieser Lieder, übrigens fast ausschließlich Männer und oft sehr „ungebildete“ Leute, zeigten schier unvorstellbare Gedächtnisleistungen. Bei einem Umfang der Lieder zwischen 500 und 5000 Versen beherrschten sie oft 200 bis 300 Lieder. „Dabei sind die meisten Sänger imstande, ein neues Lied nach einmaligem Abhören zu behalten. Allerdings gilt diese Angabe bezeichnenderweise nur für die mündliche Überlieferung. Beim Lernen aus dem Buch ist nach übereinstimmender Aussage vieler Sänger immer mehrmaliges Studium erforderlich“ (Braun, S. 372).
Die leichtere Übernahme nach dem Gehör erklärt sich aus dem Verfahren, das die Sänger beim Vortrag der Gesänge anwenden. „Alle Sänger sind nämlich zugleich Improvisatoren, die den Text nicht einfach heruntersingen, sondern bis zu einem gewissen Grade jedes Mal neu schaffen. Die Mittel dazu gibt ihnen eine ganze Reihe feststehender formelhafter Ausdrücke, Bilder, Vergleiche, Redewendungen und sonstiger Darstellungstechniken, die für bestimmte Situationen ein für allemal festgelegt sind. Demselben Zweck dienen ja schließlich, wenn auch in anderer Weise (. ..) die Kompositionsschemata. Der Sänger merkt sich also im großen und ganzen nur den Gesamtablauf der Handlung, die er dann mit Hilfe dieser ihm wohlbekannten Kunstgriffe rekonstruiert“ (Braun, S. 373).
In den 50er Jahren untersuchten zwei amerikanische Gräzisten diese letzte europäische Tradition epischen Heldengesanges und fanden dabei die Lösung für die jahrhundertelang umstrittene Frage nach der Herkunft der homerischen Gesänge: Sie musste „die Arbeit vieler Dichter während vieler Generationen sein. Wenn ein Sänger zufällig eine Wendung findet, die angenehm und leicht zu verwenden ist, werden andere Sänger sie hören, und dann, wenn bei ihnen das Bedürfnis entsteht, denselben Gedanken an derselben (metrischen) Stelle in der Zeile auszudrücken, werden sie sich daran erinnern und sie verwenden. Wenn die Wendung in metrischer Hinsicht so brauchbar ist, dass sie im Lauf der Zeit die einzige und beste Weise wird, einen gewissen Gedanken in einer bestimmten Verslänge auszudrücken, und darum von einer Generation von Dichtem der nächsten übermittelt wird, dann hat sie sich einen Platz in der mündlichen Diktion als Formel erobert (. ..) Nach einer gewissen Zeit ist die nötige 1 Anzahl solcher Wendungen fertig: jeder Gedanke, der in der Dichtung ausgedrückt werden muss, hat seine Formel für jedes metrische Bedürfnis, und der Dichter, der nicht daran denkt, Gedanken außerhalb des traditionellen Gedankenfeldes der Dichtung auszudrücken, kann seine Verse leicht mit Hilfe einer altbewährten Diktion bilden“ (Parry und Lord, zitiert nach Magoun, S. 13).
Die Frage nach dem Ursprung epischer Dichtung war also nur deshalb so schwer zu beantworten, weil man keine Vorstellung von der Arbeitsweise mündlichen Vortragens hatte und sie sich selbstverständlich nach dem Muster geschriebener Literatur erklärte. Erst die Untersuchung der jugoslawischen Heldensänger machte deutlich, „dass eine mündliche Dichtung vor ihrer schriftlichen Fixierung keinen festen Text hat oder haben kann (für Schreibkundige ist das etwas schwierig zu verstehen); ihr Text wird sich, wie der Text einer mündlich zirkulierenden Anekdote, bei jedem Vortrag mehr oder weniger ändern“ (Magoun, S. 12). Und dennoch werden die Gesänge erstaunlich genau über Jahrhunderte hinweg überliefert: „Die übliche Vorstellung vom überlieferungsgetreuen mündlichen Dichter ist daher zu berichtigen: Seine Überlieferungstreue liegt im Stofflichen, nicht im Wörtlichen. Er schafft stehenden Fußes bei jedem Vortrag ein – vom lexikalischen, oft auch vom strukturellen Standpunkt aus gesehen – neues Gedicht, hält sich aber sehr bewusst an die einzig ‚richtige‘, d. h. überlieferte stoffliche Form (Bäuml, S. 240). Der Sänger kann mit Hilfe dieses Verfahrens nicht nur eine schier unvorstellbare Menge an Versen reproduzieren, er kann vor allem auch flexibel auf sein Publikum reagieren. Die „Chansons de Geste“ beispielsweise wurden von „Jongleurs“ vorgetragen, deren Publikum nicht immer aus geduldigen Hofgesellschaften bestand. Sie sangen ebenfalls auf Jahrmärkten und beherrschten als professionelle Volksunterhalter außerdem, wie ihre Berufsbezeichnung verrät, auch noch alle möglichen akrobatischen und Jonglierkünste. „Dem rezitativen Gesang haftete immer etwas Improvisiertes an; je nach Gelegenheit sang der Jongleur eine längere oder kürzere, einfachere oder ausgeschmücktere Version des gleichen Liedes“ (Köhler, S. 273).
Und das gilt in ähnlicher Weise für vergleichbare Traditionen. „Die Länge eines Liedes oder besser, die Länge einer bestimmten Aufführung (weil es keinen festen Text gibt) hängt größtenteils vom Publikum ab, von der Zeit, die ein Publikum für den Sänger bei einer bestimmten Gelegenheit übrig hat. Ein guter Sänger kann solange fortfahren, wie das Publikum ihn anhören will (. ..) Die Analogien mit musikalischer Improvisation werden offensichtlich sein“ (Magoun, S.12).
Eine Schmonzette ist kein Heldenepos, und wer Anekdötchen bietet, kein Heldensänger. Die in der „Oral Poetry“ gebräuchlichen „Erzählschablonen“ und „Erzählformen“ setzen eine für Bücherwürmer unfassbare virtuose Spontaneität und konzentrierte Gedächtnisarbeit voraus. Davon ist der Gelegenheitserzähler weiter entfernt als die fünfte Geige im Orchester von der Improvisation der Jazz- Trompete. Dennoch ähnelt das Verfahren auffallend den festen Wendungen und vorgemerkten Phasenabläufen, wie ich sie für meine Erzählereien beschrieb. Und Hand aufs Herz, ich habe die zitierten Theorien erst beim Schreiben dieses Beitrags nachgelesen und längst nachdem ich mir meine Gedanken gemacht hatte über die bescheidene Kunst, Schmonzetten zum besten zu geben.
5.
Ein offenbar sehr befähigter amerikanischer Erzähler namens Wilson Hughes, wie der Name sagt und für seine Erzählkünste bezeichnend irischer Abstammung, beginnt seine Geschichte von der „Familie, die nicht abwaschen wollte“ mit folgender Bemerkung:
„Ich weiß nicht, wann ich diese Geschichte zum erstenmal hörte, sicher schon vor 1931, als ich aufs College ging. Die Leute nannten sie die schmutzigste Geschichte der Welt. Aber so schlimm ist sie nicht, denke ich. Ich erzählte sie auch eines Abends und Bob Meighs (einer seiner Lieblingserzähler) war auch dabei. Später hörte ich sie von Bob an einem Silvesterabend erzählt. So ziemlich die gleiche Geschichte außer einem kleinen Zusatz. Ich fand diesen Zusatz so gut, dass ich ihn seitdem selbst immer benutzte, seit gut 40 Jahren. Es geht nur um die vier Worte ‚As weIl he might‘. Aber es ist eine echte Verbesserung. ‚As weIl he might'“ (Jansen, S. 297f). Man spürt, mit welchem Vergnügen Wilson Hughes auf dieser kleinen stilistischen Verbesserung herumkaut, obwohl es seiner Geschichte doch „inhaltlich“ nichts Wesentliches hinzufügte. Leider kenne ich den Wortlaut der Geschichte nicht, aber ich möchte annehmen, dass diese „Erzählformel“ mehrmals verstreut über die Erzählung auftaucht und damit den Erzählfluss „rhythmisiert“.
Hughes erwähnt diese Formel ja auch nur, weil er sie von einem geschätzten Erzähler übernommen hat, er wird über zahlreiche übernommene oder selbst gefundene Formulierungen verfügen, die den gleichen Effekt ergeben: er kann sich von einer feststehenden Formel zur nächsten hangeln, und gerade die Sicherheit, die ihm die wiederkehrenden Formeln beim Erzählen verleihen, ermöglicht zwischendurch spontan zu improvisieren, auf die Publikumsreaktionen oder auf Äußerungen einzugehen, also die Unmittelbarkeit herzustellen, die weder das Lesen noch irgendein audiovisuelles Medium erlaubt.
Für Wilson Hughes waren übrigens nur fiktive Geschichten echte Geschichten. „Das ist doch keine Geschichte“, sagt er bei einer Gelegenheit, „das ist 1951 wirklich passiert“ (Jansen, S. 295). Ich nehme fast an, dass er damit vor allem überlieferte Geschichten und damit die besser erzählbare Form meint. Nach diesem Kriterium teilt er seine Geschichten in drei Klassen ein: die „fiktiven“ Erzählungen, diejenigen, denen ein tatsächliches Ereignis zugrunde liegt, die er aber wegen des erzählerischen Effekts verändert hat, und schließlich diejenigen, die ihm erzählt wurden mit einem Glauben, den er persönlich nicht teilt. Mit der letzten Kategorie meint er beispielsweise Geistergeschichten, die er erzählt, obwohl er selbst nicht an Geister glaubt – also wohl wieder wegen des erzählerischen Effekts. Interessant ist, dass er gelegentlich selbst nicht mehr durchblickt. „Heute befinden sich manche Geschichten in einer Grauzone, wo sich Wilson nicht mehr sicher ist über das Verhältnis zwischen Wirklichkeit oder Fiktion und Fabulieren“ (Jansen, S. 295).
Die Verwirrung entsteht wohl vor allem durch das, was Wilson Hughes die „Behandlung“ (treatment) nennt. Was ich eingangs an meiner Anekdote beschrieb als Einschleifen bestimmter Formulierungen, wird von jedem geübten Erzähler schon bei der Aufbereitung seines Erzählstoffes, meist vor dem ersten Erzählen bewusst vorgenommen. Die Geschichte, der „Stoff“, muss für den Erzählstil auf die Erzählgelegenheiten und das Publikum zugeschnitten werden, ganz gleichgültig, ob es sich um eine überlieferte Erzählung handelt, ob sie aus eigenem Erleben stammt oder von anderen berichtet wurde. „Die ‚Behandlung‘ umfasst in einer oder mehreren Stufen: Schaffung von Einführungen in brauchbarer Länge und voller realistischer Details; Einführung von Dialogpassagen; eine begrenzte Anzahl Gesten; wechselnde Stimmlagen; Einfügung von Pausen; gelegentliche Verbindung von zwei oder mehr getrennten Erzählungen; Einführung von Eigennamen; Anpassung an bekannte Lokalitäten“ (Jansen, S. 297).
Der letzte Punkt ist eigentlich sehr überraschend bei einem Erzähler, der „wahre“ Begebenheiten gar nicht als Geschichten begreift und vorzugsweise überlieferte Geschichten erzählt. Mit solchen Anpassungen wird ja ein Wirklichkeitsbezug fingiert, ein weiterer Hinweis dafür, dass Hughes in erster Linie von der Erzählbarkeit und der Wirkung auf seine Hörer ausgeht. Solche Anpassungen sind ja weniger ein Wahrheitsbeweis, sie helfen der Phantasie der Hörer auf die Sprünge, indem die Geschichte in den Umkreis ihrer Wahrnehmungen eingefügt wird: Im selben Sinne konnten die Märchenerzähler mit dem Stock auf den nächsten Berg weisen und sagen: „Dort droben war es gewesen.“ Und ich möchte wieder annehmen, dass ein Erzähler wie Hughes Tatsachenberichte verändert und Handlungsorte verlegt, wenn ihm das für seine Erzählung und für sein Publikum angebracht scheint.
6.
Jede Geschichte berichtet die Erfahrungen eines Menschen, und weil er sie nicht hier und heute, sondern zu jener Zeit und weit entfernt von hier gemacht hat, ist sie erzählens- und hörenswert. Deshalb beginnt jede Geschichte damit, wann und wo sie wer erlebt hat. Und weil wir an jene erzählte Zeit und den entfernten Ort entführt werden, muss uns der Erzähler am Ende von dort wieder zurückholen auf den Erdboden, auf dem wir hier und heute stehen.
Den Einstieg zur Geschichte von der „Familie, die nicht abwaschen wollte“, bezeichnet Wilson Hughes als „Fußnote“, und gelegentlich setzt er dergleichen Fußnoten auch an den Schluss einer Geschichte. „Das passiert besonders, wenn Wilson Vermutungen über die Aussage oder die Wahrheit einer Geschichte anstellt oder wenn er vergleichende Anmerkungen machen möchte“ (Jansen, S. 298). Er tritt damit als Erzähler in der Erzählung in Erscheinung und schafft dem Hörer auf andere Weise eine Brücke, die ihn in den Phantasieraum des Erzählers führt. Wieder möchte ich annehmen, dass Einschübe und Zwischenbemerkungen vor allem in tradierten Erzählungen auftauchen, in denen der Erzähler als Person eigentlich keine Rolle spielt. Gerade deshalb macht er sich als leibhaftiger Vermittler bemerkbar.
Denn auf der Unmittelbarkeit unserer sinnlichen Erfahrung beruht, was wir glauben oder nicht glauben. Wir haben die Geschichte mit eigenen Ohren gehört, also gibt es sie. Und der Erzähler ist unser Zeuge, er hat sie nämlich selbst gehört oder gar selbst erlebt. „Es ist die Neigung der ; Erzähler, ihre Geschichte mit einer Darstellung der Umstände zu beginnen, unter denen sie selber das, was noch folgt, erfahren haben, wenn sie es nicht schlechtweg als selbsterlebt ausgeben“ (Benjamin, S. 418). „Wahre“ Geschichten sind deshalb auch bei Wilson Hughes meistens „bis zu einem gewissen Grad Erzählungen in der ersten Person, d. h. , wenn er nicht selbst eine Hauptrolle in der Geschichte spielt, mag er als Beobachter erscheinen oder als eine Person, die die Geschichte gehört hat und nun weitererzählt“ (Jansen, S. 296).
Das Märchen erzählt „formelhaft“ und „abstrakt“, damit auch noch der letzte Hörer seine eigenen Wünsche, Träume oder auch Ängste in die Hohlform der Erzählung gießen kann. Und doch beginnt es nicht im Nirgendwo und Nirgendwann. Weil es erzählt, nennt es uns immer noch, wer wann und wo was erlebt hat, natürlich auf seine Weise, formelhaft und abstrakt. Dass die Gebrüder Grimm und die meisten nachfolgenden Märchensammler dabei über das „Es war einmal. ..“ kaum hinauskamen, und höchstens noch zulassen, „zu jenen Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat. ..“, liegt an ihrer Vorstellung von der „poetischen“ Form des Märchens, der sie alle Gebrauchsspuren opferten. Die „Fußnoten“ der „Gewährsleute“ wurden säuberlich ausgebrannt, und selten genug waren diese „Gewährsleute“ ja auch aktive und geübte Erzähler, viele erzählten einfach nach, was sie irgendwo einmal gehört hatten. In neuerer Zeit gesammelte Märchentexte kennen einen ganz anderen Reichtum an „Eingangsformeln“ , wie beispielsweise in diesem türkischen Märchen:
„Es war einmal, als man auf dem Markt Zwiebeln und Knoblauch verkaufte, als der Balken meiner Waage brach, während ich nach einem schönen Mädchen schaute, die Henne wegen einer Stechmücke scharrte, der Hahn krähte und die Nachtigall ihr Mädchen pries. Du bist auf dem Zweig unter dem Dach, o wo bist du, meine Schöne! Manchmal öffnest du dich wie eine Rose, manchmal schwebst du in den Lüften. Da ist ein Märchen: Zwei Katzen sprangen, der Frosch wurde beflügelt, er ging sich eine Braut zu holen. Die Braut trat in die Laube, plumps da fiel sie ins Glas. Ein Märchen nennt man das, beim Erzählen kommt die Freude. In früherer Zeit hatte ein König. ..“ (Spieß, S. 190).
Oder ein ungarischer „Gewährsmann“, der sich nach Jahren noch Wort für Wort daran erinnert, wie sein Großvater ein bestimmtes Märchen begann: „Na hört mal alle zu (so feierlich begann er). Es war einmal sieben Länder . weit, weiter noch als das große Meer, wo man die Läuse und Flöhe mit Kupferhufeisen beschlägt, damit kein Teufel und keine Plage darüber stolpere; dort hol ich, sammle ich meine Worte aus den Falten von Weiberröcken. Über drei Truthahnschreie und Läuseschritte hinaus stand auf der Lehne des Berges Kostisch eine Pappel. Diese Pappel hatte 99 Zweige, auf dem 99sten Zweig saßen 99 Krähen. An den Stamm gebunden waren 99 Ziegenböcke. Die 99 Krähen sollen dem die Augen aushacken, und die 99 Ziegenböcke ihm den Arsch schänden, der dieses Märchen nicht anhört. Hörest du dieses Märchen nicht, dann sieh du nie des Herren Angesicht! Es war also ein König. ..“ (Degh, s. 31). Genauso wenig muss ein Märchen enden mit dem nichtssagenden „Und wenn sie nicht gestorben sind. ..“. Selbst Grimms Märchen zeigen sich in ihren Schlüssen ein wenig beweglicher. „Ich wollte, ich und du, wir wären auch dabei gewesen“, endet der König Drosselbart. (Grimm, Bd. 1, S. 300). Oder dem Erzähler, der die Bremer Stadtmusikanten ins Räuberglück setzt, ist der Mund noch warm vom langen Erzählen (Grimm, Bd. 1, S. 184). Auch hier haben uns die Grimms nur schüchterne Überbleibsel gelassen von den großspurigen Gesten, mit denen sich der Erzähler zum guten Ende wieder leibhaftig in Erscheinung bringt. „Die Hochzeit war herrlich und dauerte viele Tage lang. Und mir gaben sie ein wenig Fett, aber auf dem Weg, den ich langging, schmolz es zusammen und mit nichts kam ich heim“ (Espinosa, S. 199). Die Augen- oder Ohrenzeugenschaft des Erzählers mag so abstrakt bleiben wie in den Märchenformeln oder so offensichtlich angemaßt wie in manchen aus dem Leben gegriffenen Geschichten. „Jeder Volkskundler hat schon Volkserzähler getroffen, die offensichtlich fiktive Erzählungen in Ich-Erzählungen umbauen“ (Jansen, S. 297). Der sinnlichen Gewissheit des Hörers tut das keinen Abbruch, es bleibt ein „Wahrheitsbeweis“, der ihm gestattet, sich beruhigt auf die Erzählung einzulassen. Kaufen wir nicht den Filmemachern die abgefahrensten Phantasien ab, nur weil wir sie mit eigenen Augen sehen? Die Augenzeugenschaft muss sogar desto mehr herausgestrichen werden, je unwahrscheinlicher sie anmutet. Das Jägerlatein wird mit den eigenen Abenteuern bestritten, Münchhausen lügt sich quer durch sein bewegtes Leben, und im Gegensatz zum Märchen muss er Ort, Zeit und Umstände peinlich genau verzeichnen.
In den USA scheint die „Tall Tale“ (Aufschneidergeschichte, Münchhausiade) in der Volksüberlieferung verbreiteter zu sein als bei uns (sofern unsere Sammler sie nicht schlicht vernachlässigt haben, weil sie weder den Hauch des Poetischen hatte noch problemlos in die Schubladen passte). Von einem modernen texanischen „Aufschneider“ lese ich:
„Konkrete Einzelheiten kommen in Beschreibung und Dialog vor und sollen der Story einen Anstrich von Wirklichkeit geben“ (Mutten, S. 305). Vor allem aber kennt der Erzähler eine Art zweites Ich: „In den längeren Lügengeschichten benutzt Ed eine Erzählerperson, die in ihren Haltungen und Reaktionen der Umgebung gegenüber und in ihren Erzählungen geschlossen auftritt (. ..). Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass der Geschichtenerzähler, Ed Bell, und die Erzählerfigur nicht die gleichen sind. (. ..) Die Unschuld und Naivität der Erzählerfigur steht in direktem Gegensatz zur Absurdität der Szenen. Die Szenen sind so unglaublich, dass es schon eine total naive Person bräuchte, sie ernst zu I nehmen, und die Erzählerfigur nimmt sie für bare Münze (jedenfalls im Zusammenhang der Geschichte) .Der Hörer betrachtet die absurden Szenen durch die Augen der naiven Erzählerfigur, was einen komischen Effekt ergibt“ (Mutten, S. 310).
7.
Gelegenheit macht nicht nur Diebe. Wer ein Erzähler werden will, braucht die Gelegenheit, erzählen zu hören. Und wo er selbst erzählt, muss er so erzählen lernen, dass er seinen Zuhörern gelegen kommt. Aus dem Gespür für die passende Erzählung zur passenden Gelegenheit entstehen die Gattungen, was von Erzählforschern kaum bemerkt worden ist, denen nichts ferner lag als selbst zu erzählen. Die frisch gesammelten Erzählungen des „Volkes“ wurden seit Grimms Zeiten säuberlich sortiert, und die dafür vorgesehenen Fächer trugen die Aufschriften: Märchen, Sage, Schwank, Memorat usw. Nur nebenbei bemerkte man, dass die Ausgeforschten mit solchen Unterscheidungen nichts anzufangen wussten: Sie erzählten „Erzählstücke“ oder „Vertellsels“, die eben je nach Gelegenheit länger oder kürzer, zauberhafter oder scherzhafter ausfielen. Die Gattungen, von den Erzählforschern als vor allem Erzählen existente wesenhafte Form verstanden, sind nichts weiter als oft hilflos wirkende Versuche, den Reichtum volkstümlichen Erzählens, der im 19. und 20. Jahrhundert gerade noch im Moment des Verschwindens gesammelt wurde, in Kategorien zu ordnen. Die Landbevölkerung, der die „Volkserzählungen“ abgelauscht sind, erzählte am Feierabend und nach einem schweren Arbeitstag, oder zur Begleitung einfacher, eintöniger Arbeiten. Das bedeutete kurze, leicht fassbare Geschichten, nicht mehr bandwurmlange Heldenepen, wie sie die fahrenden Heldensänger des Mittelalters auf den Ritterburgen vortrugen. Die alten Stoffe und Gesänge wurden dafür zerstückelt, und aus den Bruchstücken wurden Märchen von Drachentötern und Prinzessinnen, von Riesen und tapferen Königen gearbeitet. Ebenso wurden die frühbürgerlichen Unterhaltungsromane geplündert, um vom „Wunschhütchen“ zu erzählen, oder vom „Säckel“, der niemals leer wird. Denn die Gelegenheit machte die Erzähler eben auch zu Dieben, die sich hemmungslos bedienten in den Literaturen und Traditionen aller Zeiten, die ihnen greifbar waren, ohne sich um Motivketten zu kümmern oder nach dem Alter der Bausteine zu fragen, die sie sich aus den Steinbrüchen der Vergangenheit brachen.
Das „Wesen“ literaturwissenschaftlicher Gattungen wird vorsichtshalber „idealtypisch“ verstanden, man darf nicht erwarten, sie in der rauen Wirklichkeit anzutreffen, es sei denn als Mischform und Zwitter. Daher lässt sich die Forschung auch nicht beirren, wenn manche Brocken auffallend quer zu den Schubladen liegen. Schon als die Brüder Grimm die erste Sammlung irischer Volkserzählungen (1825 von Thomas Crofton Croker herausgegeben) ins Deutsche übersetzten, waren sie sich nicht schlüssig, womit sie es zu tun hatten. Eigentlich entsprachen sie nicht der postulierten Form des Märchens, sie erklärten sie zu „Sagen, in die bäuerliche Berichte von Geisterwesen göttlicher Abstammung, welche aus alten Mythologien herrührten, eingesprengt seien“ (Hetman, S. 9). Schließlich aber betitelten sie den Band dennoch als „irische Elfenmärchen“.
Der Grund: In Irland wurde anders erzählt. Auf kargen Böden, wo obendrein alle Arbeitsanstrengung nur den englischen Herren zugute kam, die ausschließlich der Ertrag ihrer immensen Schafherden interessierte, konnte Arbeitsamkeit nie zu einer Tugend werden. Erzählt wurde nicht nur in der kurzen Spanne zwischen Dämmerung und Einnicken. „Sie teilten die Nacht in drei Teile“, heißt es in einem irischen Märchen, „zuerst erzählten sie Geschichten, dann ‚Fiannaiocht‘, und während des letzten Drittels schliefen sie ruhig und fest bis zum Morgen“ (Hetman, S.74). Und das war offenbar keine märchenhafte Übertreibung: „Geschichten wurden in der Regel nachts und am winterlichen Feuer erzählt, und zwar vom Ende des Herbstes bis Mitte März“ (Delargy, S. 181). Wo es nächtelang am Torffeuer ausharrende Hörer gab, fanden sich auch Erzähler, die nächtelang erzählen konnten: „In Ibh Rathach, Süd-Kerry, hörte ich von einem Bettler, der sieben Nächte brauchte, um eine Geschichte zu erzählen“, berichtet noch 1945 ein irischer Märchensammler. Aber auch die durchschnittlicheren Erzähler brachten es oft auf Geschichten, die Stunden dauerten. Wer stundenlang erzählt, der kann sich kaum mehr an den „abstrakten Stil“ oder die „Flächenhaftigkeit“ halten, die ihm die Märchenforschung als Wesensmerkmale der Gattung empfiehlt, und wird sich an der Wesensgestalt des europäischen Volksmärchens versündigen müssen. Die irischen „Märchen“ kennen romanhaft verschlungene Handlungen, mehrsträngige und ineinander geschachtelte Heldenepisoden und sogar ausufernde liebevolle Beschreibungen, wie sie spätmittelalterliche Spielmannsepen oder frühbürgerliche Romane kennzeichnen, beides (wie die irischen Märchen) für ein neues Publikum verkitschte Heldenepen.
Dass aber die irischen Erzähler die alten Epenstoffe nicht in die knappen „Volkserzählungen“ aufsplitterten, wie fast überall sonst in Europa, und dass sie für ihre Mammuterzählungen vor dem Torffeuer nächtelang ausharrende Zuhörer fanden, hat schließlich einen historischen Grund: Sie erzählten die Geschichten von alten irischen Kämpfern und ihrer Tapferkeit (zu denen auch die erwähnten „Fiannaiocht“ gehören) und erzählten damit immer auch gegen die neuen englischen Herren. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass vor allem im Schutze der Dunkelheit und ganze Winternächte hindurch erzählt wurde.
8.
Hören hat seine eigenen Gesetze. Der Leser konzentriert sich, schaltet ab und verliert sich in seine Lektüre. Nicht nur der Leser eines Romans ist bereit, „ihn gewissermaßen zu verschlingen“. (Benjamin, S. 247). Hörer machen eher den Eindruck der Zerstreutheit, ziellos herumblickend, mit den Zehen im Sand malend, mit den Stricknadeln klappend und dennoch lauschend. Gerade die mechanischen Arbeiten, wo sie noch einem biologischen Zeitmaß gehorchen, setzen den Kopf frei fürs Zuhören. Und darum spricht Walter Benjamin von der Langeweile als dem „Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet. Seine Nester – die Tätigkeiten, die sich innig mit Langeweile verbinden – sind in den Städten schon ausgestorben, verfallen auch auf dem Lande. Damit verliert sich die Gabe des Lauschens und es verschwindet die Gemeinschaft der Lauschenden“ (Benjamin, S. 417). Die letzten, die sich anständigerweise noch langweilen dürfen – jedenfalls gelegentlich -, sind darum auch das letzte verlässliche Publikum des Erzählers: die Kinder.
Die verbreitete Verwechslung von Lesen und Hören gipfelt in dein .Satz, mit dem schon die Kindergärtnerin die notorisch motorischen Rabauken in Schach hält: „Man muss auch einmal lernen zuzuhören!“ Wenn sie auf der Erzieherfachschule noch erzählen gelernt hat, hat sie ebenfalls gelernt, mit den Kindern stets Blickkontakt zu halten, wie der Dompteur mit den gezähmten Bestien. Erzählen nach Lehrplan hat die „Hinführung zum guten Buch“ im Hinterkopf, wer aber ein Leser werden soll, muss bei Zeiten lernen, sich zu konzentrieren. Und er wird dabei verlernen, mit allen fünf Sinnen zu hören.
Aus dem Leser soll ein Schreiber werden und kein Erzähler. In den Schulaufsätzen setzt der Lehrer ein großes „W“ an den Rand für störende Wiederholung, denn Stil heißt, die bunten Herbstblätter im Stimmungsbild mit immer neuen Worten zu beschreiben, Wiederholung ist „Klischee“. Aber so schnell schreibt kein Rotstift, wie die Sprache spricht, sie darf sich hemmungslos wiederholen und wir finden sie nicht einmal störend. Denn sie spricht „redundant“ für den Fall, dass uns ein Augenblick ablenkt und damit uns der Faden dennoch nicht verloren geht. Darum geht es den Erzählern auch nicht wie manchen Dichtern, die bekanntlich riskieren, verkannt zu werden und zu Lebzeiten unverstanden zu bleiben.
Auch geübte Erzähler reden nicht wie du und ich und machen sich doch verständlich: Sie wiederholen sich so oft, bis es selbst der Lümmel auf der letzten Bank noch mitgekriegt hat. „Der Nachdruck bei den Wiederholungen in mündlicher Literatur hat seinen guten Sinn. Mündliche Dichtung ist – wie alles, was mündlich vermittelt wird notwendigerweise sehr flüchtig. Einmal geäußert, kann es – innerhalb der laufenden Erzählung jedenfalls – nicht zurückgeholt werden. Wiederholung hat unter diesen Umständen eine wichtige Aufgabe: es erleichtert den Zuhörern, aufzunehmen, was gesagt wurde, und gibt dem Erzähler/Sänger die Zuversicht, dass sie die Botschaft verstanden haben, die er mitzuteilen versucht“ (Finnegan, S. 129).
Die wiederkehrenden „Klischee“ und die variablen, im Erzählen verschiebbaren „Versatzstücke“ der Handlung steuern nicht nur das Erzählen, sie organisieren auch das Hören, und das desto mehr, je komplexer erzählt wird. Es trifft nicht nur, aber eben besonders auf die ausgeprägteste und kunstvollste Erzählform, die Heldenepik, zu, „dass genau wie für den mündlichen Dichter Formeln und Schablonen die notwendigen Bausteine für den Ausdruck von Ideen sind, diese vom mündlichen Publikum nur – oder am schnellsten, klarsten – in Gestalt von bekannten, gewohnten Formeln und Schablonen empfangen werden können“ (Bäuml, S.. 246).
Eine Ahnung davon haben auch die Quasselstrippen, die im Rundfunk die Magazinsendungen „moderieren“, wenn sie mit Gemeinplätzen, faulen Scherzen und abgegriffenen Redensarten um sich werfen. Und dennoch behält die Hausfrau, die zum Abwasch oder Bügeln das Radio anstellt, kaum mehr ein Wort davon. Weil auch der Rundfunksprecher, noch wo er live redet und Originalton reinschneidet, lügt wie gedruckt. Am auffälligsten in den sogenannten Kommentaren, wo es von verräterischen Wörtern „nachgerade“ wimmelt, auch das ein seltsam verqueres Sprechwort. Die Kunst der Moderation ist es, den Anschein persönlicher Rede zu erzeugen und den Hörer doch mit Propaganda abzuspeisen statt mit erzählter Erfahrung. Der Hörer wird mit einem Tonfall gefüttert und um die Erscheinung des leibhaftigen Erzählers betrogen. Und das ist nicht ein Problem der technischen Kommunikationsvermittlung:
Der Moderator erzählt uns nicht seine Geschichten, er tut seinen Job, wie es das Programmschema diktiert und um die Zeit totzuschlagen, die seine Hörer nicht mehr haben. Auch wer eine Geschichte vom Hörensagen erzählt, erzählt sie mit den eigenen Worten, den eigenen Gesten, dem eigenen Gesicht und dem eigenen Körper: Die Geschichte wird erfahrbar und darum wirklich. Und wer die Geschichte mit eigenen Ohren hört und mit eigenen Augen erzählen sieht, glaubt sie ihm in aller Naivität und bis aufs Wörtchen. Der Rundfunksprecher fährt ewig durch die Einbahnstraße, da hilft keine Telefondiskussion und keine Konferenzschaltung. Das naive Hören ist, wo der Erzähler mit allen Sinnen greifbar bleibt, von vornherein „Zweiwegkommunikation“. Eine „Urform“ der Erzählgemeinschaft ist das Reihumerzählen bis hin zum Erzählwettstreit. Nach einer Erzählung fallen Kinder leicht „spontan“ ins Erzählen, denn: „Was du kannst, das kann ich auch“
Die Wechselseitigkeit der Mitteilung ist schließlich das Geheimnis der erstaunlichen Überlieferungstreue mündlicher Erzählungen. „Man hat sich selten Rechenschaft darüber abgelegt, dass das naive Verhältnis des Hörers zu dem Erzähler von dem Interesse, das Erzählte zu behalten, beherrscht wird. Der Angelpunkt für den unbefangenen Zuhörer ist, der Möglichkeit der Wiedergabe sich zu versichern“ (Benjamin, -S. 424). Es sind die verachteten „Klischees“, die feststehenden Formeln, die wiederkehrenden Ausdrücke, deren er sich am ehesten versichert und die die übrige Erzählung hinter sich herziehen wie die Angelschnur den Fisch.
9.
Alles Erzählen geht davon aus, dass einer etwas zu erzählen hat, und darum besitzt nur, wer Erfahrungen macht, dieses „Vermögen, Erfahrungen auszutauschen“ (Benjamin, S. 409). Erzählenswerte Erfahrungen aber sind nicht um die Ecke zu machen. „Wenn einer eine Reise macht, dann kann er was erzählen, sagt der Volksmund und denkt sich den Erzähler als einen, der von weither kommt. Aber nicht weniger gern hört man dem zu, der, redlich sich nährend, im Lande geblieben ist und dessen Geschichten und Überlieferungen kennt“ (Benjamin, S. 410). Längst ist der traditionelle Erzähler, von dem Benjamin redet, eine archaische Figur geworden. Bevor ihm einer hätte erzählen können, findet sich der Volksmund mit Informationen gefüttert, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Erzählt werden allenfalls noch die kleinen „privaten“ Ereignisse und selbst da entdecken wir oft genug die Machart der Herren, die dem Volk unablässig aufs Maul schauen, um es besser zu stopfen. Doch obwohl wir rundum informiert werden auf allen verfügbaren Kanälen, erfahren wir merkwürdig wenig. Die Bilder von ausgemergelten Verhungernden kosten uns nach dem ersten Schreck nur noch ein Achselzucken, die Verbrechen in EI Salvador erregen vielleicht unsere intellektuelle Einsicht, der Krieg in Afghanistan lässt uns erschreckend kalt. Bis wir vielleicht auf einen treffen, der zwischen die fronten geraten ist und davon erzählen kann.
„Das kommt, weil uns keine Begebenheit mehr erreicht, die nicht mit Erklärungen schon durchsetzt wäre“ (Benjamin 2, S. 415). Informationen geben vor, uns die Welt und ihre tieferen Zusammenhänge zu erklären, und doch können wir den Informanten nicht fassen hinter dem „objektiven“ Gehalt der Nachricht. Es ist wie in den Gerichtsprozessen, in denen die Herren vom Geheimdienst keine Aussagegenehmigung erhalten, und dennoch liegen „Erkenntnisse“ vor.
Erzähler brauchen nicht um ihre Glaubwürdigkeit zu bangen und können sich darum Erklärungen sparen. Informationen entbehren dieser sinnlichen Glaubhaftigkeit und müssen uns mit Erklärungen überreden, die den Wahrheitsbeweis mit ihrer Genauigkeit liefern möchten, sprachlich mit ihrer Differenziertheit. Mag sich der Erzähler in Formeln und Klischees ergehen, er bleibt dennoch leibhaftig und damit vertrauenswürdig. Ja es sind sogar die gängigen Münzen der Formeln und wiederkehrenden Wendungen, die dem Hörer den Griff nach dem Erzählten erleichtern, und die ihm ermöglichen, die eigene Erfahrung mit der des Erzählers zu verbinden. Die Erfahrung des Erzählers wird zur erzählbaren Erfahrung des Hörers.
Literatur
- Franz H. Bäuml: Der Übergang mündlicher zur Artes-bestimmten Literatur des Mittelalters, in: Voorwinden/de Haan: Oral Poetry, Darmstadt 1979 .
- Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows., in: Walter Benjamin: Illuminationen, Frankfurt 1961
- Maximilian Braun: Die serbokroatische Volksepik, in: Klaus v. See: Europäische Heldendichtung, Darmstadt 1978
- Linda Degh: Latenz und Aufleben des Märchengutes einer Gemeinschaft. Rhein. Jahrbuch für Volkskunde 10/1959
- J. H. Delargy: The Gaelic Storyteller, in: Proceedings of the British Academy 31, London 1945
- Aurelio M. Espinosa: Cuentos populares espanoles, New York 1967
- Ruth Finnegan: Oral Poetry, Cambridge 1977
- Gebrüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, Frankfurt 1975, Bd. 1-3 (InseI Taschenbücher)
- Frederik Hetman: Irische Märchen, Frankfurt 1971
- William Hugh Jansen: A Narrator: His Repertoire in Memory and Performance, Studia Fennica 20, Helsinkl1976
- Erich Köhler: Der mündliche Charakter der Chanson de Geste, in: Klaus v. See, a.a.O.
- Francis Magoun: Der formelhaft-mündliche Charakter angelsächsischer epischer Dichtung, in: Voorwinden/de Haan, a. a. 0.
- Patrick B. Mullen: The Tall Tale Story of a Texas Raconteur, in: Studia Fennica 20, Helsinki 1976
- Otto Spieß: Türkische Volksmärchen. Düsseldorf/Köln 1967
(Zuerst erschienen in:
Johannes Merkel/ Michael Nagel (Hg.): Erzählen – die Wiederentdeckung einer vergessenen Kunst, Reinbek 1982, s.104-125)