Johannes Merkel

Unse­re Erin­ne­rung ist ein Sack vol­ler Geschich­ten, auf Schritt und Tritt schlei­chen sie sich in unse­re Unter­hal­tun­gen ein. Auch noch im über­fro­re­nen Schnee­matsch berg­ab schlit­ternd, wo von Schrei­ten nicht mehr die Rede sein kann und der nächs­te Tritt droht, uns auf dem Hosen­bo­den den Abhang hinunterzuschicken.

„So einen Berg run­ter muss ich immer an eine Freun­din den­ken, die war mit ihrer Fami­lie im Harz, vier Kin­der und die Eltern. Und der klei­ne Bru­der ist los­ge­lau­fen, erst aus Spaß und konn­te nicht mehr brem­sen und schreit, dass er nicht mehr brem­sen kann. Da läuft der nächs­te los, um ihn zu hal­ten, und kann auch nicht mehr brem­sen, erst die Kin­der, dann Vater und Mut­ter. Wie es aus­ge­gan­gen ist, weiß ich nicht, nur dass der klei­ne Bru­der vor einen Baum geknallt ist. Wo die andern gelan­det sind, weiß ich nicht.“ Schon in der Schu­le haben wir gelernt, nicht alles mit „und und und“ zu ver­kleis­tern, und ein Erzäh­ler, der nicht recht weiß, wovon er redet, macht eine reich­lich schlech­te Figur. Aber was soll er machen, wenn er es tat­säch­lich nicht weiß? Soll er es sich lie­ber aus den Fin­gern sau­gen, um Ein­druck zu schinden?

Die Wahr­heit und nichts als die Wahr­heit ödet selbst Staats­an­wäl­te und Rich­ter an. Inter­es­sant wird es immer erst dann, wenn einer flun­kert. Wer sei­ne Aus­flüch­te nur in aus­ufern­de Erzäh­lun­gen ein­klei­det, kriegt zwar leicht zu hören: Erzäh­len Sie uns doch kei­ne Geschich­ten! Aber sogar die Her­ren Juris­ten las­sen sich zu einem Schmun­zeln hin­rei­ßen, soweit es die Wür­de des Hohen Gerichts nicht ver­letzt. Eine Chan­ce, unge­scho­ren davon­zu­kom­men, hat am ehes­ten, wer so zu erzäh­len ver­steht, dass er damit sogar sich selbst über­zeugt und Stein und Bein schwört, es sei eben die Wahr­heit und nichts als die Wahrheit.

Sich schon beim ers­ten Erzäh­len selbst und rest­los zu über­zeu­gen, deu­tet auf ein außer­ge­wöhn­li­ches Talent hin, und es ist ein Jam­mer, wenn sol­che Gaben in Gerichts­sä­len ver­küm­mern. Ein Durch­schnitts­be­gab­ter über­zeugt sich von der Wahr­heit des Erzähl­ten erst durch wie­der­hol­tes Erzäh­len: Fast unmerk­lich schlei­chen sich sti­lis­ti­sche Ver­bes­se­run­gen ein, klei­ne Über­trei­bun­gen, natür­lich nur, um das sicht­li­che Ver­gnü­gen der Zuhö­rer zu stei­gern, Umstel­lun­gen, um den Ablauf der Sache bes­ser nach­er­leb­bar zu machen. Und wenn uns dabei auch ein biss­chen Flun­kern unter­läuft, wir glau­ben immer noch, unse­re Ver­bes­se­run­gen säu­ber­lich davon unter­schei­den zu kön­nen, was tat­säch­lich ein­mal pas­siert ist. Lügen haben kur­ze Bei­ne, aber mit hin­rei­ßend zusam­men­ge­flun­ker­ten Geschich­ten kom­men wir ziem­lich weit, und schon des­we­gen muss es sich um etwas ganz ande­res han­deln. Denn mit dem Abstand der Zeit, und je öfter wir eine Geschich­te zum bes­ten geben, des­to mehr schwin­det unser Bewusst­sein davon „wie es wirk­lich war“ und alles war wirk­lich so gewe­sen, wie wir es am schöns­ten erzäh­len konn­ten. So schön erzäh­len lässt sich’s eben des­halb, weil wir inzwi­schen fel­sen­fest dran glau­ben müs­sen. Wie­der hat eine Geschich­te unse­re Ver­gan­gen­heit bewäl­tigt. Denn wir erin­nern nur, was wir erzäh­len kön­nen, und wir erin­nern es so genau, wie wir es erzählen.

2.

Auch mei­ne Geschich­te ist aus dem Leben gegrif­fen, und doch möch­te ich für sie nicht gera­de ste­hen: Ich habe sie schon zu oft erzählt, schließ­lich ist sie vor gut fünf­zehn Jah­ren pas­siert und natür­lich Wort für Wort so, wie ich sie erzähle.

Erst woll­te ich die Geschich­te nie­der­schrei­ben, wie ich sie oft erzählt habe, und dabei merk­te ich, dass ich für die­se Geschich­te kei­nen fes­ten Wort­laut habe, den ich auf­schrei­ben könn­te. Ich habe einen guten Korb von For­mu­lie­run­gen, die ich mir nach Bedarf her­aus­fi­sche und zu mei­ner Geschich­te zusam­men­set­ze. Wäre ich mein eige­ner Erzähl­for­scher, wür­de ich mir ein Test­pu­bli­kum suchen und das Band mit­lau­fen las­sen, und der Leser dürf­te noch jedes ver­le­ge­ne „Äh“ säu­ber­lich tran­skri­biert nach­voll­zie­hen. Ich wäre dann empi­risch abge­si­chert, aber mei­ne Geschich­te, mit der ich oft genug die Lacher auf mei­ne Sei­te brach­te, bräch­te nur noch ein Gäh­nen zuwege.

Ich fürch­te sowie­so schon, dass sie beim Auf­schrei­ben in sich zusam­men­schnurrt wie ein ange­sto­che­ner Luft­bal­lon. Offen gestan­den hat sie nicht ein­mal eine ech­te Poin­te, wie man sie noch von der Humor­sei­te der „Bäcker­blu­me“ erwar­ten darf. Es geht mit ihr ein biss­chen wie mit jener Sor­te von Kin­der­wit­zen, deren Witz oft nur dar­in besteht, ein ein­zi­ges unge­hö­ri­ges Wört­chen am Mit­tags­tisch zu plat­zie­ren, und schon schüt­teln sich die Kin­der aus vor Lachen. Den Erwach­se­nen ent­lockt dann allen­falls die halt­lo­se Hei­ter­keit der Kin­der ein nach­sich­ti­ges Lächeln. Also schlicht und ein­fach: Mei­ne Geschich­te lebt nur von einer halb­wegs komi­schen Situa­ti­on, und der gan­ze Witz besteht dar­in, sie leben­dig zu machen. Aber gera­de weil sie als Geschich­te nicht das Gel­be vom Ei ist, passt sie mir hier so gut in den Kram. Ich über­le­ge, wo ich die­se beschei­de­ne Geschich­te anbrin­gen konn­te, und mir fal­len ver­schie­de­ne Wohn­ge­mein­schafts­kü­chen ein, natür­lich auch eini­ge Knei­pen, ein Zug­ab­teil und eine Lie­ge­wie­se im Schwimm­bad. Ein Stich­wort, z. B. Schau­spie­ler­al­lü­ren, oder wenn in einer Run­de komi­sche Erleb­nis­se aus­ge­tauscht wer­den. Ein kri­ti­scher Blick, der erkun­det, ob die Geschich­te ange­bracht ist und die nöti­ge Auf­merk­sam­keit erwar­tet wer­den kann, schließ­lich will man nicht zu den Figu­ren gehö­ren, die Wild­frem­de im Zug­ab­teil oder am Knei­pen­t­re­sen mit ihren Scho­ten ner­ven. Eine gewis­se Unsi­cher­heit bleibt trotz­dem und erst nach den ers­ten Sät­zen zeigt sich, ob die Geschich­te greift oder in die Hose geht.

Die Erzähl­for­schung wür­de mei­ne Geschich­te unter „All­tags­er­zäh­lun­gen“ abhef­ten, tat­säch­lich erzäh­le ich sie ja auch nicht beim Vor­trags­abend im Kam­mer­thea­ter, kann also nicht vor den Vor­hang tre­ten und abwar­ten, bis man eine Steck­na­del fal­len hör­te, um dann mei­ne Zuhö­rer mit dem Kopf vor­an in mei­ne Geschich­te zu sto­ßen. Ich bin gezwun­gen, erst ein­mal die Zusam­men­hän­ge klar­zu­stel­len, den Anlass, der zum geschil­der­ten Erleb­nis führ­te. „Ja frü­her, in den Sech­zi­gern bin ich auch wie ein Depp ins Thea­ter gerannt“. Und um zu illus­trie­ren, wie weit der Fana­tis­mus reich­te: „Ich hat­te einen Freund, der als BMW-Ver­käu­fer jobb­te und immer einen schnel­len Schlit­ten zur Hand hat­te“. (Hier ist ein Ein­schub mög­lich über die vie­len Jobs die­ses Freun­des, die vom Schrott­händ­ler bis zum Theo­lo­gen und zum bestall­ten Leh­rer rei­chen, der nach jah­re­lan­gem Pro­zes­sie­ren aus der Schu­le fliegt, weil er mit einer Kol­le­gin im Schul­land­heim im glei­chen Zim­mer näch­tig­te.) „Und wir, von Frei­burg aus abends kurz nach Stutt­gart oder Zürich ins Thea­ter geprescht, Urauf­füh­rung von Dür­ren­matts ‚Phy­si­kern‘ und so, und gleich am Abend wie­der zurück“.(Mögliche Erwei­te­rung, um noch­mals den Fana­tis­mus zu unter­strei­chen: „Auto­bahn gab’s damals nach Zürich noch nicht, 160 Kilo­me­ter über die Landstraße“.)

Erst nach die­sen Vor­in­for­ma­tio­nen, die sie als wahr und erlebt aus­wei­sen, folgt die eigent­li­che Ein­lei­tung der Geschich­te: „Mein Freund hat­te im Jahr zuvor als Regie­as­sis­tent, Last­wa­gen­fah­rer und Mäd­chen für alles (auch hier ist gege­be­nen­falls der Ein­schub über sei­ne Jobs mög­lich) bei der Wan­der­büh­ne ‚Rou­lot­te‘ gear­bei­tet“ (je nach Publi­kum wer­den, die tat­säch­li­chen Namen der Büh­ne und der Haupt­per­so­nen genannt oder ver­schwie­gen. Hier wer­den sie natür­lich ver­schwie­gen, schon weil ich mei­ne Geschich­te vor jedem juris­ti­schen Wahr­heits­be­weis bewah­ren möch­te). „Gut, also die ‚Rou­lot­te‘ wur­de von R. V. gelei­tet, der damals mit der ja satt­sam bekann­ten S. M. ver­hei­ra­tet war“. (Ich mache dar­auf auf­merk­sam, dass mich die Schrei­be schon längst ein­ge­holt hat, „satt­sam bekannt“ habe ich beim Erzäh­len nie­mals gebraucht, kann es aber pro­blem­los hin­schrei­ben.) „“Die ‚Rou­lot­te‘ gas­tier­te im Frei­bur­ger Stadt­thea­ter und S. M. gab die ‚Kame­li­en­da­me‘. Wir stie­fel­ten hin­ter­her in die Thea­ter­gar­de­ro­be, und dann im Schlepp­tau von S. M. mit den Schau­spie­lern in die Knei­pe. S. M. steu­er­te natür­lich stan­tepe­de (hät­te ich auch nie erzählt) auf den ‚Rap­pen‘ zu“ (Für Orts­un­kun­di­ge, die das Arse­nal Pla­ket­ten am Hotel­ein­gang nicht ken­nen, folgt eine Erläu­te­rung, war­um sie „natür­lich“ zum „Rap­pen“ stiefelt. )

Und erst jetzt kann sich der Vor­hang öff­nen zur eigent­li­chen Geschich­te: „S. M. stürmt ins Lokal: Alle Tische besetzt bis auf einen, gleich rechts um die Ecke, ein lan­ger gescheu­er­ter Tisch, so eine Art Stamm­tisch, an dem ein ein­zel­ner älte­rer Herr sitzt und trü­be in sein Wein­glas stiert. S. M. stürzt auf ihn zu. ‚Brau­chen sie viel­leicht allein einen gan­zen Tisch? Ich kom­me mit einer gan­zen Gesell­schaft und sie kön­nen sich doch grad­so­gut noch woan­ders mit dran­set­zen‘. Der alte Herr zieht die Schul­tern ein, ja, das könn­te er ganz sicher. Steht auf, nimmt sein Wein­glas in die Hand, geht an den Neben­tisch und fragt, ob er sich viel­leicht noch dazu­set­zen dürf­te und ob denn wirk­lich auch noch Platz wäre, und er nicht stört. Dann setzt er sich und stiert wie­der in sein Glas. S. M. schält sich aus ihrem Pelz, setzt sich oben an den Tisch, wir alle set­zen uns drum rum.

Die Bedie­nung kommt an den Tisch, legt die Hand an den Mund und flüs­tert: ‚Wisset’s au, wer der Herr g’wese isch? Prinz Lou­is Fer­di­nand von Hohen­zol­lern, der deut­sche Kai­ser!‘ S. M. erbleicht. Sie flüs­tert einen Moment mit der Bedie­nung, die bringt ihr dar­auf­hin Schreib­zeug und Papier. Und dann schrieb sie dem deut­schen Kai­ser am Neben­tisch einen Brief. Es täte ihr ja sehr leid, schrieb sie, aber sie konn­te ja nicht ahnen, wen sie vor sich hat­te. Sie wäre ja die aus Film und Fern­se­hen nicht ganz unbe­kann­te S. M., und sie wür­de sich ja rie­sig freu­en, falls er an den Tisch zurück­keh­ren wür­de. Sie fal­tet den Brief zusam­men, steckt ihn ins Kuvert, und die Bedie­nung über­reicht ihn auf einem sil­ber­nen Tablett dem deut­schen Kai­ser am Neben­tisch. Der Kai­ser stu­dier­te das Schrei­ben lan­ge und gründ­lich. Dann, nach viel­leicht einer hal­ben Stun­de, lässt er sich auch Papier und Schreib­zeug brin­gen und ver­fasst die Ant­wort, die auf dem sil­ber­nen Tablett der Bedie­nung an unse­ren Tisch wandert.

Er hät­te schon den gan­zen Tag über mit dem Land­rat wegen irgend­wel­cher Wal­dun­gen ver­han­delt, schrieb der deut­sche Kai­ser, und jetzt sei er red­lich müde. Außer­dem hät­te er schon drei­mal einen Schlag­an­fall gehabt, und hät­te nur noch das Bedürf­nis, in aller Ruhe sein Glas Wein zu trin­ken. Im übri­gen wür­de er sie lei­der nicht ken­nen, aber er wünscht ihr noch einen recht schö­nen Abend“.

Ja und, das soll alles sein? Ich habe doch gesagt, dass sie kei­ne Poin­te hat und auf­ge­schrie­ben sowie­so nicht wirkt. Beim Erzäh­len kann ich mir wenigs­tens noch einen ehren­haf­ten Abgang ver­schaf­fen mit dem Satz: „Ich weiß ja nicht, ob der alte Mann heu­te noch lebt, er wirk­te ja damals schon reich­lich gebrech­lich“. Ich bin bereit, alle Eide zu schwö­ren, dass ich die­se Geschich­te erlebt habe, ich sehe den gescheu­er­ten Tisch in der Ecke und den ein­ge­schüch­ter­ten alten Mann am Neben­tisch, „als ob es ges­tern gewe­sen wäre“. Den­noch möch­te ich für kei­ne Ein­zel­heit die Hand ins Feu­er legen. Ich bin nicht ein­mal sicher, ob der dama­li­ge Kron­prä­ten­dent der Hohen­zol­lern Lou­is Fer­di­nand hieß, und ich habe auch kei­nen Anlass, das nach­zu­prü­fen. Als ich etwa zehn Jah­re nach die­ser Epi­so­de den erwähn­ten Freund frag­te, konn­te er sich nur noch dun­kel dar­an erin­nern, aus dem ein­fa­chen Grund: Ich hat­te eine Geschich­te erzählt, er nicht. Es ist mir auch gleich­gül­tig, ob die Geschich­te „wirk­lich“ so pas­siert ist, mich inter­es­siert, wie ich zu die­ser Geschich­te kom­me und war­um sie zum Erzäh­len taugt und auf­ge­schrie­ben kaum ein müdes Lächeln ent­lockt. Ich glau­be mich zu erin­nern, dass der unschein­ba­re Herr aus dem Hoch­adel sich nicht genau an den Neben­tisch setz­te, son­dern eini­ge Tische wei­ter. Aber die For­mu­lie­rung vom deut­schen Kai­ser am Neben­tisch ist mir so geläu­fig, dass ich sie auto­ma­tisch ver­wen­de, wahr­schein­lich, weil das die Vor­stel­lung asso­zi­ie­ren lässt, die Brief­schrei­ber säßen Rücken an Rücken und das Brief­lein-Schrei­ben dadurch absur­der wird.

Ich las­se auch stets die Bedie­nung mit badi­schem Anklang reden, bin mir aber gar nicht sicher, ob es eine Ein­hei­mi­sche war, mög­li­cher­wei­se tut sie das nur zur Ver­stär­kung des Lokal­ko­lo­rits. Auch weiß ich nicht, ob die Schau­spie­le­rin tat­säch­lich schrieb, sie sei die „aus Film und Fern­se­hen ja auch nicht unbe­kann­te S. M.“, obwohl ich es immer so erzählt habe und drauf bestehen möch­te, dass sie ihren Film- und Fern­seh­ruhm erwähn­te. Wohin ich mich auch wen­de, ich sto­ße über­all auf For­mu­lie­run­gen, die ihre Exis­tenz mehr „ästhe­ti­schen“ Kate­go­rien, ihrer Wirk­sam­keit und Hand­hab­bar­keit im Pro­zess des Erzäh­lens als ihrem Wahr­heits­ge­halt ver­dan­ken und die sich doch in immer neu­en Kom­bi­na­tio­nen zu mei­ner Geschich­te zusam­men­fü­gen. Ich brau­che kei­ne Ton­band­auf­nah­men aus­zu­wer­ten, um zu wis­sen: Ich erzäh­le sie nie haar­ge­nau im glei­chen Wortlaut.

Aller­dings beach­te ich eine bestimm­te Rei­hen­fol­ge: Vor­in­for­ma­tio­nen und Ein­stieg sind je nach Zusam­men­set­zung der Hörer sehr unter­schied­lich, dann aber folgt auf den Ein­tritt in das gut besuch­te Lokal die Ver­trei­bung des alten Herrn, die Unter­re­dung mit der Bedie­nung und schließ­lich der Brief­ver­kehr mit der Beschrei­bung der bei­den Brie­fe. (Dabei fällt mir eine selt­sa­me Unter­las­sung auf: Die Schau­spie­le­rin hat uns, dar­an glau­be ich mich zu erin­nern, sowohl ihr Schrei­ben wie das des alten Herrn vor­ge­le­sen, und die­se Tat­sa­che ist für die Wahr­schein­lich­keit der Erzäh­lung eigent­lich not­wen­dig: Woher soll­te der Erzäh­ler sonst wis­sen, was in den Brie­fen stand. Ich hat­te ursprüng­lich eine For­mu­lie­rung in mei­nem Vor­rat, die dar­auf hin­aus­lief, dass die gute S. M. so dumm gewe­sen sei, das auch noch alles coram publi­co vor­zu­le­sen. Die­se For­mu­lie­rung ist mir irgend­wie abhan­den gekom­men, ich ver­mu­te, weil sich die All­macht des wis­sen­den Erzäh­lers durch­setz­te und wohl auch von nie­man­dem bean­stan­det wurde.)

Sicher ist auch zwi­schen den erzähl­ten Pas­sa­gen eine Men­ge pas­siert, bei­spiels­wei­se zwi­schen der Abfas­sung des Brie­fes an den alten Herrn und sei­ner Ant­wort, zwi­schen denen eini­ge Zeit ver­ging, wenn ich mei­ner Erzäh­lung glau­be, eine hal­be Stun­de. Davon weiß ich heu­te allen­falls noch, dass der Gat­te unse­rer Hel­din stän­dig an sei­ner Pfei­fe zog. Ich könn­te mei­ne Erin­ne­rung an die erzähl­te Situa­ti­on auch beschrei­ben als ein Ras­ter von Bil­dern oder Sze­nen, die ich brau­che, um damit eine Geschich­te zu erzäh­len, und dass fast alles, was ich dafür nicht benö­ti­ge, als Aus­schuss in der Rum­pel­kam­mer des Unbe­wuss­ten gelan­det ist. Ich könn­te auch sagen: Ich erzäh­le nicht, was wirk­lich pas­siert ist, son­dern ich kon­stru­ie­re im Akt des Erzäh­lens eine Geschich­te, indem ich mei­ne Pha­sen­fol­ge durch­ge­he, in jeder Pha­se mei­ne fes­ten For­mu­lie­run­gen ver­wen­de und mit der Sicher­heit sol­cher Merk­tei­le dazwi­schen frei vari­ie­rend spie­len kann, ohne mei­ne Geschich­te und mein Publi­kum zu ver­lie­ren. Also bei­spiels­wei­se die zwei­te Pha­se (Schau­spie­le­rin spricht älte­ren Herrn an): Der alte Herr „stiert in sein Glas“, viel­leicht ein­sam oder trau­rig oder müde. „Er zieht die Schul­tern ein“, dann kann er in indi­rek­ter Rede sagen, das könn­te er ganz sicher, oder in direk­ter Rede, „ja, aber bit­te sehr, mit Ver­gnü­gen“. Dann kann er „mit sei­nem Wein­glas in der Hand“ gehen, schlei­chen, schlur­fen, aber immer „an den Neben­tisch“. Ganz sicher, das, was man „Wirk­lich­keit“ oder Erleb­nis nennt, bestimmt den Ablauf, die Struk­tur die­ser Geschich­te. Ist sie des­halb eine wah­re und erleb­te oder eine fik­ti­ve, erfun­de­ne Geschich­te? Ist sie eine ästhe­tisch geform­te oder eine All­tags­ge­schich­te? Man kann sich natür­lich über die Qua­li­tät der Geschich­te strei­ten, dar­um geht es nicht. Inter­es­sant ist, wie unscharf die schein­bar so ver­läss­li­che Gren­ze zwi­schen Fik­ti­on und Tat­sa­chen­be­richt wird, sobald es ums Erzäh­len geht, wie der Pro­zess des Erzäh­lens selbst uns letz­ten Endes auch in bana­len Fäl­len zu „Dich­tern“ macht.

Ich ver­mu­te, dass die „Bau­for­men des Erzäh­lens“, mit deren Hil­fe ich mir‘ mei­ne Geschich­te im Akt des Erzäh­lens pro­du­zie­re, den „Tie­fen­struk­tu­ren“ ver­gleich­bar sind, die wir im Pro­zess des Spre­chens in „Ober­flä­chen­struk­tu­ren“ über­füh­ren, in geglie­der­te voll­stän­di­ge Sät­ze, die der Situa­ti­on und den Gesprächs­part­nern ange­mes­sen sind. Da ich weder bei pseu­do­ma­the­ma­ti­schen For­meln noch pfeil­chen­ge­spick­ten Struk­tur­mo­del­len lan­den möch­te, die eine lin­gu­is­ti­sche Ter­mi­no­lo­gie erst als „wis­sen­schaft­lich“ aus­wei­sen, ver­las­se ich die­ses Glatt­eis lie­ber, bevor ich es betrete.

.

3.

Soll­te der Ein­druck ent­stan­den sein, ich gehör­te zu den unan­ge­neh­men Brü­dern, die einen am Bier­tre­sen zu fas­sen krie­gen und ihre faden Hel­den­ta­ten andre­hen: Die­ser Ein­druck trügt. Wie jeder ordent­li­che Zeit­ge­nos­se dis­ku­tie­re und argu­men­tie­re ich in der Öffent­lich­keit und beruf­lich, selbst­ver­ständ­lich streng ratio­nal und emo­ti­ons­los, in Knei­pen und Zug­ab­tei­len bin ich eher zurück­hal­tend, und Erzäh­le­rei­en beschrän­ken sich vor­wie­gend auf die „Pri­vat­sphä­re“. Aller­dings nicht ganz, seit ein paar Jah­ren erzäh­le ich auch sozu­sa­gen halb­of­fi­zi­ell in Kin­der­gär­ten und Stadt­bi­blio­the­ken oder auf Stra­ßen­fes­ten zusam­men mit ande­ren selbst­ge­strick­ten Erzäh­lern. Wir erzäh­len dort haupt­säch­lich selbst erfun­de­ne Geschich­ten, und die sind dann natür­lich ziem­lich aus­ge­tüf­telt, sie haben sogar einen ech­ten Schluss, der aus der Geschich­te wie­der her­aus- und zurück­führt in die gewöhn­li­che Unter­hal­tung. (Übri­gens sind Schluss­sät­ze das Schwie­rigs­te beim Erfin­den von Geschich­ten, davon weiß man­cher spon­ta­ne Gute-Nacht-Erzäh­ler ein Lied zu sin­gen, der erzählt und erzählt und doch nicht das rich­ti­ge Ende fin­det. An den Schluss­sät­zen kann man am bes­ten able­sen, wie viel eine Geschich­te taugt.)

Unse­re Geschich­ten ent­ste­hen als geschrie­be­ne Ent­wür­fe. Geschrie­be­ne Spra­che ist ein ande­res Medi­um als gespro­che­ne, beim Erzäh­len jedoch ist es von Vor­teil, nicht vom Blatt sin­gen zu kön­nen, denn dadurch ist jeder gezwun­gen, sie sich fürs eige­ne Mund­werk zurecht­zu­le­gen. Für mich heißt das: erst mehr­mals durch­le­sen und sich die ent­schei­den­den Sta­tio­nen ein­prä­gen. In der Geschich­te von den „sechs Eiern, die Küken wer­den wol­len“ bei­spiels­wei­se: Die Eier lie­gen im Nest, kom­men auf den Markt, wer­den ver­kauft, wan­dern in den Kühl­schrank. Wer­den wie­der her­aus­ge­holt, der Käu­fer rich­tet die Pfan­ne her, die Eier rol­len davon, der gute Mann brät sich ein Würst­chen. Am nächs­ten Mor­gen wacht er auf, die aus­ge­schlüpf­ten Küken pie­pen, er rennt auf die Stra­ße. Er kommt mit dem Nach­barn zurück, die Küken sind weg.

Um die­ses kar­ge Gerüst zum Leben zu brin­gen, brau­che ich wie­der eini­ge For­meln: Im Nest, auf dem Markt, im Kühl­schrank „mer­ken die sechs Eier von nichts, sie träu­men, dass sie ein­mal Küken wer­den wol­len!“ Im Kühl­schrank wird eines nach dem andern unsanft geweckt: „War­um ist es denn so kalt hier?“ Der Haupt­spaß an der Geschich­te besteht dar­in, dass der gute Mann nach dem Auf­wa­chen an die war­men Plät­ze langt, wohin die Eier roll­ten und wo sie angeb­lich über Nacht aus­ge­schlüpft sind. Da die­se Hand­lun­gen auf­ein­an­der auf­bau­en, muss ich die Rei­hen­fol­ge beach­ten: Socken­fach, Näh­kas­ten, Wat­te­beu­tel, Kaf­fee­hau­be, Wisch­tü­cher. Sind es schon sechs? Nein, es fehlt noch die Man­tel­ta­sche, wo sich das sechs­te und kleins­te Ei ver­kro­chen hat, „das näm­lich – auch so eine For­mel – das Schlau­es­te ist“. Der gute Mann langt nach die­sen Gegen­stän­den, „und was hört er?“ Spä­tes­tens beim zwei­ten­mal krä­hen die Kin­der mit: „Piep, piep“. Der gute Mann rennt schließ­lich genervt auf die Stra­ße raus: „Bei mir piept’s“.- „Des­we­gen brau­chen Sie doch nicht so zu schrei­en, das wis­sen wir schon lan­ge“, sagt ihm der Nach­bar. Für Kin­der reicht Reden allein nicht aus, sie sind anspruchs­vol­ler, und ich muss mir auch Ges­ten und Spiel­mög­lich­kei­ten dazu den­ken, die übri­gens für die Her­stel­lung der Erzäh­lung eine ähn­li­che Rol­le spie­len wie die sprach­li­chen For­meln. Wenn die Eier von ihrer Zukunft träu­men, sitz ich in der Hocke und lege die Hän­de über den Kopf, natür­lich die Augen geschlos­sen. Wenn sie frie­ren, schlot­te­re ich mit Ellen­bo­gen und Knien mit. Um die Eier über den Tisch zu ruckeln, for­de­re ich die Kin­der auf, mit­zu­ru­ckeln, ein­mal über den Tisch bis zum Rand, dann über das Sofa­pols­ter zurück, bis die Eier­schach­tel am Boden auf­springt und die Eier davon­rol­len. Sie rol­len tat­säch­lich, ich krei­se mit dem Fin­ger und krei­se, bis ich unter dem Pull­over eines Kin­des lan­de. Jetzt muss ich mir aller­dings mer­ken, wel­ches Kind Socken­fach, Wat­te­beu­tel oder Kaf­fee­hau­be war, natür­lich muss ich spä­ter in der Rol­le des ahnungs­lo­sen Auf­ste­hers dort­hin grei­fen. Kurz und gut, die­se Ges­ten und Spiel­ele­men­te machen nicht nur den Kin­dern mei­ne Geschich­te ver­ständ­li­cher und ver­gnüg­li­cher, sie hel­fen mir auch, die Geschich­te zu erzäh­len. Wenn man nicht aus­ge­spro­che­ne „Pro­ben“ ver­an­stal­tet, braucht man die­se For­meln und Ges­ten als Merk­hil­fe beson­ders bei den ers­ten Erzäh­lun­gen: Es geht dann noch etwas holp­rig und man han­gelt sich spon­tan for­mu­lie­rend und ges­ti­ku­lie­rend von einer fes­ten For­mel oder Ges­te zur andern. Ich muss im all­ge­mei­nen die Geschich­ten drei­mal erzählt haben, bevor sie mir selbst­ver­ständ­lich im Mund und in den Hän­den lie­gen. Aber auch spä­ter tra­ge ich kei­nen Wort­laut in der Tasche, son­dern eben nur mein Gerüst und mei­nen Vor­rat an For­meln und Ges­ten. Ich kann sie inzwi­schen nur sou­ve­rä­ner hand­ha­ben, mich bes­ser drauf ver­las­sen, dass mir in den Löchern dazwi­schen schon das rich­ti­ge ein­fällt. Gera­de die Kom­bi­na­ti­on mit den Ges­ten führt dazu, dass die Geschich­te sich all­mäh­lich selbst erzählt: Ges­ten zie­hen Sät­ze nach sich und Sät­ze die Ges­ten. Auch beim bewuss­ten Geschich­ten­er­zäh­len in einer halb­öf­fent­li­chen Situa­ti­on unter­schei­det sich der Pro­zess des Erzäh­lens nicht wesent­lich von der Wie­der­ga­be mei­ner „pri­va­ten“ Schmonzette.

4.

Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler schrei­ben Arti­kel, und an den Uni­ver­si­tä­ten hal­ten sie bes­ten­falls „Vor­le­sun­gen“. Selbst die „Erzähl­for­scher“ machen nicht gera­de den Ein­druck, als wür­den sie zu erzäh­len ver­ste­hen. Inso­fern ist es nicht sehr ver­wun­der­lich, ange­sichts der ver­spritz­ten Tin­te und dem ver­geb­li­chen Scharf­sinn aber den­noch bedenk­lich, dass weit län­ger als ein Jahr­hun­dert am fal­schen Ende über den Ursprung epi­scher Dich­tungs­tra­di­tio­nen gestrit­ten wur­de, also bei­spiels­wei­se der home­ri­schen Gesän­ge oder der roma­ni­schen „Chan­sons de ges­te“. Wohl weiß man seit lan­gem, dass die­se und ähn­li­che Wer­ke vor einem feu­dal-rit­ter­li­chen Publi­kum gesun­gen wur­den und uns natür­lich nur geschrie­be­ne Fas­sun­gen über­lie­fert sind. Da man jedoch selbst­ver­ständ­lich von geschrie­be­ner Lite­ra­tur aus­ging, wur­de mit vie­len Argu­men­ten hin- und her dis­ku­tiert, ob die­se Epen von einem indi­vi­du­el­len Dich­ter­ge­nie ver­fasst wur­den und ange­sichts des Umfangs der Gesän­ge muss­te der Ver­fas­ser schon über ganz phä­no­me­na­le Gedächt­nis­leis­tun­gen ver­fü­gen – oder ob sie ent­spre­chend einer von der Roman­tik her­kom­men­den Auf­fas­sung in jahr­hun­der­te­lan­ger Bear­bei­tung „vom Volk“ gedich­tet wurden.

Es dau­er­te bis in die Mit­te des 20.Jahrhunderts, ehe man bemerk­te, dass in einem Win­kel Euro­pas eine Tra­di­ti­on des epi­schen Vor­trags am Leben geblie­ben war. Die­se alte, min­des­tens bis ins 13. Jahr­hun­dert zurück rei­chen­de Über­lie­fe­rung hat sich nach einem Auf­satz von 1933 erhal­ten in „Bos­ni­en und Her­ze­go­wi­na, in Mon­te­ne­gro, in eini­gen abge­le­ge­nen Bezir­ken des dal­ma­ti­ni­schen Rand­ge­bir­ges, im Sand­zak Novi Pazar und im süd­west­li­chen Rand­ge­biet des eigent­li­chen Ser­bi­en (. ..) In die­sen Gebie­ten kann man auch heu­te noch über­all dem Hel­den­lied begeg­nen. Es wird bei gesel­li­gen Zusam­men­künf­ten, im Pri­vat­kreis und im Kaf­fee­haus gesun­gen – bei den Mos­lims vor allem in den Näch­ten des Fas­ten­mo­nats Rama­dan; es fin­det dank­ba­re und begeis­ter­te Zuhö­rer bei Hoch­zei­ten und ande­ren Fest­lich­kei­ten, sowie es frü­her z. B. eine wich­ti­ge Aus­schmü­ckung der belieb­ten Pfer­de­ren­nen bil­de­te“ (Braun, S. 357).

Die Sän­ger die­ser Lie­der, übri­gens fast aus­schließ­lich Män­ner und oft sehr „unge­bil­de­te“ Leu­te, zeig­ten schier unvor­stell­ba­re Gedächt­nis­leis­tun­gen. Bei einem Umfang der Lie­der zwi­schen 500 und 5000 Ver­sen beherrsch­ten sie oft 200 bis 300 Lie­der. „Dabei sind die meis­ten Sän­ger imstan­de, ein neu­es Lied nach ein­ma­li­gem Abhö­ren zu behal­ten. Aller­dings gilt die­se Anga­be bezeich­nen­der­wei­se nur für die münd­li­che Über­lie­fe­rung. Beim Ler­nen aus dem Buch ist nach über­ein­stim­men­der Aus­sa­ge vie­ler Sän­ger immer mehr­ma­li­ges Stu­di­um erfor­der­lich“ (Braun, S. 372).

Die leich­te­re Über­nah­me nach dem Gehör erklärt sich aus dem Ver­fah­ren, das die Sän­ger beim Vor­trag der Gesän­ge anwen­den. „Alle Sän­ger sind näm­lich zugleich Impro­vi­sa­to­ren, die den Text nicht ein­fach her­un­ter­sin­gen, son­dern bis zu einem gewis­sen Gra­de jedes Mal neu schaf­fen. Die Mit­tel dazu gibt ihnen eine gan­ze Rei­he fest­ste­hen­der for­mel­haf­ter Aus­drü­cke, Bil­der, Ver­glei­che, Rede­wen­dun­gen und sons­ti­ger Dar­stel­lungs­tech­ni­ken, die für bestimm­te Situa­tio­nen ein für alle­mal fest­ge­legt sind. Dem­sel­ben Zweck die­nen ja schließ­lich, wenn auch in ande­rer Wei­se (. ..) die Kom­po­si­ti­ons­sche­ma­ta. Der Sän­ger merkt sich also im gro­ßen und gan­zen nur den Gesamt­ab­lauf der Hand­lung, die er dann mit Hil­fe die­ser ihm wohl­be­kann­ten Kunst­grif­fe rekon­stru­iert“ (Braun, S. 373).

In den 50er Jah­ren unter­such­ten zwei ame­ri­ka­ni­sche Grä­zis­ten die­se letz­te euro­päi­sche Tra­di­ti­on epi­schen Hel­den­ge­san­ges und fan­den dabei die Lösung für die jahr­hun­der­te­lang umstrit­te­ne Fra­ge nach der Her­kunft der home­ri­schen Gesän­ge: Sie muss­te „die Arbeit vie­ler Dich­ter wäh­rend vie­ler Gene­ra­tio­nen sein. Wenn ein Sän­ger zufäl­lig eine Wen­dung fin­det, die ange­nehm und leicht zu ver­wen­den ist, wer­den ande­re Sän­ger sie hören, und dann, wenn bei ihnen das Bedürf­nis ent­steht, den­sel­ben Gedan­ken an der­sel­ben (metri­schen) Stel­le in der Zei­le aus­zu­drü­cken, wer­den sie sich dar­an erin­nern und sie ver­wen­den. Wenn die Wen­dung in metri­scher Hin­sicht so brauch­bar ist, dass sie im Lauf der Zeit die ein­zi­ge und bes­te Wei­se wird, einen gewis­sen Gedan­ken in einer bestimm­ten Vers­län­ge aus­zu­drü­cken, und dar­um von einer Gene­ra­ti­on von Dich­tem der nächs­ten über­mit­telt wird, dann hat sie sich einen Platz in der münd­li­chen Dik­ti­on als For­mel erobert (. ..) Nach einer gewis­sen Zeit ist die nöti­ge 1 Anzahl sol­cher Wen­dun­gen fer­tig: jeder Gedan­ke, der in der Dich­tung aus­ge­drückt wer­den muss, hat sei­ne For­mel für jedes metri­sche Bedürf­nis, und der Dich­ter, der nicht dar­an denkt, Gedan­ken außer­halb des tra­di­tio­nel­len Gedan­ken­fel­des der Dich­tung aus­zu­drü­cken, kann sei­ne Ver­se leicht mit Hil­fe einer alt­be­währ­ten Dik­ti­on bil­den“ (Par­ry und Lord, zitiert nach Magoun, S. 13).

Die Fra­ge nach dem Ursprung epi­scher Dich­tung war also nur des­halb so schwer zu beant­wor­ten, weil man kei­ne Vor­stel­lung von der Arbeits­wei­se münd­li­chen Vor­tra­gens hat­te und sie sich selbst­ver­ständ­lich nach dem Mus­ter geschrie­be­ner Lite­ra­tur erklär­te. Erst die Unter­su­chung der jugo­sla­wi­schen Hel­den­sän­ger mach­te deut­lich, „dass eine münd­li­che Dich­tung vor ihrer schrift­li­chen Fixie­rung kei­nen fes­ten Text hat oder haben kann (für Schreib­kun­di­ge ist das etwas schwie­rig zu ver­ste­hen); ihr Text wird sich, wie der Text einer münd­lich zir­ku­lie­ren­den Anek­do­te, bei jedem Vor­trag mehr oder weni­ger ändern“ (Magoun, S. 12). Und den­noch wer­den die Gesän­ge erstaun­lich genau über Jahr­hun­der­te hin­weg über­lie­fert: „Die übli­che Vor­stel­lung vom über­lie­fe­rungs­ge­treu­en münd­li­chen Dich­ter ist daher zu berich­ti­gen: Sei­ne Über­lie­fe­rungs­treue liegt im Stoff­li­chen, nicht im Wört­li­chen. Er schafft ste­hen­den Fußes bei jedem Vor­trag ein – vom lexi­ka­li­schen, oft auch vom struk­tu­rel­len Stand­punkt aus gese­hen – neu­es Gedicht, hält sich aber sehr bewusst an die ein­zig ‚rich­ti­ge‘, d. h. über­lie­fer­te stoff­li­che Form (Bäuml, S. 240). Der Sän­ger kann mit Hil­fe die­ses Ver­fah­rens nicht nur eine schier unvor­stell­ba­re Men­ge an Ver­sen repro­du­zie­ren, er kann vor allem auch fle­xi­bel auf sein Publi­kum reagie­ren. Die „Chan­sons de Ges­te“ bei­spiels­wei­se wur­den von „Jon­gleurs“ vor­ge­tra­gen, deren Publi­kum nicht immer aus gedul­di­gen Hof­ge­sell­schaf­ten bestand. Sie san­gen eben­falls auf Jahr­märk­ten und beherrsch­ten als pro­fes­sio­nel­le Volks­un­ter­hal­ter außer­dem, wie ihre Berufs­be­zeich­nung ver­rät, auch noch alle mög­li­chen akro­ba­ti­schen und Jon­glier­küns­te. „Dem rezi­ta­ti­ven Gesang haf­te­te immer etwas Impro­vi­sier­tes an; je nach Gele­gen­heit sang der Jon­gleur eine län­ge­re oder kür­ze­re, ein­fa­che­re oder aus­ge­schmück­te­re Ver­si­on des glei­chen Lie­des“ (Köh­ler, S. 273).

Und das gilt in ähn­li­cher Wei­se für ver­gleich­ba­re Tra­di­tio­nen. „Die Län­ge eines Lie­des oder bes­ser, die Län­ge einer bestimm­ten Auf­füh­rung (weil es kei­nen fes­ten Text gibt) hängt größ­ten­teils vom Publi­kum ab, von der Zeit, die ein Publi­kum für den Sän­ger bei einer bestimm­ten Gele­gen­heit übrig hat. Ein guter Sän­ger kann solan­ge fort­fah­ren, wie das Publi­kum ihn anhö­ren will (. ..) Die Ana­lo­gien mit musi­ka­li­scher Impro­vi­sa­ti­on wer­den offen­sicht­lich sein“ (Magoun, S.12).

Eine Schmon­zet­te ist kein Hel­den­epos, und wer Anek­döt­chen bie­tet, kein Hel­den­sän­ger. Die in der „Oral Poet­ry“ gebräuch­li­chen „Erzähl­scha­blo­nen“ und „Erzähl­for­men“ set­zen eine für Bücher­wür­mer unfass­ba­re vir­tuo­se Spon­ta­nei­tät und kon­zen­trier­te Gedächt­nis­ar­beit vor­aus. Davon ist der Gele­gen­heits­er­zäh­ler wei­ter ent­fernt als die fünf­te Gei­ge im Orches­ter von der Impro­vi­sa­ti­on der Jazz- Trom­pe­te. Den­noch ähnelt das Ver­fah­ren auf­fal­lend den fes­ten Wen­dun­gen und vor­ge­merk­ten Pha­sen­ab­läu­fen, wie ich sie für mei­ne Erzäh­le­rei­en beschrieb. Und Hand aufs Herz, ich habe die zitier­ten Theo­rien erst beim Schrei­ben die­ses Bei­trags nach­ge­le­sen und längst nach­dem ich mir mei­ne Gedan­ken gemacht hat­te über die beschei­de­ne Kunst, Schmon­zet­ten zum bes­ten zu geben.

5.

Ein offen­bar sehr befä­hig­ter ame­ri­ka­ni­scher Erzäh­ler namens Wil­son Hug­hes, wie der Name sagt und für sei­ne Erzähl­küns­te bezeich­nend iri­scher Abstam­mung, beginnt sei­ne Geschich­te von der „Fami­lie, die nicht abwa­schen woll­te“ mit fol­gen­der Bemerkung:

„Ich weiß nicht, wann ich die­se Geschich­te zum ersten­mal hör­te, sicher schon vor 1931, als ich aufs Col­lege ging. Die Leu­te nann­ten sie die schmut­zigs­te Geschich­te der Welt. Aber so schlimm ist sie nicht, den­ke ich. Ich erzähl­te sie auch eines Abends und Bob Meighs (einer sei­ner Lieb­lings­er­zäh­ler) war auch dabei. Spä­ter hör­te ich sie von Bob an einem Sil­ves­ter­abend erzählt. So ziem­lich die glei­che Geschich­te außer einem klei­nen Zusatz. Ich fand die­sen Zusatz so gut, dass ich ihn seit­dem selbst immer benutz­te, seit gut 40 Jah­ren. Es geht nur um die vier Wor­te ‚As weIl he might‘. Aber es ist eine ech­te Ver­bes­se­rung. ‚As weIl he might'“ (Jan­sen, S. 297f). Man spürt, mit wel­chem Ver­gnü­gen Wil­son Hug­hes auf die­ser klei­nen sti­lis­ti­schen Ver­bes­se­rung her­um­kaut, obwohl es sei­ner Geschich­te doch „inhalt­lich“ nichts Wesent­li­ches hin­zu­füg­te. Lei­der ken­ne ich den Wort­laut der Geschich­te nicht, aber ich möch­te anneh­men, dass die­se „Erzähl­for­mel“ mehr­mals ver­streut über die Erzäh­lung auf­taucht und damit den Erzähl­fluss „rhyth­mi­siert“.

Hug­hes erwähnt die­se For­mel ja auch nur, weil er sie von einem geschätz­ten Erzäh­ler über­nom­men hat, er wird über zahl­rei­che über­nom­me­ne oder selbst gefun­de­ne For­mu­lie­run­gen ver­fü­gen, die den glei­chen Effekt erge­ben: er kann sich von einer fest­ste­hen­den For­mel zur nächs­ten han­geln, und gera­de die Sicher­heit, die ihm die wie­der­keh­ren­den For­meln beim Erzäh­len ver­lei­hen, ermög­licht zwi­schen­durch spon­tan zu impro­vi­sie­ren, auf die Publi­kums­re­ak­tio­nen oder auf Äuße­run­gen ein­zu­ge­hen, also die Unmit­tel­bar­keit her­zu­stel­len, die weder das Lesen noch irgend­ein audio­vi­su­el­les Medi­um erlaubt.

Für Wil­son Hug­hes waren übri­gens nur fik­ti­ve Geschich­ten ech­te Geschich­ten. „Das ist doch kei­ne Geschich­te“, sagt er bei einer Gele­gen­heit, „das ist 1951 wirk­lich pas­siert“ (Jan­sen, S. 295). Ich neh­me fast an, dass er damit vor allem über­lie­fer­te Geschich­ten und damit die bes­ser erzähl­ba­re Form meint. Nach die­sem Kri­te­ri­um teilt er sei­ne Geschich­ten in drei Klas­sen ein: die „fik­ti­ven“ Erzäh­lun­gen, die­je­ni­gen, denen ein tat­säch­li­ches Ereig­nis zugrun­de liegt, die er aber wegen des erzäh­le­ri­schen Effekts ver­än­dert hat, und schließ­lich die­je­ni­gen, die ihm erzählt wur­den mit einem Glau­ben, den er per­sön­lich nicht teilt. Mit der letz­ten Kate­go­rie meint er bei­spiels­wei­se Geis­ter­ge­schich­ten, die er erzählt, obwohl er selbst nicht an Geis­ter glaubt – also wohl wie­der wegen des erzäh­le­ri­schen Effekts. Inter­es­sant ist, dass er gele­gent­lich selbst nicht mehr durch­blickt. „Heu­te befin­den sich man­che Geschich­ten in einer Grau­zo­ne, wo sich Wil­son nicht mehr sicher ist über das Ver­hält­nis zwi­schen Wirk­lich­keit oder Fik­ti­on und Fabu­lie­ren“ (Jan­sen, S. 295).

Die Ver­wir­rung ent­steht wohl vor allem durch das, was Wil­son Hug­hes die „Behand­lung“ (tre­at­ment) nennt. Was ich ein­gangs an mei­ner Anek­do­te beschrieb als Ein­schlei­fen bestimm­ter For­mu­lie­run­gen, wird von jedem geüb­ten Erzäh­ler schon bei der Auf­be­rei­tung sei­nes Erzähl­stof­fes, meist vor dem ers­ten Erzäh­len bewusst vor­ge­nom­men. Die Geschich­te, der „Stoff“, muss für den Erzähl­stil auf die Erzähl­ge­le­gen­hei­ten und das Publi­kum zuge­schnit­ten wer­den, ganz gleich­gül­tig, ob es sich um eine über­lie­fer­te Erzäh­lung han­delt, ob sie aus eige­nem Erle­ben stammt oder von ande­ren berich­tet wur­de. „Die ‚Behand­lung‘ umfasst in einer oder meh­re­ren Stu­fen: Schaf­fung von Ein­füh­run­gen in brauch­ba­rer Län­ge und vol­ler rea­lis­ti­scher Details; Ein­füh­rung von Dia­log­pas­sa­gen; eine begrenz­te Anzahl Ges­ten; wech­seln­de Stimm­la­gen; Ein­fü­gung von Pau­sen; gele­gent­li­che Ver­bin­dung von zwei oder mehr getrenn­ten Erzäh­lun­gen; Ein­füh­rung von Eigen­na­men; Anpas­sung an bekann­te Loka­li­tä­ten“ (Jan­sen, S. 297).

Der letz­te Punkt ist eigent­lich sehr über­ra­schend bei einem Erzäh­ler, der „wah­re“ Bege­ben­hei­ten gar nicht als Geschich­ten begreift und vor­zugs­wei­se über­lie­fer­te Geschich­ten erzählt. Mit sol­chen Anpas­sun­gen wird ja ein Wirk­lich­keits­be­zug fin­giert, ein wei­te­rer Hin­weis dafür, dass Hug­hes in ers­ter Linie von der Erzähl­bar­keit und der Wir­kung auf sei­ne Hörer aus­geht. Sol­che Anpas­sun­gen sind ja weni­ger ein Wahr­heits­be­weis, sie hel­fen der Phan­ta­sie der Hörer auf die Sprün­ge, indem die Geschich­te in den Umkreis ihrer Wahr­neh­mun­gen ein­ge­fügt wird: Im sel­ben Sin­ne konn­ten die Mär­chen­er­zäh­ler mit dem Stock auf den nächs­ten Berg wei­sen und sagen: „Dort dro­ben war es gewe­sen.“ Und ich möch­te wie­der anneh­men, dass ein Erzäh­ler wie Hug­hes Tat­sa­chen­be­rich­te ver­än­dert und Hand­lungs­or­te ver­legt, wenn ihm das für sei­ne Erzäh­lung und für sein Publi­kum ange­bracht scheint.

6.

Jede Geschich­te berich­tet die Erfah­run­gen eines Men­schen, und weil er sie nicht hier und heu­te, son­dern zu jener Zeit und weit ent­fernt von hier gemacht hat, ist sie erzäh­lens- und hörens­wert. Des­halb beginnt jede Geschich­te damit, wann und wo sie wer erlebt hat. Und weil wir an jene erzähl­te Zeit und den ent­fern­ten Ort ent­führt wer­den, muss uns der Erzäh­ler am Ende von dort wie­der zurück­ho­len auf den Erd­bo­den, auf dem wir hier und heu­te stehen.

Den Ein­stieg zur Geschich­te von der „Fami­lie, die nicht abwa­schen woll­te“, bezeich­net Wil­son Hug­hes als „Fuß­no­te“, und gele­gent­lich setzt er der­glei­chen Fuß­no­ten auch an den Schluss einer Geschich­te. „Das pas­siert beson­ders, wenn Wil­son Ver­mu­tun­gen über die Aus­sa­ge oder die Wahr­heit einer Geschich­te anstellt oder wenn er ver­glei­chen­de Anmer­kun­gen machen möch­te“ (Jan­sen, S. 298). Er tritt damit als Erzäh­ler in der Erzäh­lung in Erschei­nung und schafft dem Hörer auf ande­re Wei­se eine Brü­cke, die ihn in den Phan­ta­sie­raum des Erzäh­lers führt. Wie­der möch­te ich anneh­men, dass Ein­schü­be und Zwi­schen­be­mer­kun­gen vor allem in tra­dier­ten Erzäh­lun­gen auf­tau­chen, in denen der Erzäh­ler als Per­son eigent­lich kei­ne Rol­le spielt. Gera­de des­halb macht er sich als leib­haf­ti­ger Ver­mitt­ler bemerkbar.

Denn auf der Unmit­tel­bar­keit unse­rer sinn­li­chen Erfah­rung beruht, was wir glau­ben oder nicht glau­ben. Wir haben die Geschich­te mit eige­nen Ohren gehört, also gibt es sie. Und der Erzäh­ler ist unser Zeu­ge, er hat sie näm­lich selbst gehört oder gar selbst erlebt. „Es ist die Nei­gung der ; Erzäh­ler, ihre Geschich­te mit einer Dar­stel­lung der Umstän­de zu begin­nen, unter denen sie sel­ber das, was noch folgt, erfah­ren haben, wenn sie es nicht schlecht­weg als selbst­er­lebt aus­ge­ben“ (Ben­ja­min, S. 418). „Wah­re“ Geschich­ten sind des­halb auch bei Wil­son Hug­hes meis­tens „bis zu einem gewis­sen Grad Erzäh­lun­gen in der ers­ten Per­son, d. h. , wenn er nicht selbst eine Haupt­rol­le in der Geschich­te spielt, mag er als Beob­ach­ter erschei­nen oder als eine Per­son, die die Geschich­te gehört hat und nun wei­ter­erzählt“ (Jan­sen, S. 296).

Das Mär­chen erzählt „for­mel­haft“ und „abs­trakt“, damit auch noch der letz­te Hörer sei­ne eige­nen Wün­sche, Träu­me oder auch Ängs­te in die Hohl­form der Erzäh­lung gie­ßen kann. Und doch beginnt es nicht im Nir­gend­wo und Nir­gend­wann. Weil es erzählt, nennt es uns immer noch, wer wann und wo was erlebt hat, natür­lich auf sei­ne Wei­se, for­mel­haft und abs­trakt. Dass die Gebrü­der Grimm und die meis­ten nach­fol­gen­den Mär­chen­samm­ler dabei über das „Es war ein­mal. ..“ kaum hin­aus­ka­men, und höchs­tens noch zulas­sen, „zu jenen Zei­ten, wo das Wün­schen noch gehol­fen hat. ..“, liegt an ihrer Vor­stel­lung von der „poe­ti­schen“ Form des Mär­chens, der sie alle Gebrauchs­spu­ren opfer­ten. Die „Fuß­no­ten“ der „Gewährs­leu­te“ wur­den säu­ber­lich aus­ge­brannt, und sel­ten genug waren die­se „Gewährs­leu­te“ ja auch akti­ve und geüb­te Erzäh­ler, vie­le erzähl­ten ein­fach nach, was sie irgend­wo ein­mal gehört hat­ten. In neue­rer Zeit gesam­mel­te Mär­chen­tex­te ken­nen einen ganz ande­ren Reich­tum an „Ein­gangs­for­meln“ , wie bei­spiels­wei­se in die­sem tür­ki­schen Märchen:

„Es war ein­mal, als man auf dem Markt Zwie­beln und Knob­lauch ver­kauf­te, als der Bal­ken mei­ner Waa­ge brach, wäh­rend ich nach einem schö­nen Mäd­chen schau­te, die Hen­ne wegen einer Stech­mü­cke scharr­te, der Hahn kräh­te und die Nach­ti­gall ihr Mäd­chen pries. Du bist auf dem Zweig unter dem Dach, o wo bist du, mei­ne Schö­ne! Manch­mal öff­nest du dich wie eine Rose, manch­mal schwebst du in den Lüf­ten. Da ist ein Mär­chen: Zwei Kat­zen spran­gen, der Frosch wur­de beflü­gelt, er ging sich eine Braut zu holen. Die Braut trat in die Lau­be, plumps da fiel sie ins Glas. Ein Mär­chen nennt man das, beim Erzäh­len kommt die Freu­de. In frü­he­rer Zeit hat­te ein König. ..“ (Spieß, S. 190).

Oder ein unga­ri­scher „Gewährs­mann“, der sich nach Jah­ren noch Wort für Wort dar­an erin­nert, wie sein Groß­va­ter ein bestimm­tes Mär­chen begann: „Na hört mal alle zu (so fei­er­lich begann er). Es war ein­mal sie­ben Län­der . weit, wei­ter noch als das gro­ße Meer, wo man die Läu­se und Flö­he mit Kup­fer­huf­ei­sen beschlägt, damit kein Teu­fel und kei­ne Pla­ge dar­über stol­pe­re; dort hol ich, samm­le ich mei­ne Wor­te aus den Fal­ten von Wei­ber­rö­cken. Über drei Trut­hahn­schreie und Läu­se­schrit­te hin­aus stand auf der Leh­ne des Ber­ges Kos­tisch eine Pap­pel. Die­se Pap­pel hat­te 99 Zwei­ge, auf dem 99sten Zweig saßen 99 Krä­hen. An den Stamm gebun­den waren 99 Zie­gen­bö­cke. Die 99 Krä­hen sol­len dem die Augen aus­ha­cken, und die 99 Zie­gen­bö­cke ihm den Arsch schän­den, der die­ses Mär­chen nicht anhört. Hörest du die­ses Mär­chen nicht, dann sieh du nie des Her­ren Ange­sicht! Es war also ein König. ..“ (Degh, s. 31). Genau­so wenig muss ein Mär­chen enden mit dem nichts­sa­gen­den „Und wenn sie nicht gestor­ben sind. ..“. Selbst Grimms Mär­chen zei­gen sich in ihren Schlüs­sen ein wenig beweg­li­cher. „Ich woll­te, ich und du, wir wären auch dabei gewe­sen“, endet der König Dros­sel­bart. (Grimm, Bd. 1, S. 300). Oder dem Erzäh­ler, der die Bre­mer Stadt­mu­si­kan­ten ins Räu­ber­glück setzt, ist der Mund noch warm vom lan­gen Erzäh­len (Grimm, Bd. 1, S. 184). Auch hier haben uns die Grimms nur schüch­ter­ne Über­bleib­sel gelas­sen von den groß­spu­ri­gen Ges­ten, mit denen sich der Erzäh­ler zum guten Ende wie­der leib­haf­tig in Erschei­nung bringt. „Die Hoch­zeit war herr­lich und dau­er­te vie­le Tage lang. Und mir gaben sie ein wenig Fett, aber auf dem Weg, den ich lang­ging, schmolz es zusam­men und mit nichts kam ich heim“ (Espi­no­sa, S. 199). Die Augen- oder Ohren­zeu­gen­schaft des Erzäh­lers mag so abs­trakt blei­ben wie in den Mär­chen­for­meln oder so offen­sicht­lich ange­maßt wie in man­chen aus dem Leben gegrif­fe­nen Geschich­ten. „Jeder Volks­kund­ler hat schon Volks­er­zäh­ler getrof­fen, die offen­sicht­lich fik­ti­ve Erzäh­lun­gen in Ich-Erzäh­lun­gen umbau­en“ (Jan­sen, S. 297). Der sinn­li­chen Gewiss­heit des Hörers tut das kei­nen Abbruch, es bleibt ein „Wahr­heits­be­weis“, der ihm gestat­tet, sich beru­higt auf die Erzäh­lung ein­zu­las­sen. Kau­fen wir nicht den Fil­me­ma­chern die abge­fah­rens­ten Phan­ta­sien ab, nur weil wir sie mit eige­nen Augen sehen? Die Augen­zeu­gen­schaft muss sogar des­to mehr her­aus­ge­stri­chen wer­den, je unwahr­schein­li­cher sie anmu­tet. Das Jäger­la­tein wird mit den eige­nen Aben­teu­ern bestrit­ten, Münch­hau­sen lügt sich quer durch sein beweg­tes Leben, und im Gegen­satz zum Mär­chen muss er Ort, Zeit und Umstän­de pein­lich genau verzeichnen.

In den USA scheint die „Tall Tale“ (Auf­schnei­der­ge­schich­te, Münch­hau­sia­de) in der Volks­über­lie­fe­rung ver­brei­te­ter zu sein als bei uns (sofern unse­re Samm­ler sie nicht schlicht ver­nach­läs­sigt haben, weil sie weder den Hauch des Poe­ti­schen hat­te noch pro­blem­los in die Schub­la­den pass­te). Von einem moder­nen texa­ni­schen „Auf­schnei­der“ lese ich:

„Kon­kre­te Ein­zel­hei­ten kom­men in Beschrei­bung und Dia­log vor und sol­len der Sto­ry einen Anstrich von Wirk­lich­keit geben“ (Mut­ten, S. 305). Vor allem aber kennt der Erzäh­ler eine Art zwei­tes Ich: „In den län­ge­ren Lügen­ge­schich­ten benutzt Ed eine Erzäh­ler­per­son, die in ihren Hal­tun­gen und Reak­tio­nen der Umge­bung gegen­über und in ihren Erzäh­lun­gen geschlos­sen auf­tritt (. ..). Es ist wich­tig, sich zu ver­ge­gen­wär­ti­gen, dass der Geschich­ten­er­zäh­ler, Ed Bell, und die Erzäh­ler­fi­gur nicht die glei­chen sind. (. ..) Die Unschuld und Nai­vi­tät der Erzäh­ler­fi­gur steht in direk­tem Gegen­satz zur Absur­di­tät der Sze­nen. Die Sze­nen sind so unglaub­lich, dass es schon eine total nai­ve Per­son bräuch­te, sie ernst zu I neh­men, und die Erzäh­ler­fi­gur nimmt sie für bare Mün­ze (jeden­falls im Zusam­men­hang der Geschich­te) .Der Hörer betrach­tet die absur­den Sze­nen durch die Augen der nai­ven Erzäh­ler­fi­gur, was einen komi­schen Effekt ergibt“ (Mut­ten, S. 310).

7.

Gele­gen­heit macht nicht nur Die­be. Wer ein Erzäh­ler wer­den will, braucht die Gele­gen­heit, erzäh­len zu hören. Und wo er selbst erzählt, muss er so erzäh­len ler­nen, dass er sei­nen Zuhö­rern gele­gen kommt. Aus dem Gespür für die pas­sen­de Erzäh­lung zur pas­sen­den Gele­gen­heit ent­ste­hen die Gat­tun­gen, was von Erzähl­for­schern kaum bemerkt wor­den ist, denen nichts fer­ner lag als selbst zu erzäh­len. Die frisch gesam­mel­ten Erzäh­lun­gen des „Vol­kes“ wur­den seit Grimms Zei­ten säu­ber­lich sor­tiert, und die dafür vor­ge­se­he­nen Fächer tru­gen die Auf­schrif­ten: Mär­chen, Sage, Schwank, Memo­rat usw. Nur neben­bei bemerk­te man, dass die Aus­ge­forsch­ten mit sol­chen Unter­schei­dun­gen nichts anzu­fan­gen wuss­ten: Sie erzähl­ten „Erzähl­stü­cke“ oder „Ver­tell­sels“, die eben je nach Gele­gen­heit län­ger oder kür­zer, zau­ber­haf­ter oder scherz­haf­ter aus­fie­len. Die Gat­tun­gen, von den Erzähl­for­schern als vor allem Erzäh­len exis­ten­te wesen­haf­te Form ver­stan­den, sind nichts wei­ter als oft hilf­los wir­ken­de Ver­su­che, den Reich­tum volks­tüm­li­chen Erzäh­lens, der im 19. und 20. Jahr­hun­dert gera­de noch im Moment des Ver­schwin­dens gesam­melt wur­de, in Kate­go­rien zu ord­nen. Die Land­be­völ­ke­rung, der die „Volks­er­zäh­lun­gen“ abge­lauscht sind, erzähl­te am Fei­er­abend und nach einem schwe­ren Arbeits­tag, oder zur Beglei­tung ein­fa­cher, ein­tö­ni­ger Arbei­ten. Das bedeu­te­te kur­ze, leicht fass­ba­re Geschich­ten, nicht mehr band­wurm­lan­ge Hel­den­epen, wie sie die fah­ren­den Hel­den­sän­ger des Mit­tel­al­ters auf den Rit­ter­bur­gen vor­tru­gen. Die alten Stof­fe und Gesän­ge wur­den dafür zer­stü­ckelt, und aus den Bruch­stü­cken wur­den Mär­chen von Dra­chen­tö­tern und Prin­zes­sin­nen, von Rie­sen und tap­fe­ren Köni­gen gear­bei­tet. Eben­so wur­den die früh­bür­ger­li­chen Unter­hal­tungs­ro­ma­ne geplün­dert, um vom „Wunsch­hüt­chen“ zu erzäh­len, oder vom „Säckel“, der nie­mals leer wird. Denn die Gele­gen­heit mach­te die Erzäh­ler eben auch zu Die­ben, die sich hem­mungs­los bedien­ten in den Lite­ra­tu­ren und Tra­di­tio­nen aller Zei­ten, die ihnen greif­bar waren, ohne sich um Motiv­ket­ten zu küm­mern oder nach dem Alter der Bau­stei­ne zu fra­gen, die sie sich aus den Stein­brü­chen der Ver­gan­gen­heit brachen.

Das „Wesen“ lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­cher Gat­tun­gen wird vor­sichts­hal­ber „ide­al­ty­pisch“ ver­stan­den, man darf nicht erwar­ten, sie in der rau­en Wirk­lich­keit anzu­tref­fen, es sei denn als Misch­form und Zwit­ter. Daher lässt sich die For­schung auch nicht beir­ren, wenn man­che Bro­cken auf­fal­lend quer zu den Schub­la­den lie­gen. Schon als die Brü­der Grimm die ers­te Samm­lung iri­scher Volks­er­zäh­lun­gen (1825 von Tho­mas Crof­ton Cro­ker her­aus­ge­ge­ben) ins Deut­sche über­setz­ten, waren sie sich nicht schlüs­sig, womit sie es zu tun hat­ten. Eigent­lich ent­spra­chen sie nicht der pos­tu­lier­ten Form des Mär­chens, sie erklär­ten sie zu „Sagen, in die bäu­er­li­che Berich­te von Geis­ter­we­sen gött­li­cher Abstam­mung, wel­che aus alten Mytho­lo­gien her­rühr­ten, ein­ge­sprengt sei­en“ (Het­man, S. 9). Schließ­lich aber beti­tel­ten sie den Band den­noch als „iri­sche Elfenmärchen“.

Der Grund: In Irland wur­de anders erzählt. Auf kar­gen Böden, wo oben­drein alle Arbeits­an­stren­gung nur den eng­li­schen Her­ren zugu­te kam, die aus­schließ­lich der Ertrag ihrer immensen Schaf­her­den inter­es­sier­te, konn­te Arbeit­sam­keit nie zu einer Tugend wer­den. Erzählt wur­de nicht nur in der kur­zen Span­ne zwi­schen Däm­me­rung und Ein­ni­cken. „Sie teil­ten die Nacht in drei Tei­le“, heißt es in einem iri­schen Mär­chen, „zuerst erzähl­ten sie Geschich­ten, dann ‚Fian­nai­ocht‘, und wäh­rend des letz­ten Drit­tels schlie­fen sie ruhig und fest bis zum Mor­gen“ (Het­man, S.74). Und das war offen­bar kei­ne mär­chen­haf­te Über­trei­bung: „Geschich­ten wur­den in der Regel nachts und am win­ter­li­chen Feu­er erzählt, und zwar vom Ende des Herbs­tes bis Mit­te März“ (Del­ar­gy, S. 181). Wo es näch­te­lang am Torf­feu­er aus­har­ren­de Hörer gab, fan­den sich auch Erzäh­ler, die näch­te­lang erzäh­len konn­ten: „In Ibh Rat­hach, Süd-Ker­ry, hör­te ich von einem Bett­ler, der sie­ben Näch­te brauch­te, um eine Geschich­te zu erzäh­len“, berich­tet noch 1945 ein iri­scher Mär­chen­samm­ler. Aber auch die durch­schnitt­li­che­ren Erzäh­ler brach­ten es oft auf Geschich­ten, die Stun­den dau­er­ten. Wer stun­den­lang erzählt, der kann sich kaum mehr an den „abs­trak­ten Stil“ oder die „Flä­chen­haf­tig­keit“ hal­ten, die ihm die Mär­chen­for­schung als Wesens­merk­ma­le der Gat­tung emp­fiehlt, und wird sich an der Wesens­ge­stalt des euro­päi­schen Volks­mär­chens ver­sün­di­gen müs­sen. Die iri­schen „Mär­chen“ ken­nen roman­haft ver­schlun­ge­ne Hand­lun­gen, mehr­strän­gi­ge und inein­an­der geschach­tel­te Hel­den­epi­so­den und sogar aus­ufern­de lie­be­vol­le Beschrei­bun­gen, wie sie spät­mit­tel­al­ter­li­che Spiel­mann­sepen oder früh­bür­ger­li­che Roma­ne kenn­zeich­nen, bei­des (wie die iri­schen Mär­chen) für ein neu­es Publi­kum ver­kitsch­te Heldenepen.

Dass aber die iri­schen Erzäh­ler die alten Epen­stof­fe nicht in die knap­pen „Volks­er­zäh­lun­gen“ auf­split­ter­ten, wie fast über­all sonst in Euro­pa, und dass sie für ihre Mam­mut­er­zäh­lun­gen vor dem Torf­feu­er näch­te­lang aus­har­ren­de Zuhö­rer fan­den, hat schließ­lich einen his­to­ri­schen Grund: Sie erzähl­ten die Geschich­ten von alten iri­schen Kämp­fern und ihrer Tap­fer­keit (zu denen auch die erwähn­ten „Fian­nai­ocht“ gehö­ren) und erzähl­ten damit immer auch gegen die neu­en eng­li­schen Her­ren. Viel­leicht hat es auch damit zu tun, dass vor allem im Schut­ze der Dun­kel­heit und gan­ze Win­ter­näch­te hin­durch erzählt wurde.

8.

Hören hat sei­ne eige­nen Geset­ze. Der Leser kon­zen­triert sich, schal­tet ab und ver­liert sich in sei­ne Lek­tü­re. Nicht nur der Leser eines Romans ist bereit, „ihn gewis­ser­ma­ßen zu ver­schlin­gen“. (Ben­ja­min, S. 247). Hörer machen eher den Ein­druck der Zer­streut­heit, ziel­los her­um­bli­ckend, mit den Zehen im Sand malend, mit den Strick­na­deln klap­pend und den­noch lau­schend. Gera­de die mecha­ni­schen Arbei­ten, wo sie noch einem bio­lo­gi­schen Zeit­maß gehor­chen, set­zen den Kopf frei fürs Zuhö­ren. Und dar­um spricht Wal­ter Ben­ja­min von der Lan­ge­wei­le als dem „Traum­vo­gel, der das Ei der Erfah­rung aus­brü­tet. Sei­ne Nes­ter – die Tätig­kei­ten, die sich innig mit Lan­ge­wei­le ver­bin­den – sind in den Städ­ten schon aus­ge­stor­ben, ver­fal­len auch auf dem Lan­de. Damit ver­liert sich die Gabe des Lau­schens und es ver­schwin­det die Gemein­schaft der Lau­schen­den“ (Ben­ja­min, S. 417). Die letz­ten, die sich anstän­di­ger­wei­se noch lang­wei­len dür­fen – jeden­falls gele­gent­lich -, sind dar­um auch das letz­te ver­läss­li­che Publi­kum des Erzäh­lers: die Kinder.

Die ver­brei­te­te Ver­wechs­lung von Lesen und Hören gip­felt in dein .Satz, mit dem schon die Kin­der­gärt­ne­rin die noto­risch moto­ri­schen Rabau­ken in Schach hält: „Man muss auch ein­mal ler­nen zuzu­hö­ren!“ Wenn sie auf der Erzie­herfach­schu­le noch erzäh­len gelernt hat, hat sie eben­falls gelernt, mit den Kin­dern stets Blick­kon­takt zu hal­ten, wie der Domp­teur mit den gezähm­ten Bes­ti­en. Erzäh­len nach Lehr­plan hat die „Hin­füh­rung zum guten Buch“ im Hin­ter­kopf, wer aber ein Leser wer­den soll, muss bei Zei­ten ler­nen, sich zu kon­zen­trie­ren. Und er wird dabei ver­ler­nen, mit allen fünf Sin­nen zu hören.

Aus dem Leser soll ein Schrei­ber wer­den und kein Erzäh­ler. In den Schul­auf­sät­zen setzt der Leh­rer ein gro­ßes „W“ an den Rand für stö­ren­de Wie­der­ho­lung, denn Stil heißt, die bun­ten Herbst­blät­ter im Stim­mungs­bild mit immer neu­en Wor­ten zu beschrei­ben, Wie­der­ho­lung ist „Kli­schee“. Aber so schnell schreibt kein Rot­stift, wie die Spra­che spricht, sie darf sich hem­mungs­los wie­der­ho­len und wir fin­den sie nicht ein­mal stö­rend. Denn sie spricht „red­un­dant“ für den Fall, dass uns ein Augen­blick ablenkt und damit uns der Faden den­noch nicht ver­lo­ren geht. Dar­um geht es den Erzäh­lern auch nicht wie man­chen Dich­tern, die bekannt­lich ris­kie­ren, ver­kannt zu wer­den und zu Leb­zei­ten unver­stan­den zu bleiben.

Auch geüb­te Erzäh­ler reden nicht wie du und ich und machen sich doch ver­ständ­lich: Sie wie­der­ho­len sich so oft, bis es selbst der Lüm­mel auf der letz­ten Bank noch mit­ge­kriegt hat. „Der Nach­druck bei den Wie­der­ho­lun­gen in münd­li­cher Lite­ra­tur hat sei­nen guten Sinn. Münd­li­che Dich­tung ist – wie alles, was münd­lich ver­mit­telt wird not­wen­di­ger­wei­se sehr flüch­tig. Ein­mal geäu­ßert, kann es – inner­halb der lau­fen­den Erzäh­lung jeden­falls – nicht zurück­ge­holt wer­den. Wie­der­ho­lung hat unter die­sen Umstän­den eine wich­ti­ge Auf­ga­be: es erleich­tert den Zuhö­rern, auf­zu­neh­men, was gesagt wur­de, und gibt dem Erzähler/Sänger die Zuver­sicht, dass sie die Bot­schaft ver­stan­den haben, die er mit­zu­tei­len ver­sucht“ (Fin­ne­gan, S. 129).

Die wie­der­keh­ren­den „Kli­schee“ und die varia­blen, im Erzäh­len ver­schieb­ba­ren „Ver­satz­stü­cke“ der Hand­lung steu­ern nicht nur das Erzäh­len, sie orga­ni­sie­ren auch das Hören, und das des­to mehr, je kom­ple­xer erzählt wird. Es trifft nicht nur, aber eben beson­ders auf die aus­ge­präg­tes­te und kunst­volls­te Erzähl­form, die Hel­den­epik, zu, „dass genau wie für den münd­li­chen Dich­ter For­meln und Scha­blo­nen die not­wen­di­gen Bau­stei­ne für den Aus­druck von Ideen sind, die­se vom münd­li­chen Publi­kum nur – oder am schnells­ten, klars­ten – in Gestalt von bekann­ten, gewohn­ten For­meln und Scha­blo­nen emp­fan­gen wer­den kön­nen“ (Bäuml, S.. 246).

Eine Ahnung davon haben auch die Quas­sel­strip­pen, die im Rund­funk die Maga­zin­sen­dun­gen „mode­rie­ren“, wenn sie mit Gemein­plät­zen, fau­len Scher­zen und abge­grif­fe­nen Redens­ar­ten um sich wer­fen. Und den­noch behält die Haus­frau, die zum Abwasch oder Bügeln das Radio anstellt, kaum mehr ein Wort davon. Weil auch der Rund­funk­spre­cher, noch wo er live redet und Ori­gi­nal­ton rein­schnei­det, lügt wie gedruckt. Am auf­fäl­ligs­ten in den soge­nann­ten Kom­men­ta­ren, wo es von ver­rä­te­ri­schen Wör­tern „nach­ge­ra­de“ wim­melt, auch das ein selt­sam ver­que­res Sprech­wort. Die Kunst der Mode­ra­ti­on ist es, den Anschein per­sön­li­cher Rede zu erzeu­gen und den Hörer doch mit Pro­pa­gan­da abzu­spei­sen statt mit erzähl­ter Erfah­rung. Der Hörer wird mit einem Ton­fall gefüt­tert und um die Erschei­nung des leib­haf­ti­gen Erzäh­lers betro­gen. Und das ist nicht ein Pro­blem der tech­ni­schen Kommunikationsvermittlung:

Der Mode­ra­tor erzählt uns nicht sei­ne Geschich­ten, er tut sei­nen Job, wie es das Pro­gramm­sche­ma dik­tiert und um die Zeit tot­zu­schla­gen, die sei­ne Hörer nicht mehr haben. Auch wer eine Geschich­te vom Hören­sa­gen erzählt, erzählt sie mit den eige­nen Wor­ten, den eige­nen Ges­ten, dem eige­nen Gesicht und dem eige­nen Kör­per: Die Geschich­te wird erfahr­bar und dar­um wirk­lich. Und wer die Geschich­te mit eige­nen Ohren hört und mit eige­nen Augen erzäh­len sieht, glaubt sie ihm in aller Nai­vi­tät und bis aufs Wört­chen. Der Rund­funk­spre­cher fährt ewig durch die Ein­bahn­stra­ße, da hilft kei­ne Tele­fon­dis­kus­si­on und kei­ne Kon­fe­renz­schal­tung. Das nai­ve Hören ist, wo der Erzäh­ler mit allen Sin­nen greif­bar bleibt, von vorn­her­ein „Zwei­weg­kom­mu­ni­ka­ti­on“. Eine „Urform“ der Erzähl­ge­mein­schaft ist das Rei­humer­zäh­len bis hin zum Erzähl­wett­streit. Nach einer Erzäh­lung fal­len Kin­der leicht „spon­tan“ ins Erzäh­len, denn: „Was du kannst, das kann ich auch“

Die Wech­sel­sei­tig­keit der Mit­tei­lung ist schließ­lich das Geheim­nis der erstaun­li­chen Über­lie­fe­rungs­treue münd­li­cher Erzäh­lun­gen. „Man hat sich sel­ten Rechen­schaft dar­über abge­legt, dass das nai­ve Ver­hält­nis des Hörers zu dem Erzäh­ler von dem Inter­es­se, das Erzähl­te zu behal­ten, beherrscht wird. Der Angel­punkt für den unbe­fan­ge­nen Zuhö­rer ist, der Mög­lich­keit der Wie­der­ga­be sich zu ver­si­chern“ (Ben­ja­min, -S. 424). Es sind die ver­ach­te­ten „Kli­schees“, die fest­ste­hen­den For­meln, die wie­der­keh­ren­den Aus­drü­cke, deren er sich am ehes­ten ver­si­chert und die die übri­ge Erzäh­lung hin­ter sich her­zie­hen wie die Angel­schnur den Fisch.

9.

Alles Erzäh­len geht davon aus, dass einer etwas zu erzäh­len hat, und dar­um besitzt nur, wer Erfah­run­gen macht, die­ses „Ver­mö­gen, Erfah­run­gen aus­zu­tau­schen“ (Ben­ja­min, S. 409). Erzäh­lens­wer­te Erfah­run­gen aber sind nicht um die Ecke zu machen. „Wenn einer eine Rei­se macht, dann kann er was erzäh­len, sagt der Volks­mund und denkt sich den Erzäh­ler als einen, der von weit­her kommt. Aber nicht weni­ger gern hört man dem zu, der, red­lich sich näh­rend, im Lan­de geblie­ben ist und des­sen Geschich­ten und Über­lie­fe­run­gen kennt“ (Ben­ja­min, S. 410). Längst ist der tra­di­tio­nel­le Erzäh­ler, von dem Ben­ja­min redet, eine archai­sche Figur gewor­den. Bevor ihm einer hät­te erzäh­len kön­nen, fin­det sich der Volks­mund mit Infor­ma­tio­nen gefüt­tert, dass ihm Hören und Sehen ver­geht. Erzählt wer­den allen­falls noch die klei­nen „pri­va­ten“ Ereig­nis­se und selbst da ent­de­cken wir oft genug die Mach­art der Her­ren, die dem Volk unab­läs­sig aufs Maul schau­en, um es bes­ser zu stop­fen. Doch obwohl wir rund­um infor­miert wer­den auf allen ver­füg­ba­ren Kanä­len, erfah­ren wir merk­wür­dig wenig. Die Bil­der von aus­ge­mer­gel­ten Ver­hun­gern­den kos­ten uns nach dem ers­ten Schreck nur noch ein Ach­sel­zu­cken, die Ver­bre­chen in EI Sal­va­dor erre­gen viel­leicht unse­re intel­lek­tu­el­le Ein­sicht, der Krieg in Afgha­ni­stan lässt uns erschre­ckend kalt. Bis wir viel­leicht auf einen tref­fen, der zwi­schen die fron­ten gera­ten ist und davon erzäh­len kann.

„Das kommt, weil uns kei­ne Bege­ben­heit mehr erreicht, die nicht mit Erklä­run­gen schon durch­setzt wäre“ (Ben­ja­min 2, S. 415). Infor­ma­tio­nen geben vor, uns die Welt und ihre tie­fe­ren Zusam­men­hän­ge zu erklä­ren, und doch kön­nen wir den Infor­man­ten nicht fas­sen hin­ter dem „objek­ti­ven“ Gehalt der Nach­richt. Es ist wie in den Gerichts­pro­zes­sen, in denen die Her­ren vom Geheim­dienst kei­ne Aus­sa­ge­ge­neh­mi­gung erhal­ten, und den­noch lie­gen „Erkennt­nis­se“ vor.

Erzäh­ler brau­chen nicht um ihre Glaub­wür­dig­keit zu ban­gen und kön­nen sich dar­um Erklä­run­gen spa­ren. Infor­ma­tio­nen ent­beh­ren die­ser sinn­li­chen Glaub­haf­tig­keit und müs­sen uns mit Erklä­run­gen über­re­den, die den Wahr­heits­be­weis mit ihrer Genau­ig­keit lie­fern möch­ten, sprach­lich mit ihrer Dif­fe­ren­ziert­heit. Mag sich der Erzäh­ler in For­meln und Kli­schees erge­hen, er bleibt den­noch leib­haf­tig und damit ver­trau­ens­wür­dig. Ja es sind sogar die gän­gi­gen Mün­zen der For­meln und wie­der­keh­ren­den Wen­dun­gen, die dem Hörer den Griff nach dem Erzähl­ten erleich­tern, und die ihm ermög­li­chen, die eige­ne Erfah­rung mit der des Erzäh­lers zu ver­bin­den. Die Erfah­rung des Erzäh­lers wird zur erzähl­ba­ren Erfah­rung des Hörers.

Literatur

  • Franz H. Bäuml: Der Über­gang münd­li­cher zur Artes-bestimm­ten Lite­ra­tur des Mit­tel­al­ters, in: Voorwinden/de Haan: Oral Poet­ry, Darm­stadt 1979 .
  • Wal­ter Ben­ja­min: Der Erzäh­ler. Betrach­tun­gen zum Werk Niko­lai Less­kows., in: Wal­ter Ben­ja­min: Illu­mi­na­tio­nen, Frank­furt 1961
  • Maxi­mi­li­an Braun: Die ser­bo­kroa­ti­sche Volks­epik, in: Klaus v. See: Euro­päi­sche Hel­den­dich­tung, Darm­stadt 1978
  • Lin­da Degh: Latenz und Auf­le­ben des Mär­chen­gu­tes einer Gemein­schaft. Rhein. Jahr­buch für Volks­kun­de 10/1959
  • J. H. Del­ar­gy: The Gae­lic Sto­rytel­ler, in: Pro­cee­dings of the Bri­tish Aca­de­my 31, Lon­don 1945
  • Aure­lio M. Espi­no­sa: Cuent­os popu­la­res espa­no­les, New York 1967
  • Ruth Fin­ne­gan: Oral Poet­ry, Cam­bridge 1977
  • Gebrü­der Grimm: Kin­der- und Haus­mär­chen, Frank­furt 1975, Bd. 1-3 (Ins­eI Taschenbücher)
  • Fre­de­rik Het­man: Iri­sche Mär­chen, Frank­furt 1971
  • Wil­liam Hugh Jan­sen: A Nar­ra­tor: His Reper­toire in Memo­ry and Per­for­mance, Stu­dia Fen­ni­ca 20, Helsinkl1976
  • Erich Köh­ler: Der münd­li­che Cha­rak­ter der Chan­son de Ges­te, in: Klaus v. See, a.a.O.
  • Fran­cis Magoun: Der for­mel­haft-münd­li­che Cha­rak­ter angel­säch­si­scher epi­scher Dich­tung, in: Voorwinden/de Haan, a. a. 0.
  • Patrick B. Mullen: The Tall Tale Sto­ry of a Texas Racon­teur, in: Stu­dia Fen­ni­ca 20, Hel­sin­ki 1976
  • Otto Spieß: Tür­ki­sche Volks­mär­chen. Düsseldorf/Köln 1967

(Zuerst erschie­nen in:
Johan­nes Merkel/ Micha­el Nagel (Hg.): Erzäh­len – die Wie­der­ent­de­ckung einer ver­ges­se­nen Kunst, Rein­bek 1982, s.104-125)