Nora Bur­gos-Becker

Zuerst muss ich viel­leicht ein paar Wor­te zur Insel Chi­loe sagen, auf der ich auf­ge­wach­sen bin, eigent­lich genau­er eine Insel­grup­pe im Süden Chi­les mit Chi­loe als Haupt­in­sel. Gegen­über dem Fest­land war das schon eine Welt für sich, und dar­um hat sich hier eine boden­stän­di­ge Volks­kul­tur bis heu­te erhal­ten kön­nen, die auf die Ver­mi­schung wei­ßer Sied­ler mit den Urein­woh­nern zurück­geht. Sied­ler ist auch nicht ganz zutref­fend; zwar wur­de die Insel Mit­te des 16. Jahr­hun­derts von den Spa­ni­ern besetzt, aber erst als in die­ser Ecke Chi­les hol­län­di­sche und eng­li­sche Pira­ten die spa­ni­schen Gold­schif­fe jag­ten, hat es alle mög­li­chen Wei­ßen dort­hin ver­schla­gen, die als Sied­ler auf der Insel blie­ben. Spä­ter lan­de­ten die Res­te des im Unab­hän­gig­keits­krieg geschla­ge­nen spa­ni­schen Hee­res auf der Insel. See­leu­te wie Sol­da­ten hat­ten natür­lich kaum Frau­en dabei und ver­misch­ten sich daher bald mit den Urein­woh­nern, von denen man auch nicht recht weiß, wo sie her­ka­men, ver­mut­lich waren es Poly­ne­si­er, viel­leicht sogar Mon­go­len, jeden­falls kei­ne India­ner wie auf dem Fest­land. Übri­gens weiß ich auch selbst bis heu­te nicht, wie wir zu unse­rem deut­schen Fami­li­en­na­men kom­men. Zwar sah mein Vater sehr euro­pä­isch aus, aber von deut­schen Ein­wan­de­rern stam­men wir sicher nicht ab, sie kön­nen ihre Her­kunft eigent­lich immer zurück­ver­fol­gen. Außer­dem sie­del­ten die deut­schen Ein­wan­de­rer des 19. Jahr­hun­derts nicht in die­ser Gegend.

Die Ver­mi­schung und die Abge­le­gen­heit erga­ben die beson­de­re Volks­kul­tur Chi­loes, und zu ihr gehört neben Tanz und Musik vor allem das Erzäh­len. Die­se Inseln sind im Volks­glau­ben bevöl­kert von zahl­lo­sen mythi­schen Figu­ren, die jeder Chi­lo­te von klein auf kennt, von denen er erzäh­len hört und selbst erzählt, als wären sie sei­ne Nach­barn. Zum Bei­spiel wur­de oft bei der gegen­sei­ti­gen Aus­hil­fe in der Ern­te­zeit wäh­rend der Arbeits­pau­sen erzählt, und dann erzähl­te jeder reih­um sei­ne höchst per­sön­li­chen Erleb­nis­se mit die­sen Gestal­ten. Neben Hexen, übri­gens eben­so Män­ner wie Frau­en, oder der Meer­jung­frau „Pin­coya“ gibt es da sehr abson­der­li­che Gestal­ten, wie bei­spiels­wei­se den Zwerg „Trau­co“, ein häss­li­cher klei­ner Kerl, dem ein Bein auf dem Rücken ange­wach­sen ist und der in den bis vor kur­zem undurch­dring­li­chen Urwäl­dern leb­te, wohin er die jun­gen Frau­en lock­te, um sie zu ver­ge­wal­ti­gen. Oder der „Basi­lis­co“, eine männ­li­che Schlan­ge mit einem Hah­nen­kamm auf dem Kopf, der unter dem Haus wohnt und nachts her­aus­kommt, um den Atem der Schlä­fer zu fres­sen. Oder das selt­sa­me Geis­ter­schiff der „Caleu­che“, von der ich gleich eine Geschich­te erzäh­len werde.

Zwar wur­de uns Kin­dern auch von Nach­barn oder Ver­wand­ten erzählt, aber hier will ich eigent­lich haupt­säch­lich von mei­nem Vater berich­ten, der ein gro­ßer Erzäh­ler war. Von unse­rer Mut­ter wur­de uns weni­ger erzählt und zudem meist Erleb­nis­se aus ihrer Kind­heit, ihrer Schul­zeit, oder es ging um ihre Eltern und Geschwis­ter. Geschich­ten von Hexen oder Sagen­ge­stal­ten erzähl­te sie nur ganz sel­ten. Der gro­ße Erzäh­ler in der Fami­lie war mein Vater. Er erzähl­te nicht jeden Tag, manch­mal nur, wenn er Lust dazu hat­te, und dann mach­te er es spon­tan und mit viel Ver­gnü­gen. Zum Bei­spiel begann er ger­ne an Win­ter­aben­den nach dem Abend­essen eine Geschich­te zu erzäh­len. Wir saßen dann in der Küche, die Küchen sind bei den Bau­ern von Chi­loe in einem geräu­mi­gen Anbau unter­ge­bracht, wo man nicht nur kocht und isst, son­dern sich auch aus­ruht, und in der Mit­te der Küche steht ein gro­ßer Herd oder Holz­ofen. Wenn Vater anfing, eine Geschich­te zu erzäh­len, berei­te­ten wir uns auf einen Abend vol­ler Erzäh­lun­gen vor, denn stets folg­ten wei­te­re Geschich­ten nach. Die ers­te Geschich­te such­te er sich meis­tens selbst aus, aber die nach­fol­gen­den durf­ten wir uns aus­su­chen. Ande­re Male erzähl­te er tags­über und im Frei­en, in der Mit­tags­pau­se, nach dem Früh­stück oder dem Ves­pern dort, wo er sich gera­de zur Arbeit auf­hielt. Oder er erzähl­te, wäh­rend wir zu Fuß ins Dorf liefen.

Sei­ne Erzäh­lun­gen weck­ten stets den Wunsch, die nächs­te zu hören, und dann noch eine, und das Inter­es­se wuchs von Geschich­te zu Geschich­te (und wir woll­ten damit kei­nes­wegs ver­hin­dern, ins Bett zu müs­sen, denn das Pro­blem kann­ten wir nicht. Wenn wir ins Bett gin­gen, dann weil wir hun­de­mü­de waren. Schließ­lich muss­ten wir täg­lich 12 km zur Schu­le lau­fen, dazu kamen die Spie­le im Frei­en, die Arbei­ten im Hau­se und auf den Fel­dern, die wir mit­ma­chen muss­ten, und das Hüten von Vieh).

Es tat immer weh, wenn wir schließ­lich mei­nen Vater sagen hör­ten: „Gut, die­se Geschich­te, die ich jetzt erzäh­le, ist die letz­te für heu­te.“ Wir hoff­ten dann sehn­süch­tig, dass die nächs­te Vor­stel­lung schon mor­gen statt­fin­den wür­de, was aber fast nie pas­sier­te. Und obwohl sein Reper­toire an Geschich­ten nicht grö­ßer wur­de, lang­weil­ten wir uns nie­mals dabei, die längst bekann­ten Geschich­ten wie­der und wie­der zu hören. Als ich älter wur­de, war ich nur noch wäh­rend der Feri­en zu Hau­se. Dann und sogar noch, als ich schon stu­dier­te, muss­te mir mein Vater bei jedem Besuch Geschich­ten erzäh­len, und er tat es immer mit Ver­gnü­gen. Immer erschie­nen mir die Geschich­ten ganz neu, und doch emp­fand ich sie als ver­traut. Sie gaben mir das Gefühl, zu Hau­se zu sein. Übri­gens mach­ten das alle mei­ne Geschwis­ter genauso.

Das Reper­toire mei­nes Vaters glie­der­te sich in fol­gen­de Sparten:

1. Erleb­nis­se aus sei­nem Leben: sei­ne Kind­heit in Chi­loe, sei­ne Jugend in Pata­go­ni­en, dem süd­li­chen Argen­ti­ni­en, und im Süden Chi­les als Wan­der­ar­bei­ter, als Schaf­sche­rer, als Schaf­hirt und als Frau­en­held, schließ­lich sein Leben nach der Rück­kehr nach Chiloe.

2. Phan­ta­sie­ge­schich­ten aus der ori­en­ta­li­schen und west­li­chen Lite­ra­tur, die er in sei­ner Jugend gele­sen hat­te und die er zu sei­nen eige­nen Geschich­ten umformte.

Die­se Geschich­ten waren am fas­zi­nie­rends­ten für uns, und da er erzähl­te, er habe sie in einem Buch gele­sen, frag­te ich ihn jedes Mal:

„Vater, erin­nerst du dich, wie das Buch hieß?“

„Das wer­de ich nie­mals ver­ges­sen, Tau­send­und­ei­ne Nacht heißt es.“

„Vater, weißt du, wo man das herkriegt?“

„Ach, das ist schwie­rig, ich glau­be, es ist schier unmög­lich. Es ist näm­lich ein uraltes Buch und auch schon drei­ßig Jah­re her, dass ich zufäl­lig in mei­ner Jugend drauf gesto­ßen bin.“

Eines Tages aber trieb ich in der Schul­bi­blio­thek das gelieb­te „Tau­send­und­ei­ne Nacht“ auf, und ich habe es regel­recht ver­schlun­gen auf der Suche nach den Erzäh­lun­gen mei­nes Vaters. Aber wie groß war mei­ne Ent­täu­schung, als das Buch, das doch offen­sicht­lich das glei­che sein muss­te, nicht .eine Geschich­te ent­hielt, die mein Vater erzähl­te. Ich nahm das Buch mit nach Hau­se und zeig­te es ihm:

„Schau, das ist das Buch von den tau­send­und­ein Näch­ten, aber trotz­dem sind die Geschich­ten nicht drin, die du erzählst.“

„Ach“, sag­te mein Vater, „die­ses Buch sieht ganz anders aus als das, das ich ein­mal gele­sen habe.“

Beim Erzäh­len benutz­te mein Vater eini­ge schwie­ri­ge und in der All­tags­spra­che unge­wöhn­li­che Wör­ter, die er wahr­schein­lich aus dem Buch­text behal­ten hat­te, teil­wei­se an Angel­punk­ten der Erzäh­lung, und er mach­te damit sei­ne Geschich­ten noch span­nen­der, denn wir muss­ten die Bedeu­tung aus dem Zusam­men­hang enträtseln.

3.Erlebnisse mit Sagen­ge­stal­ten von der Insel Chiloe

Das Reper­toire sei­ner Geschich­ten war ziem­lich fest, aber den­noch sehr varia­ti­ons­fä­hig und in gewis­ser Wei­se für uns immer neu. Es ist bezeich­nend, dass mein Vater beim Erzäh­len sol­cher Geschich­ten (übri­gens eben­so wie bei den ande­ren Erzäh­lun­gen) sich so leben­dig, klar, ein­fach und gegen­ständ­lich aus­drück­te, in Wor­ten, Ges­ten und kör­per­li­chem Aus­druck, ja sogar die Plät­ze beschrieb, wo es pas­siert sein soll­te, und die Namen der betref­fen­den Per­so­nen nann­te, dass nie­mand auf die Idee kam, er hät­te es nicht selbst so erlebt. Noch die phan­tas­tischs­ten Geschich­ten ent­hiel­ten immer auch etwas Wirk­li­ches und All­täg­li­ches, etwas Greif­ba­res und Sicht­ba­res und damit die Mög­lich­keit, wahr zu sein.

Auch erleb­te er sie erzäh­lend sicht­lich nach und ließ kei­nen Platz für Zwei­fel. Des­halb blieb ich selbst spä­ter noch lang im Zwei­fel: Einer­seits konn­te ich nicht dran zwei­feln, dass mein Vater das alles nicht erlebt hät­te. Ande­rer­seits und in sich betrach­tet, konn­te ich kaum glau­ben, dass sie wahr waren. Wenn sie aber doch mein Vater erlebt hat­te, muss­ten sie doch wahr sein!

Eine die­ser Phan­ta­sie­fi­gu­ren will ich kurz schil­dern, damit man die nach­fol­gen­de Erzäh­lung bes­ser ver­steht: Die „Caleu­che“. Sie ist ein gro­ßes und sagen­haft aus­ge­stat­te­tes Schiff, eine Art Geis­ter­schiff, und doch nicht nur ein Phan­ta­sie­ge­bil­de, son­dern ein wirk­li­ches Schiff. Zwar fährt sie wie ein Unter­see­boot die meis­te Zeit unter Was­ser, hat aber auch Segel, mit denen sie sich über Was­ser bewegt und die sie streicht, um anzu­hal­ten. Ihre Besat­zung besteht aus ganz gewöhn­li­chen Leu­ten und dar­un­ter nicht weni­ge Chi­lo­ten: Män­ner wie Frau­en, die eines Tages plötz­lich ver­schwan­den und nie mehr zurück­kehr­ten, nach­dem sie zum Fischen aufs Meer gefah­ren waren oder am Strand See­tie­re fin­gen. Um in der Mann­schaft der „Caleu­che“ auf­ge­nom­men zu wer­den, muss­ten sie aller­dings ihre See­len einer bösen Macht ver­schrei­ben, die man­che „Dämon“ nen­nen oder Teu­fel. Es sind also weder wie­der auf­er­stan­de­ne Tote oder Gespens­ter von Ver­stor­be­nen, im Gegen­teil, um auf der „Caleu­che“ anzu­heu­ern, stirbt man kei­nen phy­si­schen, son­dern sozu­sa­gen einen geis­ti­gen, mora­li­schen und see­li­schen Tod. Sei­ne See­le ver­schrei­ben bedeu­tet den bes­ten Teil sei­ner selbst her­zu­ge­ben, sei­ne Iden­ti­tät zu ver­lie­ren, sich selbst auf­zu­ge­ben. Dafür wird man für den Rest des Lebens mit uner­schöpf­li­chen Reich­tü­mern belohnt, mate­ri­el­len Gütern und fleisch­li­chen Genüs­sen. Wer mit der „Caleu­che“ in Kon­takt kommt (und das pas­siert immer nur armen Leu­ten), steht vor der Ent­schei­dung, arm zu blei­ben und sei­ne Iden­ti­tät zu wah­ren oder über Nacht reich zu wer­den um den Preis, sich selbst auf­zu­ge­ben, sei­nen Kör­per von sei­ner See­le abzuspalten.

Aber nicht alle, die mit der „Caleu­che“ in Bezie­hung tre­ten, heu­ern auf dem Schiff an, man­che arbei­ten nur mit der Besat­zung zusam­men und ihre Häu­ser die­nen als Stütz­punkt, zum Bei­spiel stel­len sie von Zeit zu Zeit ihre Häu­ser für die sagen­haf­ten Gela­ge der Matro­sen der „Caleu­che“ zur Ver­fü­gung. Aber auch dafür müs­sen sie ihre See­le ver­schrei­ben und wer­den unvor­stell­bar reich. Wenn des­halb jemand aus dem Dorf über Nacht reich wird (indem er zum Bei­spiel einen Laden auf­macht), ohne dass man sich ein­deu­tig erklä­ren kann, woher der Reich­tum stammt, dann wird ver­mu­tet, er arbei­te mit den Leu­ten von der „Caleu­che“ zusammen.

Aller­dings kann nie­mand von sich aus mit der „Caleu­che“ in Kon­takt tre­ten, die Initia­ti­ve geht immer von ihr aus. Man kann anneh­men oder ableh­nen, aber meist sind die Betref­fen­den von der Aus­sicht auf ein leich­tes und beque­mes Leben so sehr ver­sucht, dass sie mit­ma­chen. Haben sie aber ein­mal zuge­stimmt, kön­nen sie es nicht mehr rück­gän­gig machen, und wenn sie es noch so sehr bereu­en. Die Rache der „Caleu­che“ wäre grau­sam und uner­bitt­lich: Plötz­li­cher mate­ri­el­ler Zusam­men­bruch, Krank­hei­ten und schließ­lich der Tod.

Das Geis­ter­schiff der „Caleu­che“ erscheint fast immer nachts, in Hafen­nä­he oder an ein­sa­men Plät­zen, wo Leu­te woh­nen, ein Schiff, hell, mit far­bi­gen Lich­tern erleuch­tet, das jeden blen­det, dem es erscheint, bis es plötz­lich inner­halb von Sekun­den und ohne den gerings­ten Laut in den Tie­fen des Mee­res versinkt.

Im Innern ist das Schiff mit unfass­ba­rem Reich­tum ein­ge­rich­tet. Das Geschirr ist aus Gold, Sil­ber, Kris­tall und Dia­man­ten. Män­ner wie Frau­en sind sagen­haft reich geklei­det. Möbel, Vor­hän­ge und Bet­ten sind aus Spit­zen und Samt, ja sogar die Wän­de. Der Boden ist mit wun­der­ba­ren Tep­pi­chen belegt. Die Matro­sen der „Caleu­che“ ver­brin­gen ihr Leben mit Fes­ten und Unter­hal­tun­gen, und ihre ein­zi­ge Sor­ge ist, Kon­tak­te zu ver­schie­de­nen Plät­zen her­zu­stel­len, um gele­gent­lich fes­ten Boden betre­ten zu kön­nen. Schö­ne und jun­ge Frau­en oder Män­ner wer­den von der „Caleu­che“ bevor­zugt ange­heu­ert, und wer ein­mal auf dem Schiff ist, wird in völ­li­ger Gleich­heit auf­ge­nom­men und nimmt an die­sem Leben und allen sei­nen Ver­gnü­gun­gen teil.

„Drei Her­ren in schwar­zem Gummi“

Vom Geis­ter­schiff „Caleu­che“ erzähl­te mein Vater fol­gen­de Geschich­te, und obwohl Hun­der­te von Geschich­ten sich dar­um ran­ken, habe ich die­se Geschich­te nie von ande­ren gehört: es war sein Erleb­nis mit der Besat­zung des sagen­haf­ten Schiffes.

Als ich klein war (erzähl­te mein Vater), so klein, dass ich noch nicht in die Schu­le ging – ich ging aller­dings erst mit neun Jah­ren in die Schu­le -, da tauch­ten bei uns eines Tages unter Mit­tag drei rie­sen­gro­ße kräf­ti­ge Ker­le auf, sehr selt­sa­me Gestal­ten und völ­lig in schwar­ze Gum­mi­an­zü­ge geklei­det. Sie kamen vor unse­re Haus­tür und frag­ten, ob sie mit mei­nen Eltern reden könn­ten, aber ganz pri­vat. Ich lief los, um mei­ne Eltern zu holen, die in der Nähe auf dem Feld arbei­te­ten, und sie war­te­ten ruhig vor unse­rer Haus­tür. Mei­ne Eltern kamen und behan­del­ten die drei mit Respekt und sehr höf­lich, ja sogar ein biss­chen ängst­lich. Sie frag­ten, was sie wünsch­ten, und dann führ­ten sie sie ins Wohn­zim­mer und lie­ßen mich in der Küche ste­hen, sie sperr­ten sogar die Türe ab, damit ich nicht rein­kom­men und zuhö­ren konn­te. Klar, dass ich nicht die gan­ze Zeit brav in der Küche hocken blieb – ihre Unter­hal­tung dau­er­te ja auch fast bis zum Dun­kel­wer­den -, ich schlich mich natür­lich an die Tür und leg­te das Ohr ans Schlüs­sel­loch, aber ich konn­te kein Wort von ihrem Gespräch hören, und so ging ich lie­ber wie­der nach drau­ßen zum Spie­len. Bis plötz­lich die drei Gestal­ten in ihren schwar­zen Gum­mi­an­zü­gen aus dem Haus kamen, mei­nen Eltern die Hand gaben und in Rich­tung auf den Strand davon­gin­gen. Und neu­gie­rig, wie ich auf die­ses gan­ze geheim­nis­vol­le Getue war, ver­steck­te ich mich hin­ter einem Busch und beob­ach­te­te, was sie trei­ben wür­den, und wie groß war mei­ne Über­ra­schung, als sie gera­de­aus ins Meer lie­fen und alle drei im glei­chen Moment unter Was­ser ver­schwan­den, ohne die gerings­te Spur zu hin­ter­las­sen. Ich war­te­te noch, bis ich müde war, ich dach­te, es müss­te irgend etwas von ihnen ange­schwemmt wer­den, aber umsonst, ich sah und hör­te nie mehr von ihnen. Als ich heim­kam, waren mei­ne Eltern am Strei­ten, ja um ein Haar hät­ten sie sich noch geschlagen.

„Du bist aber auch wirk­lich zu dumm! Was für Pech, dass ich dich gehei­ra­tet habe, jetzt blei­be ich ein Leben lang ein armer Teu­fel. Das Ange­bot die­ser Her­ren ein­fach aus­zu­schla­gen, als ob einem jeden Tag so was ange­bo­ten wür­de!“ sag­te mein Vater zur Mut­ter, und sie sag­te darauf:

„Du Scheiß­kerl erhitzt dich für die ers­te Sache, die sie dir vor die Nase set­zen, ohne eine Sekun­de an mich zuden­ken. Woher soll ich jeden Frei­tag zwei schwar­ze Hüh­ner neh­men für die Gela­ge die­ser Herrschaften.“

„Ist das viel­leicht ein Pro­blem? Dann zie­hen wir eben Hüh­ner auf, und wenn das nicht reicht, kau­fen wir sie von den Nachbarn.“

„Jawohl, aber es müs­sen schwar­ze Hüh­ner sein, und sobald wir kei­ne schwar­zen Hüh­ner mehr haben und die Nach­barn auch nicht, na, was ist dann? Nein, ich ver­spre­che nicht, jeden Frei­tag schwar­ze Hüh­ner zu ver­kau­fen, jeden Frei­tag mei­nes Lebens, stell dir das vor, und an dem Tag, an dem wir die­se ver­damm­ten schwar­zen Hüh­ner nicht haben, kön­nen sie mit uns machen, was sie wol­len. So war der Ver­trag, sie haben es uns klar und deut­lich gesagt. Oder hast du das viel­leicht über­hört? Und über­haupt, was bringt uns das, Mil­lio­nen zu besit­zen und jede Art von Luxus, wenn wir am Ende nicht ein­mal über uns selbst bestim­men kön­nen. Nein, mein Alter, die­se Herr­schaf­ten sol­len mit ihren Reich­tü­mern und ihren schwar­zen Hüh­nern woan­ders hin­ge­hen und sich ein paar Dumm­köp­fe oder Ehr­geiz­lin­ge suchen, ich will lie­ber in mei­ner Armut leben und mei­ne Hüh­ner sel­ber essen, egal von wel­cher Farbe.“

„Irgend­wie hast du Recht, Alte, am Ende ist das doch siche­rer“, sag­te schließ­lich mein Vater noch nach­denk­lich und gab nach!

Als ich mei­nen Eltern erzähl­te, was ich am Strand gese­hen hat­te und wie die drei Rie­sen­kerle (sie waren gut und gern zwei Meter groß) unter­tauch­ten, indem sie direkt ins Was­ser rein­lie­fen, waren sie heil­froh, dass sie sich dar­auf nicht ein­ge­las­sen hat­ten. Rich­tig erleich­tert waren sie, denn es ist ja klar, dass das nur Leu­te von der „Caleu­che“ gewe­sen sein kön­nen. Noch vie­le Mona­te spä­ter frag­ten mei­ne Eltern alle mög­li­chen Leu­te danach, aber nie­mand hat­te irgend­wo in der Umge­bung die drei Rie­sen­kerle gese­hen in ihren Anzü­gen aus schwar­zem Gummi.

„Der wider­spens­ti­ge Baumstumpf“

Die nächs­te Geschich­te ist nur eine klei­ne Epi­so­de, und ich habe sie als Kind mit mei­nem Vater erlebt, aber sie zeigt, wie sehr ihm Phan­ta­sie und Wirk­lich­keit erzäh­lend zusammenflossen.

Mein Vater war damals schon ziem­lich alt, aber er kann­te kei­ne Ruhe. Ich bin das jüngs­te Kind einer kin­der­rei­chen Fami­lie, und ich war fast die ein­zi­ge, die noch mit mei­nen Eltern auf dem Lan­de wohn­te. An einem Sonn­tag­nach­mit­tag mein­te mein Vater, ich sol­le mit­kom­men, er woll­te den letz­ten Baum­stumpf her­aus­hau­en, der noch auf dem frucht­ba­ren Land am Fluss steck­te. Es war der Stumpf einer rie­si­gen Eiche, gut einen Meter im Durch­mes­ser. „Heu­te schnei­den wir nur die waa­ge­rech­ten Wurz­e­in aus“, sag­te mein Vater, als er sich die Axt schul­ter­te und wir zum Fluss­ufer gingen.

Dort beschäf­tig­te ich mich damit, Kreb­se aus dem Fluss zu fan­gen, eini­ge Schrit­te wei­ter mach­te sich mein Vater an den alten Baum­stumpf. Aber es dau­er­te nur eini­ge Minu­ten, da rief er nach mir und sag­te mir mit Erschüt­te­rung in der Stim­me: „Kind, komm her! Schau, ich kann noch kaum glau­ben, was mir eben pas­siert ist, und viel­leicht glaubst du es auch nicht, aber ich hab es mit eige­nen Ohren gehört.“

Ich war erschro­cken über das blas­se und beweg­te Gesicht mei­nes Vaters und ahn­te, dass etwas Erns­te­res pas­siert sein muss­te. „Die­ser Baum­stumpf, den du hier siehst, alt, ein­sam und morsch, hat mich gera­de angeredet.“

„Wirk­lich, Vater, ich kann es dir gar nicht glau­ben. Die­ser Stumpf hat gere­det? Und was hat er dir gesagt?“ frag­te ich zweifelnd.

„Jawohl, Kind“, sag­te mein Vater, „ich war gera­de dabei, ihm den ers­ten Schlag zu geben, als plötz­lich eine tie­fe Stim­me unter den Wur­zeln die­ses Stump­fes, den ich auch für abge­stor­ben hielt, vor­kam und sag­te: <Mann, schämst du dich nicht? Wie kannst du es fer­tig brin­gen, mich hier raus­zu­ho­len, wo ich gebo­ren wur­de und gewach­sen bin? Jah­re­lang hast du mich über­se­hen und jetzt willst du mich ver­schwin­den las­sen! Ich bin der letz­te Über­le­ben­de des Urwal­des, den dein Vater aus­rot­te­te, ich bin der ein­zi­ge Über­le­ben­de, und alles, was ich noch habe, sind mei­ne tie­fen Wur­zeln. Dein Vater wuss­te, dass es nicht leicht wäre, mich hier raus­zu­krie­gen, und er ließ mich drin. Du hast mich alle die­se Jah­re über­le­ben las­sen, dei­ne Kin­der emi­grier­ten inzwi­schen in die gro­ßen Städ­te und ver­lie­ßen dich und dei­ne Fel­der. Wenn du stirbst, wer­den sich die Fel­der wie­der in Wäl­der ver­wan­deln. Und das möch­te ich noch sehen, ich möch­te wie­der einer unter vie­len sein mit­ten im Wald. Lass mich hier drinbleiben!“

Ohne mei­ne Ungläu­big­keit ver­ber­gen zu kön­nen, frag­te ich ihn: „Papa, hast du das alles wirk­lich aus dem Baum­stumpf gehört? Ich hab doch auch nichts gehört.“

Dar­auf sag­te er: „Aber sicher, und die­ser alte Stumpf hat recht. Da ist nichts zu machen. Ich wür­de an sei­ner Stel­le das glei­che sagen. Komm, wir gehen heim!“

Spä­ter kam ich noch Hun­der­te Male an dem alten Baum­stumpf vor­bei und jedes Mal, wenn ich ihn sah, unbe­weg­lich und fest, freu­te ich mich bis ins Inners­te, denn er hat­te sein Recht ver­tei­digt zu über­le­ben, Stumpf zu blei­ben, sei­ne Wur­zeln zu behal­ten, an sei­nem ange­stamm­ten Platz zu blei­ben. Hun­der­te Male betrach­te­te ich ihn bewun­dernd von fer­ne, und nie kam ich ihm zu nahe aus Angst, er wür­de mit mir reden und vor allem aus Angst, nicht zu wis­sen, was ich ihm ant­wor­ten soll­te, denn in mei­ner Spra­che habe ich nie gelernt, zu einem Baum­stumpf zu sprechen.

(Zuerst erschie­nen in: Johan­nes Merkel/ Micha­el Nagel:
Erzäh­len – Die Wie­der­ent­de­ckung einer ver­ges­se­nen Kunst, Rein­bek 1982 s. 342-344)