Nora Burgos-Becker
Zuerst muss ich vielleicht ein paar Worte zur Insel Chiloe sagen, auf der ich aufgewachsen bin, eigentlich genauer eine Inselgruppe im Süden Chiles mit Chiloe als Hauptinsel. Gegenüber dem Festland war das schon eine Welt für sich, und darum hat sich hier eine bodenständige Volkskultur bis heute erhalten können, die auf die Vermischung weißer Siedler mit den Ureinwohnern zurückgeht. Siedler ist auch nicht ganz zutreffend; zwar wurde die Insel Mitte des 16. Jahrhunderts von den Spaniern besetzt, aber erst als in dieser Ecke Chiles holländische und englische Piraten die spanischen Goldschiffe jagten, hat es alle möglichen Weißen dorthin verschlagen, die als Siedler auf der Insel blieben. Später landeten die Reste des im Unabhängigkeitskrieg geschlagenen spanischen Heeres auf der Insel. Seeleute wie Soldaten hatten natürlich kaum Frauen dabei und vermischten sich daher bald mit den Ureinwohnern, von denen man auch nicht recht weiß, wo sie herkamen, vermutlich waren es Polynesier, vielleicht sogar Mongolen, jedenfalls keine Indianer wie auf dem Festland. Übrigens weiß ich auch selbst bis heute nicht, wie wir zu unserem deutschen Familiennamen kommen. Zwar sah mein Vater sehr europäisch aus, aber von deutschen Einwanderern stammen wir sicher nicht ab, sie können ihre Herkunft eigentlich immer zurückverfolgen. Außerdem siedelten die deutschen Einwanderer des 19. Jahrhunderts nicht in dieser Gegend.
Die Vermischung und die Abgelegenheit ergaben die besondere Volkskultur Chiloes, und zu ihr gehört neben Tanz und Musik vor allem das Erzählen. Diese Inseln sind im Volksglauben bevölkert von zahllosen mythischen Figuren, die jeder Chilote von klein auf kennt, von denen er erzählen hört und selbst erzählt, als wären sie seine Nachbarn. Zum Beispiel wurde oft bei der gegenseitigen Aushilfe in der Erntezeit während der Arbeitspausen erzählt, und dann erzählte jeder reihum seine höchst persönlichen Erlebnisse mit diesen Gestalten. Neben Hexen, übrigens ebenso Männer wie Frauen, oder der Meerjungfrau „Pincoya“ gibt es da sehr absonderliche Gestalten, wie beispielsweise den Zwerg „Trauco“, ein hässlicher kleiner Kerl, dem ein Bein auf dem Rücken angewachsen ist und der in den bis vor kurzem undurchdringlichen Urwäldern lebte, wohin er die jungen Frauen lockte, um sie zu vergewaltigen. Oder der „Basilisco“, eine männliche Schlange mit einem Hahnenkamm auf dem Kopf, der unter dem Haus wohnt und nachts herauskommt, um den Atem der Schläfer zu fressen. Oder das seltsame Geisterschiff der „Caleuche“, von der ich gleich eine Geschichte erzählen werde.
Zwar wurde uns Kindern auch von Nachbarn oder Verwandten erzählt, aber hier will ich eigentlich hauptsächlich von meinem Vater berichten, der ein großer Erzähler war. Von unserer Mutter wurde uns weniger erzählt und zudem meist Erlebnisse aus ihrer Kindheit, ihrer Schulzeit, oder es ging um ihre Eltern und Geschwister. Geschichten von Hexen oder Sagengestalten erzählte sie nur ganz selten. Der große Erzähler in der Familie war mein Vater. Er erzählte nicht jeden Tag, manchmal nur, wenn er Lust dazu hatte, und dann machte er es spontan und mit viel Vergnügen. Zum Beispiel begann er gerne an Winterabenden nach dem Abendessen eine Geschichte zu erzählen. Wir saßen dann in der Küche, die Küchen sind bei den Bauern von Chiloe in einem geräumigen Anbau untergebracht, wo man nicht nur kocht und isst, sondern sich auch ausruht, und in der Mitte der Küche steht ein großer Herd oder Holzofen. Wenn Vater anfing, eine Geschichte zu erzählen, bereiteten wir uns auf einen Abend voller Erzählungen vor, denn stets folgten weitere Geschichten nach. Die erste Geschichte suchte er sich meistens selbst aus, aber die nachfolgenden durften wir uns aussuchen. Andere Male erzählte er tagsüber und im Freien, in der Mittagspause, nach dem Frühstück oder dem Vespern dort, wo er sich gerade zur Arbeit aufhielt. Oder er erzählte, während wir zu Fuß ins Dorf liefen.
Seine Erzählungen weckten stets den Wunsch, die nächste zu hören, und dann noch eine, und das Interesse wuchs von Geschichte zu Geschichte (und wir wollten damit keineswegs verhindern, ins Bett zu müssen, denn das Problem kannten wir nicht. Wenn wir ins Bett gingen, dann weil wir hundemüde waren. Schließlich mussten wir täglich 12 km zur Schule laufen, dazu kamen die Spiele im Freien, die Arbeiten im Hause und auf den Feldern, die wir mitmachen mussten, und das Hüten von Vieh).
Es tat immer weh, wenn wir schließlich meinen Vater sagen hörten: „Gut, diese Geschichte, die ich jetzt erzähle, ist die letzte für heute.“ Wir hofften dann sehnsüchtig, dass die nächste Vorstellung schon morgen stattfinden würde, was aber fast nie passierte. Und obwohl sein Repertoire an Geschichten nicht größer wurde, langweilten wir uns niemals dabei, die längst bekannten Geschichten wieder und wieder zu hören. Als ich älter wurde, war ich nur noch während der Ferien zu Hause. Dann und sogar noch, als ich schon studierte, musste mir mein Vater bei jedem Besuch Geschichten erzählen, und er tat es immer mit Vergnügen. Immer erschienen mir die Geschichten ganz neu, und doch empfand ich sie als vertraut. Sie gaben mir das Gefühl, zu Hause zu sein. Übrigens machten das alle meine Geschwister genauso.
Das Repertoire meines Vaters gliederte sich in folgende Sparten:
1. Erlebnisse aus seinem Leben: seine Kindheit in Chiloe, seine Jugend in Patagonien, dem südlichen Argentinien, und im Süden Chiles als Wanderarbeiter, als Schafscherer, als Schafhirt und als Frauenheld, schließlich sein Leben nach der Rückkehr nach Chiloe.
2. Phantasiegeschichten aus der orientalischen und westlichen Literatur, die er in seiner Jugend gelesen hatte und die er zu seinen eigenen Geschichten umformte.
Diese Geschichten waren am faszinierendsten für uns, und da er erzählte, er habe sie in einem Buch gelesen, fragte ich ihn jedes Mal:
„Vater, erinnerst du dich, wie das Buch hieß?“
„Das werde ich niemals vergessen, Tausendundeine Nacht heißt es.“
„Vater, weißt du, wo man das herkriegt?“
„Ach, das ist schwierig, ich glaube, es ist schier unmöglich. Es ist nämlich ein uraltes Buch und auch schon dreißig Jahre her, dass ich zufällig in meiner Jugend drauf gestoßen bin.“
Eines Tages aber trieb ich in der Schulbibliothek das geliebte „Tausendundeine Nacht“ auf, und ich habe es regelrecht verschlungen auf der Suche nach den Erzählungen meines Vaters. Aber wie groß war meine Enttäuschung, als das Buch, das doch offensichtlich das gleiche sein musste, nicht .eine Geschichte enthielt, die mein Vater erzählte. Ich nahm das Buch mit nach Hause und zeigte es ihm:
„Schau, das ist das Buch von den tausendundein Nächten, aber trotzdem sind die Geschichten nicht drin, die du erzählst.“
„Ach“, sagte mein Vater, „dieses Buch sieht ganz anders aus als das, das ich einmal gelesen habe.“
Beim Erzählen benutzte mein Vater einige schwierige und in der Alltagssprache ungewöhnliche Wörter, die er wahrscheinlich aus dem Buchtext behalten hatte, teilweise an Angelpunkten der Erzählung, und er machte damit seine Geschichten noch spannender, denn wir mussten die Bedeutung aus dem Zusammenhang enträtseln.
3.Erlebnisse mit Sagengestalten von der Insel Chiloe
Das Repertoire seiner Geschichten war ziemlich fest, aber dennoch sehr variationsfähig und in gewisser Weise für uns immer neu. Es ist bezeichnend, dass mein Vater beim Erzählen solcher Geschichten (übrigens ebenso wie bei den anderen Erzählungen) sich so lebendig, klar, einfach und gegenständlich ausdrückte, in Worten, Gesten und körperlichem Ausdruck, ja sogar die Plätze beschrieb, wo es passiert sein sollte, und die Namen der betreffenden Personen nannte, dass niemand auf die Idee kam, er hätte es nicht selbst so erlebt. Noch die phantastischsten Geschichten enthielten immer auch etwas Wirkliches und Alltägliches, etwas Greifbares und Sichtbares und damit die Möglichkeit, wahr zu sein.
Auch erlebte er sie erzählend sichtlich nach und ließ keinen Platz für Zweifel. Deshalb blieb ich selbst später noch lang im Zweifel: Einerseits konnte ich nicht dran zweifeln, dass mein Vater das alles nicht erlebt hätte. Andererseits und in sich betrachtet, konnte ich kaum glauben, dass sie wahr waren. Wenn sie aber doch mein Vater erlebt hatte, mussten sie doch wahr sein!
Eine dieser Phantasiefiguren will ich kurz schildern, damit man die nachfolgende Erzählung besser versteht: Die „Caleuche“. Sie ist ein großes und sagenhaft ausgestattetes Schiff, eine Art Geisterschiff, und doch nicht nur ein Phantasiegebilde, sondern ein wirkliches Schiff. Zwar fährt sie wie ein Unterseeboot die meiste Zeit unter Wasser, hat aber auch Segel, mit denen sie sich über Wasser bewegt und die sie streicht, um anzuhalten. Ihre Besatzung besteht aus ganz gewöhnlichen Leuten und darunter nicht wenige Chiloten: Männer wie Frauen, die eines Tages plötzlich verschwanden und nie mehr zurückkehrten, nachdem sie zum Fischen aufs Meer gefahren waren oder am Strand Seetiere fingen. Um in der Mannschaft der „Caleuche“ aufgenommen zu werden, mussten sie allerdings ihre Seelen einer bösen Macht verschreiben, die manche „Dämon“ nennen oder Teufel. Es sind also weder wieder auferstandene Tote oder Gespenster von Verstorbenen, im Gegenteil, um auf der „Caleuche“ anzuheuern, stirbt man keinen physischen, sondern sozusagen einen geistigen, moralischen und seelischen Tod. Seine Seele verschreiben bedeutet den besten Teil seiner selbst herzugeben, seine Identität zu verlieren, sich selbst aufzugeben. Dafür wird man für den Rest des Lebens mit unerschöpflichen Reichtümern belohnt, materiellen Gütern und fleischlichen Genüssen. Wer mit der „Caleuche“ in Kontakt kommt (und das passiert immer nur armen Leuten), steht vor der Entscheidung, arm zu bleiben und seine Identität zu wahren oder über Nacht reich zu werden um den Preis, sich selbst aufzugeben, seinen Körper von seiner Seele abzuspalten.
Aber nicht alle, die mit der „Caleuche“ in Beziehung treten, heuern auf dem Schiff an, manche arbeiten nur mit der Besatzung zusammen und ihre Häuser dienen als Stützpunkt, zum Beispiel stellen sie von Zeit zu Zeit ihre Häuser für die sagenhaften Gelage der Matrosen der „Caleuche“ zur Verfügung. Aber auch dafür müssen sie ihre Seele verschreiben und werden unvorstellbar reich. Wenn deshalb jemand aus dem Dorf über Nacht reich wird (indem er zum Beispiel einen Laden aufmacht), ohne dass man sich eindeutig erklären kann, woher der Reichtum stammt, dann wird vermutet, er arbeite mit den Leuten von der „Caleuche“ zusammen.
Allerdings kann niemand von sich aus mit der „Caleuche“ in Kontakt treten, die Initiative geht immer von ihr aus. Man kann annehmen oder ablehnen, aber meist sind die Betreffenden von der Aussicht auf ein leichtes und bequemes Leben so sehr versucht, dass sie mitmachen. Haben sie aber einmal zugestimmt, können sie es nicht mehr rückgängig machen, und wenn sie es noch so sehr bereuen. Die Rache der „Caleuche“ wäre grausam und unerbittlich: Plötzlicher materieller Zusammenbruch, Krankheiten und schließlich der Tod.
Das Geisterschiff der „Caleuche“ erscheint fast immer nachts, in Hafennähe oder an einsamen Plätzen, wo Leute wohnen, ein Schiff, hell, mit farbigen Lichtern erleuchtet, das jeden blendet, dem es erscheint, bis es plötzlich innerhalb von Sekunden und ohne den geringsten Laut in den Tiefen des Meeres versinkt.
Im Innern ist das Schiff mit unfassbarem Reichtum eingerichtet. Das Geschirr ist aus Gold, Silber, Kristall und Diamanten. Männer wie Frauen sind sagenhaft reich gekleidet. Möbel, Vorhänge und Betten sind aus Spitzen und Samt, ja sogar die Wände. Der Boden ist mit wunderbaren Teppichen belegt. Die Matrosen der „Caleuche“ verbringen ihr Leben mit Festen und Unterhaltungen, und ihre einzige Sorge ist, Kontakte zu verschiedenen Plätzen herzustellen, um gelegentlich festen Boden betreten zu können. Schöne und junge Frauen oder Männer werden von der „Caleuche“ bevorzugt angeheuert, und wer einmal auf dem Schiff ist, wird in völliger Gleichheit aufgenommen und nimmt an diesem Leben und allen seinen Vergnügungen teil.
„Drei Herren in schwarzem Gummi“
Vom Geisterschiff „Caleuche“ erzählte mein Vater folgende Geschichte, und obwohl Hunderte von Geschichten sich darum ranken, habe ich diese Geschichte nie von anderen gehört: es war sein Erlebnis mit der Besatzung des sagenhaften Schiffes.
Als ich klein war (erzählte mein Vater), so klein, dass ich noch nicht in die Schule ging – ich ging allerdings erst mit neun Jahren in die Schule -, da tauchten bei uns eines Tages unter Mittag drei riesengroße kräftige Kerle auf, sehr seltsame Gestalten und völlig in schwarze Gummianzüge gekleidet. Sie kamen vor unsere Haustür und fragten, ob sie mit meinen Eltern reden könnten, aber ganz privat. Ich lief los, um meine Eltern zu holen, die in der Nähe auf dem Feld arbeiteten, und sie warteten ruhig vor unserer Haustür. Meine Eltern kamen und behandelten die drei mit Respekt und sehr höflich, ja sogar ein bisschen ängstlich. Sie fragten, was sie wünschten, und dann führten sie sie ins Wohnzimmer und ließen mich in der Küche stehen, sie sperrten sogar die Türe ab, damit ich nicht reinkommen und zuhören konnte. Klar, dass ich nicht die ganze Zeit brav in der Küche hocken blieb – ihre Unterhaltung dauerte ja auch fast bis zum Dunkelwerden -, ich schlich mich natürlich an die Tür und legte das Ohr ans Schlüsselloch, aber ich konnte kein Wort von ihrem Gespräch hören, und so ging ich lieber wieder nach draußen zum Spielen. Bis plötzlich die drei Gestalten in ihren schwarzen Gummianzügen aus dem Haus kamen, meinen Eltern die Hand gaben und in Richtung auf den Strand davongingen. Und neugierig, wie ich auf dieses ganze geheimnisvolle Getue war, versteckte ich mich hinter einem Busch und beobachtete, was sie treiben würden, und wie groß war meine Überraschung, als sie geradeaus ins Meer liefen und alle drei im gleichen Moment unter Wasser verschwanden, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Ich wartete noch, bis ich müde war, ich dachte, es müsste irgend etwas von ihnen angeschwemmt werden, aber umsonst, ich sah und hörte nie mehr von ihnen. Als ich heimkam, waren meine Eltern am Streiten, ja um ein Haar hätten sie sich noch geschlagen.
„Du bist aber auch wirklich zu dumm! Was für Pech, dass ich dich geheiratet habe, jetzt bleibe ich ein Leben lang ein armer Teufel. Das Angebot dieser Herren einfach auszuschlagen, als ob einem jeden Tag so was angeboten würde!“ sagte mein Vater zur Mutter, und sie sagte darauf:
„Du Scheißkerl erhitzt dich für die erste Sache, die sie dir vor die Nase setzen, ohne eine Sekunde an mich zudenken. Woher soll ich jeden Freitag zwei schwarze Hühner nehmen für die Gelage dieser Herrschaften.“
„Ist das vielleicht ein Problem? Dann ziehen wir eben Hühner auf, und wenn das nicht reicht, kaufen wir sie von den Nachbarn.“
„Jawohl, aber es müssen schwarze Hühner sein, und sobald wir keine schwarzen Hühner mehr haben und die Nachbarn auch nicht, na, was ist dann? Nein, ich verspreche nicht, jeden Freitag schwarze Hühner zu verkaufen, jeden Freitag meines Lebens, stell dir das vor, und an dem Tag, an dem wir diese verdammten schwarzen Hühner nicht haben, können sie mit uns machen, was sie wollen. So war der Vertrag, sie haben es uns klar und deutlich gesagt. Oder hast du das vielleicht überhört? Und überhaupt, was bringt uns das, Millionen zu besitzen und jede Art von Luxus, wenn wir am Ende nicht einmal über uns selbst bestimmen können. Nein, mein Alter, diese Herrschaften sollen mit ihren Reichtümern und ihren schwarzen Hühnern woanders hingehen und sich ein paar Dummköpfe oder Ehrgeizlinge suchen, ich will lieber in meiner Armut leben und meine Hühner selber essen, egal von welcher Farbe.“
„Irgendwie hast du Recht, Alte, am Ende ist das doch sicherer“, sagte schließlich mein Vater noch nachdenklich und gab nach!
Als ich meinen Eltern erzählte, was ich am Strand gesehen hatte und wie die drei Riesenkerle (sie waren gut und gern zwei Meter groß) untertauchten, indem sie direkt ins Wasser reinliefen, waren sie heilfroh, dass sie sich darauf nicht eingelassen hatten. Richtig erleichtert waren sie, denn es ist ja klar, dass das nur Leute von der „Caleuche“ gewesen sein können. Noch viele Monate später fragten meine Eltern alle möglichen Leute danach, aber niemand hatte irgendwo in der Umgebung die drei Riesenkerle gesehen in ihren Anzügen aus schwarzem Gummi.
„Der widerspenstige Baumstumpf“
Die nächste Geschichte ist nur eine kleine Episode, und ich habe sie als Kind mit meinem Vater erlebt, aber sie zeigt, wie sehr ihm Phantasie und Wirklichkeit erzählend zusammenflossen.
Mein Vater war damals schon ziemlich alt, aber er kannte keine Ruhe. Ich bin das jüngste Kind einer kinderreichen Familie, und ich war fast die einzige, die noch mit meinen Eltern auf dem Lande wohnte. An einem Sonntagnachmittag meinte mein Vater, ich solle mitkommen, er wollte den letzten Baumstumpf heraushauen, der noch auf dem fruchtbaren Land am Fluss steckte. Es war der Stumpf einer riesigen Eiche, gut einen Meter im Durchmesser. „Heute schneiden wir nur die waagerechten Wurzein aus“, sagte mein Vater, als er sich die Axt schulterte und wir zum Flussufer gingen.
Dort beschäftigte ich mich damit, Krebse aus dem Fluss zu fangen, einige Schritte weiter machte sich mein Vater an den alten Baumstumpf. Aber es dauerte nur einige Minuten, da rief er nach mir und sagte mir mit Erschütterung in der Stimme: „Kind, komm her! Schau, ich kann noch kaum glauben, was mir eben passiert ist, und vielleicht glaubst du es auch nicht, aber ich hab es mit eigenen Ohren gehört.“
Ich war erschrocken über das blasse und bewegte Gesicht meines Vaters und ahnte, dass etwas Ernsteres passiert sein musste. „Dieser Baumstumpf, den du hier siehst, alt, einsam und morsch, hat mich gerade angeredet.“
„Wirklich, Vater, ich kann es dir gar nicht glauben. Dieser Stumpf hat geredet? Und was hat er dir gesagt?“ fragte ich zweifelnd.
„Jawohl, Kind“, sagte mein Vater, „ich war gerade dabei, ihm den ersten Schlag zu geben, als plötzlich eine tiefe Stimme unter den Wurzeln dieses Stumpfes, den ich auch für abgestorben hielt, vorkam und sagte: <Mann, schämst du dich nicht? Wie kannst du es fertig bringen, mich hier rauszuholen, wo ich geboren wurde und gewachsen bin? Jahrelang hast du mich übersehen und jetzt willst du mich verschwinden lassen! Ich bin der letzte Überlebende des Urwaldes, den dein Vater ausrottete, ich bin der einzige Überlebende, und alles, was ich noch habe, sind meine tiefen Wurzeln. Dein Vater wusste, dass es nicht leicht wäre, mich hier rauszukriegen, und er ließ mich drin. Du hast mich alle diese Jahre überleben lassen, deine Kinder emigrierten inzwischen in die großen Städte und verließen dich und deine Felder. Wenn du stirbst, werden sich die Felder wieder in Wälder verwandeln. Und das möchte ich noch sehen, ich möchte wieder einer unter vielen sein mitten im Wald. Lass mich hier drinbleiben!“
Ohne meine Ungläubigkeit verbergen zu können, fragte ich ihn: „Papa, hast du das alles wirklich aus dem Baumstumpf gehört? Ich hab doch auch nichts gehört.“
Darauf sagte er: „Aber sicher, und dieser alte Stumpf hat recht. Da ist nichts zu machen. Ich würde an seiner Stelle das gleiche sagen. Komm, wir gehen heim!“
Später kam ich noch Hunderte Male an dem alten Baumstumpf vorbei und jedes Mal, wenn ich ihn sah, unbeweglich und fest, freute ich mich bis ins Innerste, denn er hatte sein Recht verteidigt zu überleben, Stumpf zu bleiben, seine Wurzeln zu behalten, an seinem angestammten Platz zu bleiben. Hunderte Male betrachtete ich ihn bewundernd von ferne, und nie kam ich ihm zu nahe aus Angst, er würde mit mir reden und vor allem aus Angst, nicht zu wissen, was ich ihm antworten sollte, denn in meiner Sprache habe ich nie gelernt, zu einem Baumstumpf zu sprechen.
(Zuerst erschienen in: Johannes Merkel/ Michael Nagel:
Erzählen – Die Wiederentdeckung einer vergessenen Kunst, Reinbek 1982 s. 342-344)