Bemerkungen zum Erzählen von Märchen

Johan­nes Merkel

Kin­der wer­den auf allen Kanä­len und über alle Medi­en mit Mär­chen­haf­tem und Phan­tas­ti­schen bom­bar­diert, denn >Kin­der brau­chen Mär­chen<. Und doch weiß kaum mehr ein Kind, was ein Mär­chen ist: sie wer­den nur noch sel­ten erzählt. Hin­ter der grau­en Matt­schei­be ver­mi­schen sich Wer­be­spots, galak­ti­sche Aben­teu­er, Tages­schau­bil­der und die Zau­ber­din­ge des alten Mär­chens zu einem unun­ter­scheid­ba­ren Brei, aus dem sich die Kin­der her­aus­fi­schen, was sie zur Bewäl­ti­gung von Tages­er­leb­nis­sen brau­chen. Nicht anders ergeht es dem Mär­chen, das zwi­schen der >kri­ti­schen< Umwelt­ge­schich­te und dem >humor­vol­len< Bil­der­buch in zwei glanz­ka­schier­te Kar­ton­um­schlä­ge ein­ge­klemmt ist. Ver­rä­te­risch bezeich­net der Sprach­ge­brauch der Kin­der alles als >Mär­chen<, was nicht >echt< ist, das heißt, was nicht erleb­bar ist. Ob Mär­chen oder ande­re Geschich­ten, erzäh­lend ver­schwin­det das Phan­tas­ti­sche nicht hin­ter der magi­schen Wand der Matt­schei­be. Weil man sich den Erzäh­ler als >Augen­zeu­gen< grei­fen kann, wird das Erzähl­te begreif­bar, wird in die All­tags­wahr­neh­mung ein­ge­baut, und genau das macht pro­duk­ti­ve Phan­ta­sie aus.

>Erzäh­len< kann aller­hand bedeu­ten, dar­um erst noch ein paar Sät­ze zu dem bei uns ver­brei­te­ten Mär­chen­ton­fall, denn auch hier ist es der Ton, der die Musik macht. In Bre­men saß vor Jah­ren zur Weih­nachts­zeit eine als Groß­müt­ter­chen dra­pier­te Schau­spie­le­rin im Lehn­stuhl in der Aus­la­ge eines Kauf­hau­ses und las über Laut­spre­cher Mär­chen vor. Das ist nicht ganz so ver­rückt, wie es auf den ers­ten Blick scheint, auch von einer berufs­mä­ßi­gen Mär­chen­er­zäh­le­rin lese ich aner­ken­nend, sie erzäh­le >ganz schlicht ohne Pathos, genau­so wie Mär­chen erzählt wer­den müs­sen, die rein durch sich sel­ber wir­ken<. (Eine Mär­chen­er­zäh­le­rin heu­te, Jugend­li­te­ra­tur 1955, H 2, S. 572.) Weil das Mär­chen ja nur auf der >inne­ren Büh­ne der See­le< spielt, wird die Erzähl­wei­se als unwe­sent­lich abge­tan. „Beim Mär­chen­er­zäh­len muss alles von innen her­aus kom­men“ (Inge Auböck, Mär­chen­er­zäh­len und Vor­le­sen, Jugend + Buch Jg. 16, H.4, S. 12), der Rest stellt sich dann von selbst ein. Es ist das Wort, das allein wir­ken soll. Vor zu viel äußer­li­cher Begleit­mu­sik wird aus­ge­spro­chen gewarnt: „Der Aus­druck der zuhö­ren­den Kin­der hilft dem Erzie­her, sich vor Über­trei­bun­gen in Ton, Ges­tik und Mimik zu hüten. Kin­der unter sechs Jah­ren sind zar­te Pflänz­chen, man darf mit ihren Emp­fin­dun­gen kein loses Spiel trei­ben“ (Feli­ci­tas Beck, Mär­chen a/s Schlüs­sel zur Welt, Lahr/ Mün­chen 1977, S. 22). Die Grund­an­schau­ung ist durch­weg Kam­mer­ton und Hei­me­lig­keit und der steht in auf­fal­len­dem Kon­trast zum leben­di­gen und def­ti­gen Vor­trag der volks­tüm­li­chen Mär­chen­er­zäh­ler. Die Gebrü­der Grimm kann­ten kaum akti­ve Erzäh­ler, der Mär­chen­ton, der in ihrem Schlepp­tau ent­stand, rankt sich um die Begrif­fe >Gemüt< und >Poe­sie<, die für die Grimms den Wert des Mär­chens für die Kin­der­stu­be aus­mach­ten, also eine Phan­ta­sie, die sich aus dem All­tag auf lei­sen Soh­len davon­schleicht. Und er füg­te sich ein in eine Erzie­hung, die auch sonst den über­schie­ßen­den kind­li­chen Bewe­gungs­drang bekämpft, noch immer exem­pla­risch ables­bar am Zap­pel­phil­ipp im >Struw­wel­pe­ter<. Wo der Erwach­se­ne solch >sinn­lo­sen< Bewe­gungs­drang in anstän­di­ge und nütz­li­che Bah­nen len­ken woll­te, konn­te er natür­lich erzäh­lend nicht den Ham­pel­mann spielen.

Zugleich soll­te das Kind zur gleich­sam druck­fä­hi­gen Aus­drucks­wei­se erzo­gen wer­den. Wir ken­nen das von der Schu­le her in der Auf­for­de­rung: Bil­de einen voll­stän­di­gen Satz! In der Logik der all­täg­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on been­det oft eine Hand­be­we­gung den Satz viel genau­er. Münd­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­ons­for­men, und dazu gehört auch sti­li­sier­tes Erzäh­len, sind hier nicht mehr gefragt, und bekannt­lich schei­tern vie­le Unter­schicht­kin­der noch immer an die­ser Klip­pe. Die alten volks­tüm­li­chen Mär­chen­er­zäh­ler wür­den bei uns post­wen­dend in der Son­der­schu­le lan­den. Hier wie dort sto­ßen wir auf die Mäßi­gung und Beschnei­dung aller emo­tio­na­len Antrie­be, die jede bür­ger­li­che Erzie­hung wie ein roter Faden durchzieht.

Eine wei­te­re Andeu­tung: Die­se auf die Modu­la­ti­on der Stim­me redu­zier­te Erzähl­wei­se hat einen Bezug zur Errich­tung der vier­ten Wand im Thea­ter, wie sie von der deut­schen Klas­sik in aller Stren­ge gefor­dert wird. Letz­ten Endes hängt sie wohl auch über­haupt zusam­men mit der damals ent­wi­ckel­ten Auf­fas­sung von Kunst. Man kann das im Kon­trast zur Erzähl­wei­se der Volks­er­zäh­ler auf dem Mär­chen­a­bend für Erwach­se­ne beob­ach­ten, wo der Erzäh­ler kon­zert­ar­tig die Varia­ti­ons­fä­hig­keit und Kunst­fer­tig­keit sei­ner Stim­me vor­führt. Mit Kin­dern aller­dings lässt sich die­se Erzähl­wei­se nur schwer durch­hal­ten: Sie ermü­den ent­we­der oder wer­den unru­hig. Es sei denn sie wis­sen, dass sie sich bis zum Ende des Vor­trags nicht muck­sen dür­fen – Kin­dern jeden­falls soll­te man anders erzäh­len. Spa­ren Sie sich die Arbeit, Mär­chen­tex­te Wort für Wort aus­wen­dig zu ler­nen! Das ist ers­tens müh­sam und zwei­tens unsin­nig. Es reicht, das Mär­chen mehr­mals durch­zu­le­sen und sich die ent­schei­den­den Epi­so­den und eini­ge zen­tra­le Wen­dun­gen ein­zu­prä­gen. Und über­all, wo es in den Fin­gern juckt, set­zen Sie die Hän­de in Bewe­gung, die Gezwun­gen­heit im Schoß ver­krampf­ter Hän­de über­trägt sich sehr schnell auf unse­re Erzähl­freu­de und dann ret­tet auch kei­ne päd­ago­gi­sche Ziel­set­zung mehr: Die Luft ist draußen.

Weil man oft plas­ti­sche Ges­ten nicht auf Anhieb fin­det, sind auch hier ein paar Über­le­gun­gen hilf­reich, und zwar vor allem an fol­gen­den Angel­punk­ten der Mär­chen­er­zäh­lung: Ers­tens, die frem­den his­to­ri­schen Zustän­de, die unbe­kann­ten Arbeits­tä­tig­kei­ten, die ande­re Lebens­welt, die das Mär­chen durch­zie­hen, las­sen sich oft mit bezeich­nen­den Ges­ten ver­an­schau­li­chen und ermög­li­chen den Kin­dern, sich ein kla­re­res Bild zu machen. Wenn im Mär­chen bei­spiels­wei­se Dre­schen mit dem Dresch­fle­gel vor­kommt, von dem selbst Bau­ern­kin­der heu­te kei­ne Vor­stel­lung, mehr haben, spie­le ich eben das Dre­schen mit den Hän­den vor: Ich erklä­re kurz, dass ein Dresch­fle­gel aus einer Stan­ge und aus einer Keu­le, die an einer Öse befes­tigt ist, besteht, dabei fah­re ich das Gerät mit den Hän­den nach. Ich hebe den Dresch­fle­gel und las­se ihn aufs Getrei­de kra­chen. Ich neh­me die Schau­fel und wer­fe das Gedro­sche­ne in die Luft. Ich zei­ge mit beweg­ten Fin­gern, wie die schwe­re­ren Kör­ner zu Boden pras­seln, dann mit einer seit­li­chen Hand­be­we­gung, wie der Wind die Spreu weg­führt. Wenn dann im nächs­ten Moment der Dresch­fle­gel in sym­bo­li­sche Akti­on tritt, auf dem Buckel des Groß­bau­ern tanzt oder der Teu­fel Dre­sche bekommt, dann ist das nicht mehr ein undurch­schau­ba­rer Zau­ber­trick, son­dern ein Arbeits­in­stru­ment, das sei­ne Arbeit etwas gründ­li­cher erledigt.

Zwei­tens: Über­all dort, wo das Wun­der­ba­re ins Mär­chen­ge­sche­hen ein­greift, wird es leib­haf­tig zwi­schen die Zuhö­rer gesetzt und bekommt eine ande­re Wirk­lich­keit, als wenn ich nur davon rede. Bezeich­nend ist ja, dass die alten Mär­chen­er­zäh­ler, denen wir auch für das Erzäh­len vor Kin­dern eine Men­ge abgu­cken kön­nen, genau an die­sem Punkt ihr gan­zes Kön­nen aus­spiel­ten. Wenn die kin­der­lo­se Bau­ern­frau schließ­lich ein Söhn­lein zur Welt bringt, zei­ge ich am klei­nen Dau­men, wie klein der Däum­ling ist und bleibt. Wenn der Däum­ling die Pfer­de des Vaters in den Wald fährt, bin ich mit dem gan­zen Kör­per der Däum­ling, ich beu­ge mich aus dem Ohr, um den Weg zu beob­ach­ten, und rufe dem Pferd die Rich­tung ins Ohr, die es ein­schla­gen soll. Wenn der Vater Däum­ling den bei­den Frem­den nicht über­las­sen will, krab­beln mei­ne Fin­ger an mir hoch bis auf die Schul­ter, wo Däum­ling dem Vater ins Ohr flüs­tert, er sol­le ihn ruhig ver­kau­fen. Die bei­den Frem­den krie­gen Däum­ling und nun brau­che ich kei­nen Dau­men mehr zei­gen, jetzt steht Däum­ling auf der fla­chen Hand, wirk­lich und wahrhaftig.

Drit­tens: Solan­ge wir nicht auf der Erzähl­vor­stel­lung im Kam­mer­thea­ter erzäh­len, brau­chen wir weder das fei­er­li­che >Es war ein­mal. ..< noch die Mah­nung, doch bitt­schön still zu sein. Es ist für die Kin­der viel natür­li­cher, aus der Unter­hal­tung in die Erzäh­lung zu glei­ten, und für uns ist es ange­neh­mer, so drü­cken wir uns nicht so leicht einen fal­schen Ton­fall auf. Und es nimmt den Kin­dern von Anfang an die Hem­mung, Ein­wür­fe zu machen, Ein­drü­cke zu äußern, nach­zu­fra­gen. Wir ken­nen das übri­gens auch aus den alten Mär­chen­er­zähl­run­den, die gele­gent­lich von Aus­ru­fen und Zwi­schen­ru­fen beglei­tet wur­den. Für Kin­der ist es wich­tig, ihre Asso­zia­tio­nen zu äußern, weil sie aus ihrer all­täg­li­chen Wahr­neh­mung stam­men („Ich hab auch schon einen Zieh­brun­nen gese­hen“) oder die Mär­chen­phan­ta­sien damit auf sich bezie­hen („Mir ist neu­lich schon ein Wolf begeg­net, ehrlich“).

Es ist bei eini­ger Übung eigent­lich nie ein Pro­blem, sol­che Ein­wür­fe wie­der auf die Erzäh­lung zurück­zu­be­zie­hen („Siehst du, genau so ein Zieh­brun­nen war das“). Ich habe nie bemerkt, dass das Erzäh­len dadurch an Span­nung ver­lo­ren hät­te, im Gegen­teil. Sie bedeu­tet zugleich, dass man auf fixier­te Schrift­for­men ver­zich­tet, und über­haupt den Respekt vor den Grimms und ande­ren Mär­chen­brü­dern ver­liert. Denn die Rezi­ta­ti­on eines sprach­lich geschlif­fe­nen Tex­tes schüch­tert ein und macht stumm, und über­haupt ent­wi­ckelt man die Modu­la­tio­nen der eige­nen Stim­me am ein­fachs­ten vom all­täg­li­chen Spre­chen aus.

Auch mit gele­gent­li­chen Zwi­schen­fra­gen hilft man den Kin­dern, ihre Erfah­run­gen, in die Mär­chen­er­zäh­lung ein­zu­bau­en, beson­ders wenn das eine Art Rät­sel­ef­fekt ergibt

Wenn der Herr Graf dem Meis­ter­dieb die drei Auf­ga­ben gestellt hat, und sich der Meis­ter­dieb an die ers­te Auf­ga­be macht, fra­ge ich noch ein­mal nach: Was war wie­der die ers­te Auf­ga­be? Erst recht natür­lich bei der zwei­ten und der drit­ten, weil sie bis dahin von man­chen Kin­dern ver­ges­sen sein kön­nen. Sobald der Meis­ter­dieb in den Stall vor­ge­drun­gen ist, wo das Lieb­lings­pferd des Herrn Gra­fen steht, und er die drei wachen­den Knech­te ein­ge­schlä­fert hat, ist mei­ne Fra­ge: „Wie kriegt er das Pferd aus dem Stall, ohne die drei auf­zu­we­cken?“ Dass man dem, der den Schwanz hält, ein Bün­del Heu in die Hand drückt, dem mit dem Zügel zwei Sei­le, ent­de­cken immer ein paar fin­di­ge Kin­der. Die Sache mit dem Fest­bin­den des Sat­tels an den Dach­bal­ken ist schon haa­ri­ger und erhöht die Span­nung der Hörer beträcht­lich. Und damit die Merk­fä­hig­keit und Ein­drück­lich­keit der Erzählung.

(Aus dem Nach­wort zu: Johan­nes Merkel/ Klaus Adam/ Ilo­na Schulz/ Peter Kaemp­fe: Die Geschich­te vom Däum­ling, Mün­chen 1982)