Erzählen in China

Bet­ti­na Proksch

1.

Am Ran­de des Stadt­parks von Luodong, einem klei­nen Städt­chen an der Nord­ost­küs­te Tai­wans, tref­fen sich all­abend­lich ein paar alte Män­ner im „Club Zum Lan­gen Leben“. Zunächst fast unbe­ach­tet von den anwe­sen­den Gäs­ten neh­men sie auf dem klei­nen Podi­um des mit­tel­gro­ßen Rau­mes ihre Instru­men­te in die Hand und begin­nen ganz bei­läu­fig, ein altes Volks­lied zu spie­len. Über der Ein­gangs­tür hängt ein Schild mit fol­gen­dem Text:

„Ses­sel mit Arm­leh­nen sind reser­viert für die Neun­zig­jäh­ri­gen, Ses­sel ohne Arm­leh­nen für die Sieb­zig und Acht­zig­jäh­ri­gen. Die Jugend, das sind hier alle unter sech­zig, möch­ten bit­te mit den ein­fa­chen Hockern vor­lieb nehmen.“

Es wird deut­lich, das in die­sem Club die Ehren­plät­ze den Alten vor­be­hal­ten sind. Hier trin­ken sie Abend für Abend ihren Becher Tee, dis­ku­tie­ren ihre Erin­ne­run­gen und pfle­gen die tra­di­tio­nel­le Erzähl­kunst, die bei der nach­fol­gen­den Gene­ra­ti­on mehr und mehr in Ver­ges­sen­heit gerät. Film, Fern­se­hen und das moder­ne Stadt­le­ben tra­gen in erheb­li­chem Mas­se dazu bei.

In den Halb­kreis der Musi­ker hat sich nun ein eben­falls betag­ter Mann vor das Publi­kum gestellt. In sei­nen Hän­den bewegt er je ein Paar Holz­klap­pern im Rhyth­mus der Melo­die. Als das ein­lei­ten­de Lied endet, wird es einen Moment ganz still, man sieht ihn ein­mal tief Luft holen, und der ers­te Tei1 der Erzäh­lung beginnt mit einem Wort­schwall, von Ges­tik und Schlag­zeug untermalt:

„Kommt Ihr Leu­te und hört, was ich Phan­tas­ti­sches berich­ten kann über Din­ge, die sich ganz bestimmt und wirk­lich zuge­tra­gen haben. Ihr wer­det sehen, mei­ne Erzäh­lung ist so gut, das Ihr Euch durchs Zuhö­ren an jeden Ort und in jede Zeit ver­set­zen könnt…“

Der Raum ist fast voll; offen­bar sind auch sol­che Zuhö­rer ange­lockt wor­den, die auf Grund ihres Alters noch nicht in den Club auf­ge­nom­men wer­den. Die­ser Club ist eine rela­tiv neue Ein­rich­tung. Er besteht seit etwa 15 Jah­ren. Frü­her traf man sich in den Tee­häu­sern oder im Tem­pel, viel­leicht sogar auf dem Markt­platz, als es noch kei­nen Groß­stadt­ver­kehr gab. Aber die gute, alte Zeit ist eben vor­bei. Die Tee­häu­ser sind sel­ten gewor­den, und seit es die neu­en Medi­en gibt, hat die Erzähl­kunst es schwer, sich ihr Publi­kum zu erhal­ten. So hört man oft, wenn man die Alten über ihren Club befragt.

Im 17. und 18. Jahr­hun­dert brach­ten die Sied­ler aus Chi­na ihre Lie­der und Geschich­ten mit nach Tai­wan. Das Leben war anfangs hart, und da die Mit­tel zur Finan­zie­rung von Opern­trup­pen nicht aus­reich­ten, blüh­te hier die Erzähl­tra­di­ti­on ganz beson­ders. Anders als in den Groß­städ­ten auf dem Fest­land, wo das Erzäh­len Teil der Unter­hal­tung in den Ver­gnü­gungs­vier­teln war und von pro­fes­sio­nel­len Erzäh­lern aus­ge­übt wur­de, ent­wi­ckel­te sich in Tai­wan eine eher pri­va­te Form. Meist waren es Lai­en, die aus vor­han­de­nen Melo­dien von Volks­lie­dern und über­lie­fer­ten Geschich­ten ihr Mate­ri­al schöpf­ten. In die erst im 19. Jahr­hun­dert ent­stan­de­ne Tai­wan-Oper sind spä­ter vie­le Ele­men­te die­ser Erzähl­form ein­ge­flos­sen. Als fes­ter Bestand­teil aller reli­giö­sen Fes­te wird die Oper meist auf einer Büh­ne gegen­über dem Tem­pel­ein­gang auf­ge­führt. Man spielt, wie immer betont wird, in ers­ter Linie zum Ver­gnü­gen der Göt­ter, damit sie von ihrem Platz auf dem Altar im Inne­ren des Tem­pels das Schau­spiel drau­ßen ver­fol­gen kön­nen. Nach der Theo­rie des Yin-Yang, dem tao­is­ti­schen Ur-Prin­zip allen Wer­dens, zählt das Thea­ter zum Yin, dem nega­ti­ven, erd­na­hen Prin­zip, im Gegen­satz zum Yang, dem posi­ti­ven Sym­bol des Him­mels. Daher darf eine Opern­büh­ne nie­mals im Haupt­ge­län­de des Tem­pels auf­ge­baut sein. Die Regeln für den Erzäh­ler sind weni­ger streng. Er und sei­ne Musi­ker kön­nen im Innen­hof oder auf dem Vor­platz eines Tem­pels auf­tre­ten, oder auch ein­fach in Parks, am Ein­gang einer klei­nen Gas­se und im Tee­haus. Die Geschich­ten rei­chen von klas­si­schen Legen­den bis zu spä­te­ren Epi­so­den aus der nahen Umge­bung, die von etwas Unge­wöhn­li­chem oder Beson­de­rem han­deln. Ihre Tex­te sind nicht vor­ge­schrie­ben, noch ist es der ritu­el­le Ablauf einer Auf­füh­rung wie bei der Oper, auch wenn eini­ge der Erzäh­lun­gen reli­giö­se Inhal­te haben.

Die Erzähl­trup­pe von Luodong hat einen ein­ge­tra­ge­nen Ver­ein gegrün­det und den Nudel­sup­pen­ver­käu­fer vom Park zum Vor­sit­zen­den gewählt aus rein prak­ti­schen Erwä­gun­gen, da er näm­lich am bes­ten mit allen Leu­ten des Ortes bekannt ist. Die­se Bezie­hung ver­schafft der Trup­pe nicht sel­ten einen Auf­trag, zu pri­va­ten Ver­an­stal­tun­gen ein­ge­la­den zu wer­den. Bei der Grün­dung hat­te der Ver­ein etwa 40 Mit­glie­der, von denen alle mehr oder weni­ger gut eine Auf­füh­rung bestrei­ten kön­nen. Der grö­ße­re Teil zählt zu den Musi­kern, wäh­rend nur ein paar in der Lage sind, die sehr viel schwie­ri­ge­re Rol­le des Erzäh­lers zu über­neh­men. Aber jeder von ihnen hat schon als Kind auf die eine oder ande­re Wei­se Berüh­rung mit der Büh­ne gehabt, in den Zei­ten, als das „Klei­ne Volks­thea­ter“, wie man die Erzähl­kunst mund­art­lich nennt, noch die ein­zi­ge Unter­hal­tung auf dem Lan­de war.

Ein beson­de­rer Anlass für Fest­lich­kei­ten ist jedes Jahr der Geburts­tag des Thea­ter­got­tes nach dem Mond­ka­len­der der 14. Tag des 4. Monats. Dann wird die Hal­le am Park mit einem Altar und Opfer­ga­ben für den Gott geschmückt, die Auf­füh­run­gen vor­her geprobt und mit beson­de­rem Ehr­geiz dar­ge­bo­ten. Die Erzäh­ler ver­wen­den Make-up und Kos­tü­me, und der Ver­ein bemüht sich, so vie­le Musi­ker wie mög­lich auf der Büh­ne unter­zu­brin­gen. Quan­ti­tät ist hier noch ein Zei­chen von Reich­tum. Und man hofft, den Thea­ter­gott für das nächs­te Jahr güns­tig zu stim­men. Geburts­ta­ge von Göt­tern sind auch Glücks­ta­ge für die Men­schen. Dar­um erschei­nen Freun­de und Ver­wand­te auch beson­ders zahl­reich, nicht zuletzt, um dem eige­nen Glück noch ein wenig nach­zu­hel­fen. Man kann ja nie wissen…

2.

Schon aus dem 9. Jahr­hun­dert berich­tet uns ein chi­ne­si­scher Gelehr­ter aus sei­nen Memoiren:

„Am Ende der Tai­he-Zeit (827-835 n. Chr.) ging ich am Geburts­tag mei­nes Bru­ders zu einem Ort des Ver­gnü­gens. Dort war ein Geschichtenerzähler…“

Geschich­ten, Mythen und Legen­den wur­den in Chi­na seit der Han-Zeit, das heißt seit Beginn unse­rer Zeit­rech­nung, gesam­melt und auf­ge­schrie­ben. Ein­mal im Jahr schick­te der Kai­ser beson­ders beauf­trag­te Beam­te über­all ins Land, damit sie die Erzäh­lun­gen des ein­fa­chen Vol­kes sam­mel­ten. Aus die­sen Auf­zeich­nun­gen infor­mier­te man sich am Hof über Sit­ten und Gebräu­che und über das Den­ken der Men­schen. Die­se Geschich­ten zähl­ten weder zur Lite­ra­tur noch wur­de ihnen irgend­ein künst­le­ri­scher Wert bei­gemes­sen. Sie waren knapp auf­ge­zeich­net und soll­ten nichts wei­ter als Infor­ma­ti­on ver­mit­teln. Tei­le davon fin­den sich im Anhang der offi­zi­el­len Dynas­tien­ge­schich­te, aber wir wis­sen aus der frü­hen Zeit wenig dar­über, wie ihre Inhal­te wirk­lich im Volk wei­ter­ge­ge­ben wur­den. Es ist jedoch bekannt, das auch bild­li­che Dar­stel­lun­gen als Aus­schmü­ckung von Tem­peln exis­tier­ten, soweit es sich um Geschich­ten über Göt­ter, Geis­ter, Unge­heu­er, Feen oder ande­re Gestal­ten aus Mythen und Legen­den han­del­te. In den his­to­ri­schen Auf­zeich­nun­gen der Dynas­tien fass­te man die Geschich­ten als „Xiao Shuo“ zusam­men, das heißt wört­lich über­setzt: Klei­nes Gespräch, womit deut­lich bezeich­net ist, wel­chen Stel­len­wert die gebil­de­ten Lite­ra­ten-Beam­ten die­ser Art von Auf­zeich­nun­gen gaben.

Das uns so umfang­rei­ches Text­ma­te­ri­al aus der frü­hen Tra­di­ti­on chi­ne­si­scher Erzähl­kunst heu­te bekannt ist, ver­dan­ken wir ins­be­son­de­re der Ent­de­ckung von Schrift­rol­len in Dun­huang im Jah­re 1900. Dun­huang liegt im Wes­ten der heu­ti­gen Pro­vinz Gan­su und war lan­ge Zeit ein zen­tra­ler Umschlag­platz auf dem Han­dels­weg zwi­schen Chi­na und dem Wes­ten. Die Schrift­rol­len stam­men aus dem 6. bis 8. Jahr­hun­dert und waren wäh­rend der dar­auf­fol­gen­den Jahr­hun­der­te ver­schol­len. Ein gro­ßer Teil der hier wie­der auf­ge­fun­de­nen Tex­te ent­hält Geschich­ten aus der reli­giö­sen Erzähl­tra­di­ti­on bud­dhis­ti­scher Mön­che, die als Mis­sio­na­re aus Indi­en kamen. Um Epi­so­den aus dem Leben Bud­dhas und sei­ner Jün­ger, wie sie in den klas­si­schen Sutren (Lehr­bü­cher mit aus­wen­dig zu ler­nen­den, kur­zen Sät­zen über Opfer und got­tes­dienst­li­che Gebräu­che) auf­ge­zeich­net waren, für das Volk anschau­lich und ver­ständ­lich zu machen, wan­del­te man sie um in Geschich­ten zum Erzäh­len. Sie wur­den dann vor den Tem­peln oder auf der Stras­se von den Mön­chen in loka­lem Dia­lekt gesun­gen und gespro­chen vor­ge­tra­gen. Man bezeich­ne­te die­se Erzäh­lun­gen auf chi­ne­sisch als „Bian-Wen“, was soviel bedeu­tet wie „umge­wan­del­te Spra­che“. Sie dien­ten also einem ganz bestimm­ten Zweck der Erzäh­ler: Näm­lich der Mis­si­on und der Bekeh­rung der Men­schen zu den Leh­ren Bud­dhas. Ein mora­li­scher Unter­ton in den Geschich­ten macht die beab­sich­tig­te reli­gi­ös-erzie­he­ri­sche Wir­kung nur zu deut­lich. Die wohl bekann­tes­te Erzäh­lung han­delt von Maud­ga­la­ya­ya­na, einem Jün­ger Bud­dhas, der in die Unter­welt hin­ab­steigt, um von dort sei­ne Mut­ter zu befrei­en. Mit Hil­fe Guan-yins, der bud­dhis­ti­schen Göt­tin der Gna­de, gelingt es ihm, weil er selbst ein so guter Mensch ist, dem die Göt­ter zur Sei­te ste­hen. Er besteht alle Schre­cken der Höl­le und kehrt schließ­lich mit der Mut­ter in den Him­mel zurück. Eine Ver­mi­schung zwi­schen rei­ner bud­dhis­ti­scher Leh­re und dem chi­ne­si­schen Volks­glau­ben ist für all die­se Geschich­ten sehr typisch.

Da sich die Erzähl­kunst der Mön­che über­all gro­ßer Beliebt­heit erfreu­te, wur­de sie bald von welt­li­chen Erzäh­lern auf­ge­grif­fen, die sie für den Vor­trag nicht-reli­giö­ser Geschich­ten ver­wen­de­ten. Meist han­del­te es sich dann um Legen­den aus frü­he­ren Dynas­tien, die man in die anschau­li­che und leben­di­ge Form des Erzäh­lens über­trug. Schon hier fin­den wir den Wech­sel zwi­schen Pro­sa und Gedich­ten bzw. Lie­dern. Wie wir spä­ter noch sehen wer­den, hat sich die­se Form in der Erzähl­kunst bis heu­te erhal­ten. Berühmt gewor­den ist die Erzäh­lung von Wang Zhao­jün, einer kai­ser­li­chen Kon­ku­bi­ne der Han-Zeit. Am Hof war es üblich, das der Kai­ser einen Maler beauf­trag­te, Por­traits von sei­nen Palast­frau­en anzu­fer­ti­gen. Das ver­an­lass­te die­se Frau­en, gro­ße Sum­men an Bestechungs­gel­dern auf­zu­wen­den, um von dem Maler beson­ders attrak­tiv dar­ge­stellt zu wer­den. Wang Zhao-jün war als ein­zi­ge zu stolz und von ihrer Schön­heit zu über­zeugt, um sich die­sem Betrug zu beu­gen. Der Maler, der sich um sei­ne Gel­der betro­gen fühl­te, stell­te sie so ungüns­tig dar, das der Kai­ser sie nie­mals zu sich rufen ließ. Als sein Land im Nor­den von den Hun­nen bedroht war, ver­sprach er, eine Frau aus sei­nem Palast mit dem Stam­mes­füh­rer der Bar­ba­ren zu ver­mäh­len. Sei­ne Ent­schei­dung fiel auf Wang Zhao-jün, die er dem Por­trait nach für ent­behr­lich hielt. Als er sie dann kom­men ließ und den Irr­tum ent­deck­te, hat­te man ihren Namen schon den Hun­nen mit­ge­teilt, und er konn­te daher die Ent­schei­dung nicht mehr rück­gän­gig machen. Wang Zhao-jün zog mit den Bar­ba­ren nach Nor­den. Nach eini­gen Jah­ren der Trau­er um den Ver­lust des Vater­lan­des starb sie in der Frem­de. Seit­dem, so heißt es, wach­sen auf ihrem Grab Jahr für Jahr immer­grü­ne Pflanzen.

Die Loya­li­tät und Unbe­stech­lich­keit die­ser Frau wur­den auch von der eta­blier­ten Lite­ra­tur gefei­ert. In einem Gedicht, das der berühm­te Dich­ter Li Bai ihr zu Ehren schrieb, heisst es:

„Auch über dem öst­li­chen Meer geht der Mond Chi­nas auf.

Seit Ming-Fei nach Wes­ten ver­mählt ist, gibt es für sie kei­ne Rückkehr.

Die Schwal­ben sind dem lan­gen Win­ter entflohen.

Der Schnee formt Blumen.

Ihre anmu­ti­gen Augen voll tiefs­ter Trauer

ver­lie­ren sich in der wil­den Steppe.

Im Leben fehl­te ihr das Gold, um ein Bild fäl­schen zu lassen.

Im Tod bleibt ihr ein grün bewach­se­nes Grab, das den Men­schen Seuf­zer von Mit­leid entlockt.“

Zu Beginn der Song-Dynas­tie (960-1279 n. Chr.) rief man füh­ren­de Gelehr­te der ehe­ma­li­gen Staa­ten an den Hof, um sie zu beschäf­ti­gen und dadurch das Reich vor auf­rüh­re­ri­schen Kom­plot­ten zu schüt­zen. Sie wur­den vom Kai­ser beauf­tragt, alle Dich­tun­gen, Anek­do­ten und Erzäh­lun­gen aus dem Volk zu sam­meln und auf­zu­zeich­nen. So ent­stan­den umfang­rei­che Enzy­klo­pä­dien, in denen bis heu­te wert­vol­les Mate­ri­al aus der Geschich­te chi­ne­si­scher Erzähl­kunst erhal­ten geblie­ben ist. Vie­le der spä­te­ren Sän­ger und Geschich­ten­er­zäh­ler haben dar­aus immer wie­der Stoff für ihre Kunst geschöpft. Das ist auch sicher­lich ein Grund dafür, das sich in allen Tei­len Chi­nas über so vie­le Jahr­hun­der­te hin­weg die glei­chen Inhal­te erhal­ten haben. Im Gegen­satz zu den in klas­si­scher Spra­che auf­ge­zeich­ne­ten Geschich­ten, die oft wenig anschau­lich und tro­cken wie­der­ge­ge­ben sind, haben die umgangs­sprach­li­chen Erzäh­lun­gen eine rei­che Phan­ta­sie und sind mit vie­len anschau­li­chen Details ausgeschmückt.

Über die „Text­bü­cher der fah­ren­den Schau­spie­ler und Geschich­ten­er­zäh­ler aus der Song-Dynas­tie berich­tet uns Lu Xun in sei­ner „Geschich­te der chi­ne­si­schen Roman­dich­tung“: „Als Bian­liang die Haupt­stadt der Song war und Über­fluss und all­ge­mei­ner Wohl­stand herrsch­te, wur­den vie­le For­men von Volks­be­lus­ti­gung geübt, ein­schließ­lich Schau­spie­len auf den Markt­plät­zen, wo die Geschich­ten­er­zäh­lung blühte.“

Das Stadt­volk lieb­te eine Art Varie­te, wozu auch das Geschich­ten­er­zäh­len gehör­te. Es war in vier Kate­go­rien auf­ge­teilt. „Geschich­te“, „Bud­dhis­ti­sche Leh­ren für Lai­en“, „Roman­dich­tung“ und Par­odien oder Wort­spie­le, die man „He-sheng“ nann­te. „Geschich­ten“ bedeu­tet, das man Epi­so­den aus der Geschich­te oder aus dem Leben berühm­ter Män­ner erzähl­te. Hier­aus ent­wi­ckel­ten sich spä­ter die his­to­ri­schen Roma­ne. Die „bud­dhis­ti­sche Leh­re“ erfolg­te eben­falls in der Spra­che des Vol­kes. Das „Geschich­ten­er­zäh­len“ bestand im all­ge­mei­nen aus kur­zen Erzählungen.

„Hes­h­eng“ begann gewöhn­lich mit einem mehr­deu­ti­gen Zwei­zei­ler, wor­auf eini­ge wei­te­re Ver­se die Bedeu­tung erklär­ten. Oft han­del­te es sich um Sati­re über zeit­ge­nös­si­sche Personen.“ –

„Die berufs­mä­ßi­gen Geschich­ten­er­zäh­ler hat­ten ihre eige­nen Orga­ni­sa­tio­nen, die „Red­ner­ver­ei­ne“. Sie hat­ten auch soge­nann­te Text­bü­cher zu ihrer Unter­stüt­zung, die Huaben (Geschich­ten­tex­te) genannt wur­den. Zu Beginn der Süd­li­chen Song-Dynas­tie waren sol­che Text­bü­cher immer noch ver­brei­tet. Als die Song-Dynas­tie fiel, und die Mon­go­len Chi­na erober­ten, ver­schwan­den die Varie­té­vor­füh­run­gen, und die meis­ten Huaben gin­gen verloren.“

Wäh­rend der Mon­go­len­herr­schaft in Chi­na im 14. Jahr­hun­dert, so wird uns berich­tet, begab sich der Kai­ser von Zeit zu Zeit nach Jinan in der Pro­vinz Shan­dong, um den Geschich­ten­er­zäh­lern zuzu­hö­ren, die in klei­nen Boo­ten auf einem See her­um­fuh­ren und von dort aus das Volk am Ufer mit Sin­gen und Spie­len unter­hiel­ten. Sicher­lich waren es beson­ders aus­ge­wähl­te Erzäh­ler an einer beson­de­ren Stel­le des Ufers, von der aus der Kai­ser mit sei­nem Gefol­ge sich an den ein­fa­chen Volks­er­zäh­lun­gen erfreu­te. Denn gewöhn­lich zähl­te die­se Art der Unter­hal­tung bei den Chi­ne­sen ganz und gar nicht zur höfi­schen Kunst und war auch sonst weder bei den Beam­ten noch bei den Dich­tern und Lite­ra­ten hoch ange­se­hen. Im Gegenteil!

Bis zu Beginn die­ses Jahr­hun­derts stand die chi­ne­si­sche Erzähl­kunst immer im Schat­ten der offi­zi­el­len Lite­ra­tur. Dazu gehör­ten die His­to­rio­gra­phie, phi­lo­so­phi­sche Pro­sa und die Lyrik. Die Beherr­schung der gespro­che­nen Spra­che allein ver­half nie­man­dem zu einer Kar­rie­re in der Gesell­schaft, da es ohne die Absol­vie­rung staat­li­cher Prü­fun­gen unmög­lich war, irgend­ei­ne offi­zi­el­le Anstel­lung und damit Pres­ti­ge und gesell­schaft­li­ches Anse­hen zu erlan­gen. Erst der voll­ende­te Umgang mit Pin­sel und Tusche und das lang­jäh­ri­ge Stu­di­um der klas­si­schen lite­ra­ri­schen Wer­ke ebne­ten den Weg zum poli­ti­schen, sozia­len und künst­le­ri­schen Erfolg. Die Erzäh­lun­gen wur­den aber in der Umgangs­spra­che auf­ge­schrie­ben und vor­ge­tra­gen. Und obwohl die Kunst des Erzäh­lens und die Volks­li­te­ra­tur seit Jahr­hun­der­ten bestan­den, begann man in Chi­na erst nach der 4. Mai-Bewe­gung im Jah­re 1919, sich inten­siv mit der Tra­di­ti­on des Erzäh­lens zu beschäf­ti­gen. Im Rah­men der For­de­rung nach einer „Neu­en Lite­ra­tur“, die von der revo­lu­tio­nä­ren Gene­ra­ti­on pro­pa­giert wur­de, setz­te eine inten­si­ve For­schung über die eige­ne Volks­li­te­ra­tur und ihre Aus­drucks­form ein. Lu Xun ist der wohl bekann­tes­te unter den schöp­fe­ri­schen Autoren jener Anfangs­pha­se des „Neu­en Chi­na“, des­sen Wer­ke durch zahl­rei­che Über­set­zun­gen auch auf deutsch zugäng­lich sind. Er war es auch, der als ers­ter eine Geschich­te der chi­ne­si­schen Erzähl­kunst geschrie­ben hat.

3.

Was uns heu­te an Geschich­ten und Erzäh­lun­gen der Volks­li­te­ra­tur gedruckt vor­liegt, hat sei­nen Ursprung in der münd­li­chen Erzähl­tra­di­ti­on. Wir müs­sen daher beim Stu­di­um und bei der Beur­tei­lung erzäh­len­der Lite­ra­tur berück­sich­ti­gen, das die Situa­ti­on des Erzäh­lens im Vor­der­grund steht und ganz ent­schei­den­den Ein­fluss auf die Form und den Stil der Tex­te hat. Die Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen Erzäh­ler und Zuhö­rern, der direk­te Kon­takt zwi­schen Autor bzw. Vor­tra­gen­dem und sei­nem Audi­to­ri­um bestim­men den Ablauf, die Elas­ti­zi­tät und Struk­tur der Geschich­ten je nach der Situa­ti­on, in der sie erzählt wer­den. Oft ist unter den Zuhö­rern ein Kom­men und Gehen, so das der Erzäh­ler im Ver­lauf sei­nes Vor­trags sich dar­auf ein­stel­len muss, die neu Hin­zu­kom­men­den mög­lichst schnell in das Gesche­hen ein­zu­füh­ren. Ein­zel­ne Epi­so­den sol­len in sich abge­schlos­se­ne Tei­le dar­stel­len, die wäh­rend eines Auf­tritts lose mit­ein­an­der ver­knüpft wer­den kön­nen. Der Wech­sel zwi­schen Reim und Pro­sa kommt die­ser For­de­rung sehr ent­ge­gen. In den Ver­sen kön­nen neue Zuschau­er begrüßt, kann eine kur­ze Ein­füh­rung in die Situa­ti­on und den Zusam­men­hang einer Geschich­te gege­ben wer­den. Die Pro­sa führt dann einen Abschnitt im Detail wei­ter. Die Ver­se wer­den zu Melo­dien vor­ge­tra­gen und der Gesang meist durch Instru­men­tal­mu­sik beglei­tet. Die Beglei­tung macht ent­we­der der Erzäh­ler selbst, oder er hat dafür einen oder meh­re­re Musi­ker zur Sei­te. Typi­sche Begleit­in­stru­men­te sind die Pi-pa (eine chi­ne­si­sche Lau­ten­art), die Mond­gi­tar­re, auch klei­ne Trom­meln und gele­gent­lich die Bambusflöte.

West­li­che Kri­tik, die sich meist an einem Leser ori­en­tiert, hat oft die feh­len­de Geschlos­sen­heit und Rund­heit sol­cher Erzäh­lun­gen bemerkt, die Abwe­sen­heit von durch­ge­ar­bei­te­ter Struk­tur. Es stimmt, das sie beim Lesen eher line­ar wir­ken und ihre Kon­ti­nui­tät erst durch die Bezie­hung zwi­schen Erzäh­ler und Zuhö­rer leben­dig wird. Wo uns nur die gereim­ten Tex­te vor­lie­gen, kann man davon aus­ge­hen, das der Erzäh­ler die Pro­sa­stel­len impro­vi­sier­te. Aller­dings sind die­se in spä­te­rer Zeit auch oft weg­ge­fal­len, und die Rei­me ver­dich­te­ten sich zu Bal­la­den. Die­se konn­ten dann von ein­zel­nen vor einer Grup­pe von Zuhö­rern auch im pri­va­ten Kreis vor­ge­le­sen und vor­ge­tra­gen wer­den. Sie gehö­ren also in den Bereich der Erzähl­kunst. Auch unge­üb­te konn­ten davon Gebrauch machen und, von einem ein­fa­chen Schlag­in­stru­ment beglei­tet, die Wir­kung ihrer Geschich­te stei­gern. Fah­ren­de Erzäh­ler hat­ten immer ein bestimm­tes Reper­toire von Geschich­ten. Sie brei­te­ten irgend­wo auf dem Markt­platz ein Tuch aus, setz­ten sich dar­auf und lock­ten das vor­über­ge­hen­de Publi­kum mit den Klän­gen ihrer Bam­bus­trom­mel an.

Der Geschich­ten­er­zäh­ler hat­te die schwie­ri­ge und anspruchs­vol­le Auf­ga­be, sein jewei­li­ges Publi­kum zu unter­hal­ten und zu erbau­en. Das Urteil sei­ner Zuhö­rer ent­schied im Augen­blick der Rezep­ti­on über Qua­li­tät und Dar­bie­tung die­ser Kunst: Der Erzäh­ler konn­te mit sei­nen Geschich­ten ent­we­der fes­seln oder er ver­lor sein Publi­kum. Die Kon­kur­renz war ja groß genug. Es galt weder einen Ver­le­ger zu über­zeu­gen noch die Nach­welt zu befrie­di­gen. Nur die augen­blick­li­che Ein­stel­lung auf ein anwe­sen­des Audi­to­ri­um, gleich wie ver­schie­den und abwech­selnd es ihm gegen­über saß, ent­schied über Zustim­mung und Ableh­nung. Die­se Situa­ti­on setz­te eine ganz aus­ge­präg­te Fle­xi­bi­li­tät bei den Vor­tra­gen­den vor­aus. Um jedoch nicht den gan­zen Ablauf der Impro­vi­sa­ti­on über­las­sen zu müs­sen, ent­wi­ckel­te man den Vor­trag aus schon bestehen­den, teils all­ge­mein bekann­ten Elementen.

Ein typi­sches Bei­spiel dafür ist der im 12. Jahr­hun­dert ent­stan­de­ne Zhu-Gong-Diao, eine Art Quod­li­bet, in dem pot­pour­ri­ar­tig ver­schie­de­ne bekann­te Melo­dien mit jeweils neu­en Rei­men ver­bun­den wur­den. Zwi­schen die­se Gesangs­pas­sa­gen schob man die erzähl­te Pro­sa, die der Erzäh­ler an Ort und Stel­le impro­vi­sier­te, wäh­rend er die Ver­se zu den Melo­dien vor­her auf­schrieb. Dadurch ent­stand eine rela­tiv offe­ne Form, bei der die jewei­li­ge Art des Erzäh­lens nach Situa­ti­on, Ort, Zeit und Dia­lekt auf die Zuhö­rer abge­stimmt wur­de. Aus der Ent­ste­hungs­zeit die­ser Form der Volks- und Unter­hal­tungs­li­te­ra­tur sind kei­ne Tex­te erhal­ten. Es wird nur berich­tet, das sie in den Ver­gnü­gungs­vier­teln der Haupt­stadt ver­brei­tet war und sich gro­ßer Beliebt­heit erfreu­te. Seit der Song-Zeit hat­ten die chi­ne­si­schen Städ­te durch den Han­del mit dem Aus­land einen gro­ßen Auf­schwung erlebt. Der mate­ri­el­le Reich­tum und die viel­fäl­ti­gen Akti­vi­tä­ten rie­fen alle Arten von Thea­ter, Zir­kus, Tanz- und Gesangs­auf­füh­run­gen, Kampf­spie­len, Pup­pen­spie­len etc. ins Leben. Im Frei­en oder in Ver­gnü­gungs­häu­sern fan­den unzäh­li­ge Auf­füh­run­gen statt, die ein sehr gemisch­tes und neu­es Publi­kum anzo­gen. Unter den Zuschau­ern waren genau­so gewöhn­li­che Stadt­be­woh­ner, Händ­ler und Künst­ler anzu­tref­fen wie Sol­da­ten, Lite­ra­ten, Groß­grund­be­sit­zer und rei­che jun­ge Män­ner der obe­ren Gesellschaftsschichten.

An den Geschich­ten, die uns über­lie­fert sind, fällt auf, das ihnen durch­ge­hend die glei­che Moral zugrun­de liegt, die offen­bar allen Zuhö­rern gemein­sam sein muss­te, um sich mit den Hand­lun­gen und Moti­ven der Figu­ren iden­ti­fi­zie­ren zu kön­nen. Tugend wird im Sin­ne kon­fu­zia­ni­scher Ethik belohnt, Schlech­tes bestraft. Trotz­dem gehen die Erzäh­lun­gen in man­cher Hin­sicht mit der herr­schen­den Moral der Kon­fu­zia­ner sehr viel libe­ra­ler um, als es auf den ers­ten Blick erscheint. Ja, man hat eher den Ein­druck, das sich hin­ter dem Man­tel der Moral auch ein gutes Stück Frei­heit gegen die stren­ge Ethik durch­zu­set­zen ver­moch­te. Häu­fig genug stößt man in den Geschich­ten auf Hand­lungs­wei­sen und Lösun­gen, die eher den Wunsch­träu­men der ein­fa­chen Men­schen als offi­zi­ell herr­schen­den Sit­ten abge­lauscht sind. Ein Mäd­chen wächst als ein­zi­ge Toch­ter im Hau­se eines wohl­ha­ben­den Beam­ten auf. Zhu Ying-tai ist hübsch, intel­li­gent und wehrt sich gegen das übli­che Frau­en­schick­sal: Hei­rat, Kin­der, Küche. Ihr Inter­es­se an Lite­ra­tur und Kunst ist sehr groß. Aber als Frau sind ihr alle Mög­lich­kei­ten der Wei­ter­bil­dung ver­sperrt. Sie beschließt daher, in Män­ner­klei­dern das Haus ihres Vaters zu ver­las­sen und eine Schu­le mit einem guten Leh­rer aufzusuchen.

Ihre Eltern sind ent­setzt über die­se Idee, aber Zhu Ying-tai greift zu einer List: Ver­klei­det als jun­ger Stu­dent klopft sie an die Tür des Vaters und gibt sich als ent­fernt ver­wand­ten Nef­fen aus. Bei­de Eltern mer­ken nichts von der Ver­klei­dung, und als sie sich schließ­lich zu erken­nen gibt, wird ihr Plan geneh­migt. Drei Jah­re lebt Zhu Ying-tai auf der Schu­le. Sie teilt dort ein Zim­mer mit Liang Shan-bo. Im Lauf der Zeit wer­den bei­de enge Freun­de. Liang weiß natür­lich nichts von ihrer wah­ren Iden­ti­tät. Als die Schul­zeit zu Ende geht, kehrt Zhu Ying-tai nach Hau­se zurück. Inzwi­schen hat sie sich aber so sehr in Liang ver­liebt, das sie ihm beim Abschied ver­schlüs­selt mit­zu­tei­len ver­sucht, er möch­te nach­kom­men und um ihre Hand anhal­ten. Liang ver­steht ihre Anspie­lun­gen nicht. Er ver­spricht jedoch, den Kame­ra­den auf dem Rück­weg zu sei­nen Eltern zu besuchen.

Zu Hau­se haben Zhu Ying-tais Eltern inzwi­schen die Hei­rat ihrer Toch­ter mit einem von ihnen erwähl­ten Gat­ten arran­giert. Die Ver­trä­ge sind über den Hei­rats­ver­mitt­ler abge­schlos­sen, die Ver­lo­bungs­ge­schen­ke über­bracht. Als sie zu Hau­se ein­trifft, ist nichts mehr rück­gän­gig zu machen. Ver­zwei­felt hofft sie auf die Ankunft von Liang. Ein paar Tage spä­ter klopft Liang Shan-bo an die Tür des Hau­ses Zhu und erfährt von einem Die­ner, das es gar kei­nen Sohn in die­ser Fami­lie, son­dern nur eine Toch­ter gibt. Ihm geht plötz­lich ein Licht auf. Nach­träg­lich fal­len ihm die ver­schlüs­sel­ten Wor­te von Zhu Ying-tai beim Abschied ein. Die bei­den tref­fen sich auf einer Ter­ras­se des Hau­ses. Zhu Ying-tai gesteht Liang ihre Lie­be, und auch Liang ist nun über­zeugt, das sie die ein­zig rich­ti­ge Frau für ihn ist. Aber nach chi­ne­si­schen Geset­zen gilt ein Hei­rats­ver­trag als unauf­lös­bar, und die bei­den tren­nen sich mit wenig Hoff­nung auf eine Wen­dung ihres Geschicks.

Liang kehrt nach Hau­se zurück. Ein Ver­such sei­ner Eltern, die Ehe mit Zhu Ying-tai doch noch zu arran­gie­ren, schei­tert, wor­auf­hin Liang nach eini­gen Tagen vor Kum­mer stirbt. Auf einem Hügel außer­halb der Stadt trägt man ihn zu Gra­be. Am sel­ben Tag aber soll Zhu Ying-tais Hoch­zeit statt­fin­den. Ihr Bräu­ti­gam holt sie mit einer fest­lich geschmück­ten Kut­sche ab, um sie in sei­ne Fami­lie zu beglei­ten. Auf dem Weg kommt der Hoch­zeits­zug plötz­lich ins Sto­cken, ein unge­heu­rer Sturm­wind bläst durch das Tal, und die Pfer­de wei­gern sich, vor­wärts zu gehen. Befragt nach dem Ort, erzäh­len die Leu­te rings­um, das hier kurz zuvor Liang Shan-bo begra­ben wur­de, der aus Lie­bes­kum­mer gestor­ben ist. Zhu Ying-tai springt aus dem Wagen und läuft den Grab­hü­gel hin­auf, wo sie wei­nend nie­der­kniet. Ihre Ver­wand­ten und Die­ner fol­gen in eini­gem Abstand. Als sie bei ihr ange­langt sind, sehen sie gra­de noch, wie das Grab sich öff­net, und Zhu Ying-tai im Hoch­zeits­ge­wand dar­in ver­schwin­det. Dann schließt sich das Grab wie­der. Seit­dem heißt die­ser Platz „Das Grab der Liebenden“.

Dies ist eine der belieb­tes­ten Volks­er­zäh­lun­gen Chi­nas, die sich seit der Song-Dynas­tie durch alle For­men und Sti­le erhal­ten hat. Zhu Ying-tai ver­hält sich extrem ent­ge­gen­ge­setzt den herr­schen­den Ansprü­chen an das Leben einer Frau, näm­lich selbst­los, gehor­sam und beschei­den zu sein. Trotz­dem wird sie mit Hil­fe über­na­tür­li­cher Kräf­te auf dem Weg ihrer Lie­be bestä­tigt und mit Liang Shan-bo ver­eint. Man­che Ver­sio­nen erzäh­len sogar davon, wie bei­de vom König der Höl­le wie­der auf die Erde zurück­ge­schickt wer­den, um dort ihr Leben noch ein­mal gemein­sam zu ver­brin­gen. Noch 1972 waren in Tai­wan allein mehr als fünf­zig Epi­so­den die­ser Geschich­te als ein­zel­ne Erzäh­lun­gen nachweisbar.

4.

Jede Pro­vinz hat ihren eige­nen Stil, der sich haupt­säch­lich durch die Ver­wen­dung der Instru­men­te, die Melo­dien, die Art des Vor­trags und den Dia­lekt von ande­ren unter­schei­det. Die Grund­for­men des Erzäh­lens sind über­all ähn­lich. Immer fin­det man den Wech­sel zwi­schen Sin­gen und Spre­chen zwi­schen gereim­ten und unge­reim­ten Pas­sa­gen und die Beglei­tung durch weni­ge Instru­men­te. Oft sind es die­sel­ben Titel, die man in Hong­kong, Shang­hai, Peking oder Tai­wan findet.

In allen süd­li­chen Pro­vin­zen Chi­nas ver­brei­tet ist das Tan-Ci, eine Art Bal­la­den­dich­tung, die von männ­li­chen und weib­li­chen Erzäh­lern gemein­sam vor­ge­tra­gen wird, da hier der Wech­sel­ge­sang häu­fig ist. Meist sind es Lie­bes­ge­schich­ten, Legen­den, Volks­er­zäh­lun­gen oder auch Tei­le aus der Roman­dich­tung, die in ein­fa­che Umgangs­spra­che umge­dich­tet und mit ver­teil­ten Rol­len vor­ge­tra­gen wer­den. Die Aus­füh­ren­den sit­zen links und rechts von einem ein­fa­chen Tisch­chen, das die Büh­ne mar­kiert und gleich­zei­tig zur Abla­ge ein­zel­ner Gegen­stän­de die­nen kann. Die lin­ke Sei­te ist dem Haupt­er­zäh­ler vor­be­hal­ten. Er spielt die San-Xian, eine drei­sai­ti­ge Lau­te, singt und erzählt eine Geschich­te. Die ande­ren Spre­cher und Musi­ker sit­zen rechts vom Tisch. Beim Tan-Ci wer­den nur Sai­ten­in­stru­men­te ver­wen­det, z.B. die Pi-pa oder die Mond­gi­tar­re. Jedes Pro­gramm beginnt mit kur­zen ein­lei­ten­den Stü­cken aus bekann­ten, berühm­ten Tan-Cis, die das Publi­kum auf die Vor­stel­lung ein­stim­men sol­len. Dann folgt ein Gesang in Ver­sen, der den Titel und die Geschich­te mit­teilt. Der Gesang wird von allen Instru­men­ten beglei­tet. Erst wäh­rend der gespro­che­nen Pas­sa­gen schweigt das klei­ne Orches­ter. (Manch­mal ist es auch nur ein ein­zi­ger Beglei­ter.) Nun kann der Erzäh­ler für den Fort­lauf der Geschich­te sei­nen eige­nen Rhyth­mus wäh­len. Er wech­selt zwi­schen Ges­tik, Spra­che und eige­ner Beglei­tung auf sei­nem Instru­ment, berei­tet die Höhe­punk­te sei­ner Geschich­te durch Pau­sen vor oder kon­trol­liert die Span­nung der Zuschau­er durch wech­seln­de Laut­stär­ke, je nach sei­nem Talent und sei­ner Aus­bil­dung. Man­che Erzäh­ler kön­nen einen Dia­log von zwei oder meh­re­ren Per­so­nen so rea­lis­tisch vor­brin­gen, als unter­hiel­ten sich wirk­lich ver­schie­de­ne Per­so­nen vor dem Publikum.

Die Erzähl­form des Tan-Ci wur­de in ver­schie­de­nen Regio­nen mit unter­schied­li­chem Dia­lekt vor­ge­tra­gen. Wegen ihrer zar­ten Spra­che und den beson­ders lyri­schen Melo­dien sind die Tan-Cis von Soo­chow am berühm­tes­ten. Seit gedruck­te Ver­sio­nen ent­stan­den, ver­such­ten sich vie­le mit die­ser Kunst. Was anfangs nur hand­schrift­li­che Noti­zen der Erzäh­ler waren, wur­de zu einer eige­nen Rich­tung gedruck­ter Lite­ra­tur in den ein­zel­nen Dia­lek­ten. Klei­ne Dru­cke­rei­en, die auch reli­giö­se Tex­te für die Ver­brei­tung in Tem­peln her­aus­ga­ben, pro­du­zier­ten auf bil­li­gem Papier schma­le Lese­heft­chen, die mit ein­fa­chen Holz­schnit­ten ver­ziert wur­den. Die­se waren nicht für den Ver­kauf in nor­ma­len Buch­hand­lun­gen bestimmt, son­dern stamm­ten aus den soge­nann­ten Tem­pel­buch­hand­lun­gen, wor­un­ter oft nicht mehr als ein Bücher­tisch in einem Tem­pel oder in sei­ner Nähe zu ver­ste­hen ist. An die­sen Tischen wer­den gleich­zei­tig alle Arten reli­giö­ser Lite­ra­tur ver­trie­ben, bud­dhis­ti­sche und tao­is­ti­sche Legen­den, alte Kalen­der Wahr­sa­ge­bü­cher, Haus­re­zep­te gegen Krank­hei­ten und ver­schie­de­ne Rat­ge­ber mit aber­gläu­bi­schen und volks­re­li­giö­sen Anwei­sun­gen. In allen Pro­vin­zen Chi­nas gab es die­se Art der „Gebrauchs­li­te­ra­tur“ in den jewei­li­gen loka­len Dia­lek­ten. Da sie oft von weni­ger Gebil­de­ten kopiert und in pri­mi­ti­ven Dru­cke­rei­en ange­fer­tigt wur­den, ent­hal­ten sie häu­fig Schrift­feh­ler. Ihre Spra­che ist ein­fach und ent­hält immer Eigen­hei­ten der Dia­lekt­spra­che, obwohl sie alle die­sel­ben Schrift­zei­chen benut­zen. Das Geschäft mit die­ser Art von Lite­ra­tur flo­rier­te beson­ders im 18. und 19. Jahr­hun­dert, aber auch heu­te noch kann man in Hong­kong, Tai­wan oder Sin­ga­pur sol­che Tex­te entdecken.

Die bekann­tes­te Form die­ser Aus­ga­ben heißt Mu-yü-shu, wört­lich über­setzt heißt das: Holz-Fisch-Bücher. Holz­fi­sche sind Musik­in­stru­men­te in Form eines hoh­len Fisches, die mit einem Gum­mi­schlä­ger geklopft wer­den. Neben der Bron­ze-Trom­mel gehört die­ser Holz­fisch auf jeden Altar eines bud­dhis­ti­schen Tem­pels. Auch der Vor­trag von Volks­er­zäh­lun­gen wird oft von die­sem Schlag­zeug begleitet.

5.

Trotz der Ver­ach­tung, die der Kunst des Erzäh­lens von Sei­ten der Gebil­de­ten zuteil wur­de, sprach man doch dem Ein­fluss der Geschich­ten auf das Volk auch eine gewis­se Macht zu. Es gibt ein Sprich­wort, das besagt: Wenn man jung ist, soll man nichts über die Räu­ber vom Liangs­han Moor hören, und wenn man erwach­sen ist, soll man sich nicht mit den Geschich­ten der drei Rei­che beschäf­ti­gen. Das ers­te han­delt von dem Räu­ber Sung Jiang, der eine Grup­pe wil­der Rebel­len um sich schar­te und mit ihnen gegen die Kitan-Herr­scher vor­ging, die den Nor­den Chi­nas besetzt hiel­ten. Die­ses Buch in jun­gen Jah­ren zu lesen bedeu­tet, kämp­fe­risch und drauf­gän­ge­risch zu wer­den und sich vor nichts zu fürch­ten. Die Geschich­ten der drei Rei­che erzäh­len von den poli­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen berühm­ter Staats­män­ner aus der Zeit nach dem Unter­gang der Han-Dynas­tie. Aus der Beschäf­ti­gung mit die­sen Erzäh­lun­gen wird man schlau und lis­tig, Eigen­schaf­ten, die nach der herr­schen­den Moral nicht posi­tiv beur­teilt wurden.

Der Dich­ter Su Dong-po sag­te einmal:

„Man erzähl­te mir, das man den Kin­dern, wenn sie unge­zo­gen waren, und die Fami­lie sie nicht län­ger ertra­gen konn­te, etwas Geld zuwarf, damit sie sich in einer Grup­pe nie­der­setz­ten und alten Geschich­ten zuhör­ten. Wenn Geschich­ten aus den Drei König­rei­chen erzählt wer­den, und die Kin­der von Liu Peis Nie­der­la­ge hören, run­zeln sie die Stirn oder schluch­zen gar, wäh­rend sie vor Freu­de jubeln, hören sie von Cao Caos Nie­der­la­ge. Dies zeigt, das gute und schlech­te Män­ner der Geschich­te Hun­der­ten von Gene­ra­tio­nen ihren Stem­pel aufdrücken.“

Bestimmt wur­den die Kin­der nicht nur zum Geschich­ten­er­zäh­ler geschickt, wenn sie unge­zo­gen waren. Aber eines war an den Geschich­ten immer ein­deu­tig: Ihre Tren­nung von Gut und Böse, von der sich die E1tern wohl eine erzie­he­ri­sche Wir­kung erhoff­ten. Und wie die Eltern für ihre Kin­der, so glaub­ten auch die Gebil­de­ten, das das Geschich­ten­er­zäh­len eine Form der Erzie­hung für die Unge­bil­de­ten sein kön­ne. Immer wie­der stößt man zwar auf eine lite­ra­risch nega­ti­ve Beur­tei­lung die­ser Kunst, gleich­zei­tig aber wur­de ihre Popu­la­ri­tät ent­schul­digt als not­wen­di­ge Erzie­hung für das Volk. Die Iden­ti­fi­ka­ti­on mit gemein­sam aner­kann­ten Hel­den, die ein­deu­ti­ge Bestra­fung des Bösen und die Beloh­nung des Guten (und sei es auch nur die Aner­ken­nung nach einem Mär­ty­rer­tod), all das war und ist bis heu­te die mora­li­sche Recht­fer­ti­gung die­ser Kunst­form geblieben.

Wäh­rend der Kul­tur­re­vo­lu­ti­on waren die Geschich­ten­er­zäh­ler fast ganz aus den Stras­sen Chi­nas ver­schwun­den. Seit ein paar Jah­ren sind sie zurück. Die alten Geschich­ten sind wie­der leben­dig gewor­den. Und dazu ent­stan­den neue, die von den Anstren­gun­gen und Errun­gen­schaf­ten die­ser Gene­ra­ti­on berich­ten. Geblie­ben sind die Melo­dien und Träu­me der alten Hel­den, wenn auch man­che davon bis heu­te schon in Erfül­lung gegan­gen sein mögen.

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(Die­ser Auf­satz erschien ursprüng­lich in: Johan­nes Merkel/ Micha­el Nagel (Hg.): Erzäh­len. Die Wie­der­ent­de­ckung einer ver­ges­se­nen Kunst, Rein­bek 1982)