Johan­nes Merkel

Mar­ga­ret Mead schreibt über die Kin­der einer Süd­see­kul­tur: „In Manus haben Kin­der, abge­se­hen von Aus­nah­me­fäl­len, kei­ne Lücken in ihrem sozia­len Leben. Kein Kind ist ohne Spiel­ge­fähr­ten, daher bedarf es kei­ner ima­gi­nä­ren Freun­de. Die Geis­ter­kin­der wer­den ver­spot­tet, sie die­nen kei­nem Bedürf­nis, kei­ner Lücken­fül­lung. Die Kin­der emp­fin­den auch kei­nen Man­gel an nach­ah­mens­wer­ten Leit­bil­dern aus der Welt der Erwach­se­nen; da sie sich nicht um sie küm­mern, haben sie auch kein Bedürf­nis, sich eine Minia­tur­welt der Erwach­se­nen zu kon­stru­ie­ren, eben­so wenig wie Kin­der der Rei­chen das Bedürf­nis spü­ren, das Milieu der Armen und Ver­ach­te­ten nach­zu­ah­men. Des­halb hän­gen sie kei­ner­lei Träu­men nach, weder allein noch in Grup­pen. Ihr Spiel, ihre Unter­hal­tun­gen sind voll­kom­men phan­ta­sie­los“ (Mead, Jugend und Sexua­li­tät in pri­mi­ti­ven Gesell­schaf­ten, Bd. 2, Mün­chen 1970, S. 185)

Bezeich­nen­der­wei­se begin­nen die Kin­der der Manus erst beim Über­gang zum Erwach­se­nen­le­ben zu phan­ta­sie­ren, sobald das gan­ze Gewicht gesell­schaft­li­cher Ver­bo­te und Tabus auf ihnen las­tet, von dem sie als Kin­der ver­schont blie­ben. „Nach dem Ver­lust des Vaters blei­ben sie hilf­los zurück, sozu­sa­gen gesell­schaft­lich ver­stüm­melt. Und in die­sem Alter setzt das ein­zi­ge ima­gi­nä­re Spiel ein. Sie hal­ten lan­ge spi­ri­tis­ti­sche Schein­sit­zun­gen in ihrem Kna­ben­haus ab. (. ..) Dem Vater in der Geis­ter­welt gegen­über darf die Phan­ta­sie frei­en Lauf neh­men, und hier tritt nun zuta­ge, was die Manus an küm­mer­li­cher Ein­bil­dungs­kraft besit­zen (. ..) Ihr All­tags­le­ben ist eine selbst­ver­ständ­li­che, rein prak­ti­sche und nüch­ter­ne Ange­le­gen­heit. Ihre stark beton­ten gesell­schaft­li­chen Bin­dun­gen sind eben­so rea­lis­tisch und nüch­tern. Ihre kla­re, aber arme Spra­che, die weder Meta­phern noch Ana­lo­gien kennt, regt sie nicht zum Dich­ten an (. ..) Nur die unbe­kann­te Welt der Geis­ter weckt ihre Phan­ta­sie, und auch hier hält sie sich in engen Gren­zen“ (Mead, s.185/86).

Und wie man sich wie­der­um ohne gro­ße Phan­ta­sie vor­stel­len kann, kreist die Ein­bil­dung dann vor­nehm­lich um „bekann­te For­men ver­bo­te­nen Ver­hal­tens, die sie in der Phan­ta­sie den Abge­schie­de­nen gestat­ten“ (Mead, s.187).

Bei uns haben Kin­der kei­nen ver­gleich­ba­ren Schon­raum, allem Gere­de von der glück­li­chen unbe­küm­mer­ten Kind­heit abseits vom Ernst des Lebens zum Trotz. In einer Gesell­schaft, die durch­zo­gen ist von Hier­ar­chien und zer­ris­sen in Ein­zel­tä­tig­kei­ten, deren Sinn schwer erfahr­bar ist, sind Kin­der stän­dig auf Erwach­se­ne bezo­gen und von ihnen abhän­gig. Was sie außer Nah­rung und Klei­dung lebens­not­wen­dig brau­chen, sind Per­so­nen, die sie lie­ben, ihnen aber auch befeh­len kön­nen, die die Welt erklä­ren, aber denen man auch wider­spre­chen kann. Erst wo die­se Per­so­nen sich den hem­mungs­lo­sen kind­li­chen Ansprü­chen ver­sa­gen, zu wenig ver­ständ­lich machen kön­nen, was sie selbst oft nicht mehr durch­schau­en, zu wenig Zeit haben oder sich neh­men kön­nen, oder wo sol­che Per­so­nen gar nicht greif­bar und fass­bar sind, brau­chen Kin­der Phan­ta­sien, den Man­gel zu ertra­gen und recht und schlecht zu >kom­pen­sie­ren<. Aber selbst die­se Phan­ta­sie fällt nicht vom Him­mel: „Das Bei­spiel der Manus zeigt aber auch, dass es not­wen­dig ist, Kin­dern etwas zu geben, was ihre Phan­ta­sie anregt; es zeigt, dass sie nicht spon­tan rei­che und schö­ne Ergeb­nis­se her­vor­brin­gen, son­dern nur als Reak­ti­on auf das, was sie von den Erwach­se­nen erhal­ten“ (Mead, S. 191).

Brau­chen Kin­der also doch Mär­chen? Sie brau­chen Phan­ta­sie­fut­ter, und das kann ihnen auch ein Bild lie­fern oder ein Lied, aber sicher sind Geschich­ten dafür am geeig­nets­ten, weil sie vor­ge­stell­te Per­so­nen in vor­ge­stell­ten Hand­lun­gen vor­füh­ren. Mär­chen müs­sen das noch lan­ge nicht sein. Oft sind spon­tan aus dem hoh­len Bauch gehol­te Geschich­ten viel wir­kungs­vol­ler, ver­ra­ten sie den Hörern doch am meis­ten über die gelieb­te Per­son, die sie erzählt.

Wie die Psy­cho­ana­ly­se lehrt, liebt das Kind nicht nur Eltern oder >Bezugs­per­so­nen<, es fühlt auch Furcht und Hass, die wegen der Abhän­gig­keit vom kör­per­lich über­le­ge­nen und gesell­schaft­lich mäch­ti­gen Erwach­se­nen kaum mehr geäu­ßert wer­den kön­nen und des­halb ins Unbe­wuss­te ver­drängt wer­den. Damit sind sie aber noch lan­ge nicht erle­digt, sie wir­ken unter­schwel­lig wei­ter, und ihre stö­ren­den Wir­kun­gen zu behe­ben, macht die gan­ze Kunst der Psy­cho­the­ra­pie aus. Der The­ra­peut bie­tet sich in der Über­tra­gung als Ersatz­per­son an, an der Kon­flik­te schad­los aus­ge­lebt und damit bear­bei­tet wer­den kön­nen. Freud schrieb dem dich­te­ri­schen Phan­ta­sie­ren eine ähn­li­che Wir­kung zu, weil dabei anhand von Figu­ren und Situa­tio­nen Kon­flik­te sym­bo­lisch und stell­ver­tre­tend aus­ge­lebt und damit bear­bei­tet wer­den kön­nen, sogar ohne dass sie ins vol­le Wach­be­wusst­sein treten.

Da wir davon aus­ge­hen kön­nen, dass kein Kind vor die­ser ambi­va­len­ten Gefühls­ein­stel­lung bewahrt wer­den kann, kön­nen wir sagen, dass sie auch Geschich­ten brau­chen, die gestat­ten, dass im Unter­grund Unge­heu­er hau­sen, von denen man in der guten Stu­be nicht ein­mal flüs­tern darf. Die­sen dop­pel­ten Boden aber haben unse­re eige­nen Geschich­ten nur sehr sel­ten, und auch die Geschich­ten, die aus den Kin­der­buch­ver­la­gen kom­men, uns mit dem Fern­se­hen ins Haus fal­len oder auf Kin­der­kas­set­ten zu hören sind, blei­ben meist sehr vor­der­grün­dig. Wo es weni­ger um per­sön­li­che Zuwen­dung oder um Infor­ma­tio­nen geht, wie es in der geheim­nis­vol­len Welt hin­ter der nächs­ten Stra­ßen­kreu­zung zugeht, wo der Gang durch den dunk­len Kel­ler gegan­gen wer­den soll, kön­nen Mär­chen oft tat­säch­lich mehr Wirk­lich­keit fas­sen als vie­le gut­ge­mein­te Auf­klä­rungs- und Umwelt­ge­schich­ten. Mär­chen sind ja (wovon die Mär­chen­freun­de ger­ne reden) jahr­hun­der­te­lang erzähl­te und (was die Mär­chen­freun­de gern ver­ges­sen) auch jahr­hun­der­te­lang immer wie­der geän­der­te Erzäh­lun­gen. Ihre Figu­ren und Sym­bo­le haben des­halb einen All­ge­mein­heits­grad und eine Deut­lich­keit, wie ihn ein erzäh­len­der Vater so gut wie gar nicht, ein Schrift­stel­ler sehr sel­ten auf Anhieb erreicht.

Brau­chen Kin­der also doch Mär­chen? Die Ant­wort soll­te man nicht Herrn Bet­tel­heim über­las­sen, noch sonst irgend­ei­nem Exper­ten. Schlicht und ein­fach: Wenn Kin­der Mär­chen hören wol­len, brau­chen sie sie auch. Wenn sie lie­ber Micky Maus lesen, brau­chen sie sie nicht. Und man las­se sich nicht von Bet­tel­heims anschei­nend so schlüs­si­gen Mär­chen­in­ter­pre­ta­tio­nen ver­füh­ren: Psy­cho­ana­ly­ti­sche Mär­chen­in­ter­pre­ta­tio­nen sind zunächst nichts wei­ter als inter­es­san­te Sinn­kon­struk­tio­nen anhand psy­cho­ana­ly­ti­scher Kate­go­rien. Freud zu lesen ist auch des­we­gen noch immer ein Ver­gnü­gen, weil er uns die Ent­de­ckung und Ent­wick­lung sei­ner Begrif­fe durch detail­lier­te Beschrei­bun­gen nach­voll­zieh­bar macht. Bei Bet­tel­heim sucht man ver­ge­bens nach die­ser schö­nen Tugend, es wird nur noch ex cathe­dra ver­kün­det. Nir­gends erfährt man, wel­ches Mär­chen bei der Kon­flikt­be­wäl­ti­gung wel­chen Kin­des wel­che the­ra­peu­ti­sche Wir­kung gezei­tigt hat. Und des­halb bleibt dem Leser nur übrig zu glau­ben, dass Kin­der auch tat­säch­lich ihr Unter­stüb­chen so ein­rich­ten, wie es der Exper­te vorsieht.

Jede auf­merk­sa­me Kin­der­gärt­ne­rin weiß, welch unter­schied­li­che Bro­cken sich Kin­der aus einer Erzäh­lung, aus einem Bil­der­buch, einer Fern­seh­sen­dung her­aus­grei­fen. Aus dem Ange­bot an Bil­dern und Ein­drü­cken suchen sie sich die Tei­le, die sie für ihre Lebens­be­wäl­ti­gung brau­chen, und wir erken­nen dar­in oft kaum mehr die von uns wahr­ge­nom­me­ne Geschich­te. Mär­chen wer­den nicht anders als ande­re Geschich­ten, Bücher oder Sen­dun­gen benutzt, näm­lich als Stein­brü­che für die eige­ne Phan­ta­sie. Und kein Kind ist so phan­ta­sie­los, die Angst, von der Mut­ter ver­las­sen zu wer­den, nur mit Aschen­brö­dels böser Stief­mut­ter ver­scheu­chen zu kön­nen. Also noch ein­mal: Ob Kin­der Mär­chen brau­chen, wis­sen sie selbst am bes­ten, und Eltern und Erzie­her erfah­ren es, indem sie die Augen auf­ma­chen und zuhö­ren lernen.

Wenn man aber schon .grund­sätz­li­che Über­le­gun­gen anstellt, wie Mär­chen auf Kin­der wir­ken, darf man nicht nur von der psy­chi­schen Ent­las­tung reden, son­dern auch von der Behin­de­rung pro­duk­ti­ver Phan­ta­sie, die der in unse­ren Kin­der­stu­ben übli­che Mär­chen­kon­sum bewir­ken kann. Und man kann das eben­so schlüs­sig psy­cho­ana­ly­tisch begrün­den wie den Satz, Kin­der bräuch­ten Mär­chen. Die klas­si­sche psy­cho­ana­ly­ti­sche Metho­de, die unter­be­wuss­ten Kon­flik­te des Pati­en­ten aus dem frei­en asso­zi­ie­ren­den Erzäh­len zu erschlie­ßen, führt mit jün­ge­ren Kin­dern nicht weit, ihre sprach­li­che Aus­drucks­fä­hig­keit ist meist zu unent­wi­ckelt (oder was das­sel­be ist: sie spre­chen nicht die glei­che Spra­che wie der The­ra­peut). Dafür wur­de die spiel­the­ra­peu­ti­sche Metho­de ent­wi­ckelt: Das Kind erhält einen Satz Spiel­zeug, und der The­ra­peut schließt aus der Art, wie es damit umgeht auf die zugrun­de­lie­gen­den psy­chi­schen Kon­flik­te. Was wür­den Sie sagen, wenn Sie Ihr Kind in eine spiel­the­ra­peu­ti­sche Behand­lung brin­gen und der Arzt leg­te ihm einen Satz Dresch­fle­gel, Spin­deln, gol­de­ne Schwer­ter oder einen sti­li­sier­ten Dorf­brun­nen vor? Es sind das aber die Gegen­stän­de, an denen sich die Sym­bol­wir­kung der Mär­chen­er­zäh­lung ent­wi­ckelt. Für die alten Mär­chen­hö­rer und Mär­chen­er­zäh­ler waren es Gebrauchs­ge­gen­stän­de ihres all­täg­li­chen Lebens, Werk­zeu­ge täg­li­cher Arbeit. Dass ihnen im Mär­chen geheim­nis­vol­le Wir­kun­gen und Bedeu­tun­gen ange­dich­tet wur­den, ver­band den Traum vom bes­se­ren Leben, von der sieg­rei­chen Bewäl­ti­gung aller Kämp­fe, von der Über­win­dung von Abhän­gig­keit oder Hun­ger, von der alle Sehn­sucht stil­len­den Traum­frau mit der all­täg­li­chen Wahr­neh­mung, und die volks­tüm­li­chen Mär­chen­er­zäh­ler taten alles, um durch ihre Erzähl­wei­se die­se Ver­bin­dung zu bestär­ken. Jahn konn­te noch am Ende des 19.Jahrhunderts einen Mär­chen­er­zäh­ler fin­den, – einer Zeit, als das Schwert längst nicht mehr zum Kriegs­ge­rät gehör­te – der selbst­si­cher das Zau­ber­schwert in ein sich selbst laden­des Gewehr umdich­te­te (Ulrich Jahn: Volks­mär­chen aus Pom­mern und Rügen, Bres­lau 1886). Spä­ter beach­te­te man den Vor­trag von Erzäh­lern genau­er und ent­deck­te, dass ein recht frei­er Umgang mit den Mär­chen­sym­bo­len selbst­ver­ständ­lich war. Im tür­ki­schen Mär­chen hin­ter­lässt der alte Der­wisch den Fin­del­kin­dern selbst­ver­ständ­lich kein Krumm­schwert, son­dern die Dop­pel­flin­te (Per­tev Bora­tav, Tür­ki­sche Volks­mär­chen, Ber­lin-DDR, 1970 S.269). Oder ein dum­mer König des chi­le­ni­schen Mär­chens bringt sei­ne Schwie­ger­mut­ter mit dem Revol­ver um, um sie mit der Zau­ber­gi­tar­re, aller­dings ver­geb­lich, wie­der zum Leben zu erwe­cken (Orlan­do Pino-Saa­ve­dra, Chi­le­ni­sche Mär­chen, Düs­sel­dorf 1971, S. 222). Bei­spie­le las­sen sich end­los anein­an­der rei­hen. Es geht dabei nicht um auf­ge­setz­te Moder­ni­sie­run­gen, die Volks­er­zäh­ler suchen die Traum­phan­ta­sien damit bes­ser in die All­tags­wahr­neh­mun­gen einzubauen.

Wo Kin­der spon­tan phan­ta­sie­ren, gehen sie ganz ähn­lich vor. Ein­drü­cke, Werk­zeu­ge, alles, was in der Umge­bung greif­bar und sicht­bar ist, kann mit einer geheim­nis­vol­len Vor­stel­lung belegt wer­den, und selbst die ver­we­gens­te Vor­stel­lung hat noch ihren guten Sinn und ihren genau­en Anlass. Wenn der ros­ti­ge Nagel zum Schlüs­sel wird, der auch die raf­fi­nier­tes­ten Tür­schlös­ser knackt, dann ent­steht die zau­ber­haf­te Eigen­schaft nicht zuletzt des­halb, weil man ihn selbst aus der Werk­zeug­kis­te gefischt hat und in der Hosen­ta­sche her­um­trägt, und natür­lich weil man oft genug vor ver­schlos­se­nen Türen gestan­den hat. Der schön geform­te pfle­ge­leich­te Plas­tik­schlüs­sel aus der Spiel­wa­ren­ab­tei­lung des Kauf­hau­ses, für Kin­der­hän­de wie geschaf­fen, schließt nicht halb so vie­le Türen auf. Oder anders aus­ge­drückt: Wir woh­nen nicht nur im Unter­stüb­chen, und von den Wohn­räu­men füh­ren, solan­ge sie uns die Mär­chen­freun­de nicht ver­mau­ern, immer noch Trep­pen in den Keller

In der klas­si­schen Psy­cho­ana­ly­se sol­len ver­dräng­te Stre­bun­gen und Erleb­nis­se bewäl­tigt wer­den, indem sie in das Wach­be­wusst­sein des Pati­en­ten ein­ge­glie­dert wer­den nach der For­mel: „Aus Es soll Ich wer­den“. Dazu wird der Pati­ent ange­hal­ten, sei­ne Träu­me bewusst wahr­zu­neh­men, indem er sie ver­sprach­licht, auch wenn ihm zunächst die Traum­phan­ta­sien wirr und sinn­los erschei­nen. In der Ana­ly­se äußert er, was ihm spon­tan asso­zi­ie­rend zu den Traum­bil­dern ein­fällt, und gibt damit dem The­ra­peu­ten den Schlüs­sel in die Hand, die zugrun­de­lie­gen­den Kon­flik­te zu ent­rät­seln. Eine schein­bar zufäl­li­ge Ver­bin­dung wird her­ge­stellt zwi­schen Traum­ma­te­ri­al und All­tags­wahr­neh­mung, die den Pati­en­ten noch nicht auf die Explo­si­vi­tät sei­ner ver­dräng­ten Stre­bun­gen stößt, aber gleich­sam vor­be­wusst die Ver­bin­dun­gen wie­der her­stellt zwi­schen den ver­dräng­ten Bil­dern des Unbe­wuss­ten und den gestat­te­ten Bil­dern des All­tags. Das Zer­rei­ßen die­ser Ver­bin­dun­gen macht ja gera­de die Ver­drän­gung aus. Die beson­de­re Eig­nung von Mär­chen für Kin­der wird oft damit begrün­det, dass sie doch nur auf der inne­ren Büh­ne der See­le spiel­ten. Auch Bet­tel­heim betont immer wie­der, sie hät­ten mit dem äuße­ren Leben nichts zu tun, und ihre Wir­kung sei des­to will­kom­me­ner, je ver­steck­ter die damit bezeich­ne­ten Kon­flik­te ver­bild­licht wür­den. Und sie wirk­ten des­to mehr als psy­chi­sche Blitz­ab­lei­ter, je unver­ständ­li­cher ihre Hand­lungs­ab­läu­fe und die gesell­schaft­li­che Umwelt der Mär­chen sei.

Aus die­ser Argu­men­ta­ti­on folgt eigent­lich, dass Mär­chen zur Ver­drän­gung erzie­hen, dass sie neu­ro­ti­sche Ent­wick­lun­gen för­dern. Ich glau­be aller­dings, dass psy­chi­sche Kon­flik­te kaum oder nur man­gel­haft in Mär­chen ver­ar­bei­tet wer­den kön­nen, deren ober­fläch­li­che Hand­lungs­struk­tur nicht durch­schaut wird und deren mate­ri­el­le Umwelt zu fremd­ar­tig bleibt. Ich bin fast drei­ßig Jah­re alt gewor­den, bevor ich wuss­te, was eine Spin­del ist und wie sie aus­schaut und was man damit macht, und das obwohl in mei­ner Nach­kriegs­kind­heit eine Zeit­lang ein Spinn­rad in der Stu­be stand. Und aus den dif­fu­sen, künst­le­ri­schen Ein­druck gerich­te­tem Illus­tra­tio­nen der meis­ten Mär­chen­bü­cher sind sol­che Ein­zel­hei­ten auch nicht zu erken­nen. Wie hät­te ich sie mit irgend­ei­ner tie­fe­ren sym­bo­li­schen Bedeu­tung bele­gen kön­nen, ohne je ein Bild von ihr zu haben, außer dem Wis­sen, dass sie irgend­wie sticht? Dage­gen ist mir das >Mär­chen von einem der aus­zog, das Fürch­ten zu ler­nen< bis heu­te auch des­halb ver­traut, weil ich neben einer Dorf­kir­che, dem Fried­hof um die Kir­che her­um und einem Schloss im Nach­bar­dorf auf­wuchs und die­ses Mär­chen bis heu­te selbst­ver­ständ­lich in die­ser Umge­bung ablau­fen las­se. Mit den Jah­ren habe ich dann auch ver­stan­den, wie viel mir die­ses Mär­chen über mich sagt.

Wären die Mär­chen nicht auch ein­fach robus­te >Erzähl­stückl< (wie sie. Volks­er­zäh­ler ger­ne nann­ten), sie wären längst zusam­men­ge­bro­chen unter dem, was man ihnen schon alles auf­hals­te. Zu Grimms Zei­ten muss­ten sie her­hal­ten, um das bür­ger­li­che Natio­nal­be­wusst­sein zu befes­ti­gen. Wäh­rend der auf­ge­bro­che­nen Klas­sen­kämp­fe Anfang des 20. Jahr­hun­derts soll­ten sie die Kin­der vor mate­ria­lis­ti­scher Ent­see­lung und Ver­mas­sung ret­ten, also letz­ten Endes die Aus­wir­kun­gen der indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on rück­gän­gig machen. Heu­te macht die Mär­chen­se­lig­keit den Ein­druck, als wol­le man damit eine Vor­stel­lung von Kind­heit ret­ten, die von den Lebens- und Arbeits­be­din­gun­gen unse­rer Gesell­schaft abge­schafft wur­de. Wenn heu­te soviel dar­über gere­det und geschrie­ben wird, dann drückt sich dar­in viel schlech­tes Gewis­sen gegen­über Kin­dern aus.

Mit Mär­chen ist den Kin­dern aber nicht gehol­fen, sie brau­chen mehr Spiel­raum und mehr Selb­stän­dig­keit und Erwach­se­ne, die zur Ver­fü­gung ste­hen und nicht noch mehr Mär­chen, Bücher, Ted­dy­bä­ren oder Fern­seh­sen­dun­gen, alles letz­ten Endes Ersatz­hand­lun­gen für wirk­li­ches Leben und Spielen.

Dar­um zum drit­ten Mal: Kin­der brau­chen kei­ne Mär­chen. Wenn sie den nöti­gen Frei­raum haben und Erwach­se­ne, mit denen sie sich aus­ein­an­der­set­zen kön­nen, war­ten sie nicht, bis wir mit der Mär­chen­kis­te anrü­cken. Sie spin­nen sich ihre aus­glei­chen­den Phan­ta­sien mit den Ein­drü­cken zusam­men, die ihnen ihre all­täg­li­che Wahr­neh­mung bie­tet. Aller­dings sind sie genau­so wenig von Geburt an mit Phan­ta­sie begab­te Wesen, sie brau­chen Anre­gung und Model­le, und die alten Volks­mär­chen bie­ten davon einen uner­schöpf­li­chen Vor­rat. Aber genau­so anre­gend kön­nen ande­re Geschich­ten und Stof­fe sein: Gul­li­ver, Robin­son, Char­ly Chap­lin, Sesam­stra­ße oder Poke­mon, oder schlicht eine bana­le Erzäh­lung aus der Kind­heit der eige­nen Eltern. Was wir erzäh­len oder vor­le­sen, soll­te uns nicht die Weis­heit irgend­wel­cher Exper­ten dik­tie­ren, son­dern die eige­ne Lust, sie mit­zu­tei­len, und die Begeis­te­rung der Kin­der, sie wie­der und wie­der zu hören. Und wenn sie begeis­tert Mär­chen hören, war­um sol­len wir ihnen dann nicht auch Mär­chen erzählen?

(Aus dem Nach­wort zu: Johan­nes Merkel/ Klaus Adam/ Ilo­na Schulz/ Peter Kaemp­fe: Die Geschich­te vom Däum­ling, Mün­chen 1982)