Plädoyer für eine Ästhetik der Brauchbarkeit
Johannes Merkel
Alle schwärmen von Bilderbüchern: Eltern, die ihre Kinder unterhalten und darüber schon früh fördern möchten, Pädagogen, die den Wert des Vorlesens als Vorschule der Bildung preisen, Liebhaber, die sich für die skurrilen Bilder und Einfälle der Bilderbuchmacher begeistern.
Tatsächlich sind Bilderbücher für Kinder im Vorschulalter „Fenster zur Welt“, ermöglichen einen Blick über den eigenen Gesichtskreises hinaus. Allerdings können das andere Medien für Kinder wie die Hörkassetten, das Fernsehen oder der Computer ebenso leisten und leisten es unter der Voraussetzung, dass sie für diese Kinder nachvollziehbar sind, vielleicht sogar intensiver. Sie werden aber von den Liebhabern des Bilderbuchs eher etwas scheel angesehen. Das Bilderbuch erscheint als Bildungs- und Kulturgut gegenüber dem flachen Geschmack und dem Kitsch der Massenmedien, die deshalb so lange wie möglich von den Kindern fernzuhalten seien.
Sieht man sich die historische Entwicklung der Kindermedien seit ihren Anfängen an, erscheint die Gloriole des Bilderbuchs als „Kulturgut“ einigermaßen zwielichtig. Sobald sich bürgerliche Kindheit institutionalisiert, wird sie auch schon medialisiert. Schon die Pädagogen der Aufklärung kämpfen mit moralischen Geschichten und Gedichten einen Windmühlenkampf gegen die anschwellende Produktion von Bildmedien, die auf dem technischen Niveau der Zeit bereits als Massenware von reisenden Händlern auf Straßen und Jahrmärkten vertrieben wurden: Bilderbögen, Ausschneidebögen, Laterna Magica etc. Die Abbildung war nur für ernsthafte Lehrzwecke erlaubt und durfte deshalb die Vorläufer unserer Schulbücher beleben. Das unterhaltende Bilderbuch verdankt seine Entstehung dem Scheitern einer rein sprachlich-literarischen und schriftlichen Unterhaltung für Kinder. Da man gegen die Bilderflut nicht ankam, wurden eben den kruderen Neuruppiner Bilderbögen die „pädagisch wertvollen“ Münchener Bilderbögen an die Seite gestellt, die durch das ganze 19.Jh. in keinem bürgerlichen Haushalt fehlten und deren Moral dann am Ende des 19. Jahrhunderts Wilhelm Busch mit seinem „Max und Moritz“ karikierte. Auch daraus ist schließlich ein berühmtes Kinderbuch geworden.
So „hart“ und „skurril“ sollte Moral für Kinder aber nicht daherkommen. Beliebt waren eher Geschichten mit verdeckter Moral, phantastische Wichtelwelten zum Beispiel, in denen die harte Schulbank unter dem Schirm eines Fliegenpilzes aufgestellt wurde. Damit war das Bilderbuch als Massenware geboren. Die Kombination von stehenden Einzelbildern und begleitendem Lesetext war also zunächst einfach ein Ergebnis der durchaus kommerziellen Mediatisierung von Kindheit, so viel und so wenig Kulturgut oder Kunstwerk wie massenhaft gefertigte Hörkassetten, der „Kinderkanal“ oder Computerprogramme für Kinder.
Die pädagogische Empfehlung des Bilderbuchs zielt angesichts wachsender „Sprachdefizite“ von deutschen und Kindern mit anderer Muttersprache vor allem auf die frühe sprachliche Schulung. Die geschriebene Sprache der Erzähltexte hebt sich naturgemäß von den alltags gebrauchten Sprechweisen ab, über die Kinder sprechen lernten. Über die „gehobene“ Sprache der Bilderbücher werden Kinder früh mit einer formalisierten und stilisierten Diktion bekannt gemacht, lernen einen Wortschatz und Formulierungen kennen, die im Alltagsgespräch nicht vorkommen. Die begleitenden Bilder schaffen einen Übergang vom anschaulichen Eindruck zur abstrakteren sprachlichen Darstellung. Bilderbücher machen demnach mit einer Sprache vertraut, in der sich eben nicht nur die sichtbare und greifbare Welt bezeichnen, sondern jetzt auch eine ferne oder nur vorgestellte fiktive Welt sprachlich konstruieren lässt. Die LeserInnen werden daran gewöhnt, sprachliche Welten zu verstehen und später selbst zu konstruieren: Sie erwerben eine wesentliche Voraussetzung für „Literalität“ und damit für den Schreibunterricht in der Schule. Die Empfehlung lautet darum: Haltet die Kinder eher vom Fernseher ab, lest lieber regelmäßig Bilderbücher mit ihnen!
Diese Empfehlung macht durchaus Sinn. Das Betrachten der Bilder beim Vorlesen wird ganz selbstverständlich vom Gespräch begleitet, in dem die Handlungsweisen der Geschichte in der vertrauten Umgangssprache wiederholt, Unverstandenes nachgefragt und ergänzt werden kann. Das Gewebe aus gelesenem Text und Gespräch schafft bei der Bilderbuchbetrachtung eine Brücke vom vertrauten alltäglichen Sprechen zur stilisierteren Schriftsprache.
Warum aber sollen neuere audiovisuelle Medien diesen Effekt nicht ebenso oder gar besser erreichen? Dafür muss man wohl ohne Scheuklappen etwas genauer hinsehen und zwischen den einzelnen Medien und der Machart ihrer Angebote unterscheiden. Prinzipiell ist festzuhalten, dass in diesem frühen Alter alle sprachlichen Fähigkeiten über die Beziehung zu Personen erworben werden. Medien können dafür einen anregenden Anlass bieten, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Für das Fernsehen wird deshalb von Medienpädagogen immer wieder gefordert, die Sendungen mit Kindern zu besprechen. Das provoziert natürlich die Frage, warum man dann nicht lieber gleich mit den Kindern spricht, statt mit ihnen erst eine Sendung anzusehen, deren Strukturen sie schwer durchschauen und deren Zusammenhänge sie deshalb meist rasch vergessen. Allerdings mag das vor allem an der Machart unserer Kindersendungen liegen, die kein ruhiges und ausführliches Betrachten erlauben. Das Medium würde eine übersichtlichere Bildführung durchaus zulassen. Die Computerprogramme, die Kinder selbst steuern können, haben den Vorteil, dass sie sich intensiver erkunden lassen. Aber auch dann ist davon auszugehen, dass sie ohne die mündliche Besprechung mit Erwachsenen oder auch andern Kindern nur wenig für die Sprachbeherrschung bringen.
Kinderhörkassetten dürften, auch wenn sie in der Mehrzahl schlampig produziert sind, am ehesten sprachliche Fähigkeiten fördern. Sie werden – oft zum Verdruss der Erwachsenen – immer wieder gehört, Zusammenhänge werden über das wiederholte Hören allmählich verstanden, auch komplizierte sprachliche Formulierungen können sich einprägen. Kinder erschließen sich damit Sprachvorlagen, die über die gehörte und selbst gesprochene Sprache hinausweisen und als Vorlagen für eigene Äußerungen dienen können.
Als Grundsatz kann für das Alter vor dem Schulbesuch festgehalten werden, dass mediale Produktionen (und auch Bilderbücher sind Medienprodukte) nur dann als Vorstufe zur „Literalität“ und sprachlich förderlich wirken, wenn die Eindrücke über Gespräche zum Ausdruck gebracht und nachgearbeitet werden, beim Bilderbuch nicht anders als bei Hörkassetten oder Fernsehfilmen.
Allerdings hat das Bilderbuch, vor allem in den ersten Jahren, einen wesentlichen Vorteil gegenüber den komplexeren auditiven und audiovisuellen Medien: Bilderbücher fordern die sprachliche Begleitung durch Erwachsene, sind anders kaum aufzunehmen. Bilderbücher sind als erstes Medium für Kinder und für die sprachliche und literarische Frühbildung unverzichtbar.
Das heißt aber nun durchaus nicht, dass aktuelle Bilderbücher diese Erwartungen ohne weiteres erfüllen. Es sind zwei Tendenzen, die den „Gebrauchswert“ von Bilderbüchern beeinträchtigen.
Einmal die sattsam bekannte Tatsache, dass Bilderbücher dem Geschmack und den Erwartungen der erwachsenen Käufer entsprechen müssen, um sich auf dem Buchmarkt zu behaupten.
Darüber setzen sich dann zweitens verbreitete, aber keineswegs gesicherte Kriterien für ein „gutes“ Buch durch: Die Kaufentscheidung richtet sich vor allem nach der vermeintlichen „künstlerischen“ und „literarischen“ Qualität. Nichts gegen eine gelungene zeichnerische und sprachliche Gestaltung. Aber Bilderbücher sind keine Kunstobjekte, sondern vor allem andern „Gebrauchsliteratur“, die sich kindlicher Wahrnehmung und kindlichem Verständnis anzupassen hat, um ihren Daseinszweck zu erfüllen. Künstlerische Gestaltung, gleich welcher Kunstrichtung, oder literarische Formulierungskunst sichern nicht, dass ein Buch bei Kindern ankommt und seine Wirkung tut. Man mag dagegen einwenden, dass wir kaum verlässliche Kriterien für die „Wahrnehmung und das Verständnis von Kindern“ nennen können. Verallgemeinerungen über „die Kinder“ wuchern schon zur Genüge in unseren Erziehungsberatern und führen zu vielen gut gemeinten und nutzlosen Ratschlägen. Dennoch lassen sich, denke ich, einige Punkte benennen, die die Bilderbuchproduzenten vor jeder Diskussion der künstlerischen und literarischen Gestaltung beachten sollten.
1. Im Vordergrund sollte der genaue Umgang mit der Geschichte stehen. Erzählte Geschichten folgen einem Grundmuster, einer festen Regelhaftigkeit, die sie als Geschichten erkennbar machen. Im „Bilderbuchalter“ beherrschen Kinder dieses Grundschema noch kaum und müssen es sich passiv und aktiv erst erarbeiten. Sie übernehmen es vor allem über das (mündliche) Erzählen alltäglicher Erlebnisse und fiktiver Geschichten. Da vielen Kindern, selbst in den Familien, mehr erklärt und angewiesen als erzählt wird, hat hier das Bilderbuch eine wichtige Aufgabe. Die darüber geschulte Erzählfähigkeit, die das Abrücken vom alltäglichen Sprechen und eine formalisiertere Sprachverwendung bedeutet, ist eine unverzichtbare Vorstufe für die spätere Schreibfähigkeit. Geschichten, die nicht klar diesen Strukturen folgen, konsequente Handlungsfolgen und damit Orientierung und Übersicht bieten, behindern die Übernahme dieser wichtigen Kommunikationsweisen.
Leider kann man in Bilderbüchern immer wieder Erzählweisen finden, die das für mündliche Erzählungen verbindliche „Storyschema“ verändern und damit die Verständlichkeit der Handlungsfolge erschweren. Mit solchen Veränderungen haben geübte Leser keine Probleme: Sie haben das Schema längst verinnerlicht (und ordnen die Geschichte übrigens in Nacherzählungen nach dem Schema). Sie können notfalls auch zurückblättern. Hörer müssen demgegenüber die Handlungsfolge im flüchtigen Moment des Hörens begreifen. Kinder, die ja noch ausschließlich Hörer sind, haben diese Ordnungsstrukturen noch kaum übernommen, sie müssen sich im „Bilderbuchalter“ erst noch ausbilden, über mündliche Erzählungen und eben auch über Bilderbücher.
2. Die literarischen Ambitionen von Kinderschriftstellern können auch zur Orientierung an hochliterarischen Stilweisen statt an der Kindern vertrauten Sprechsprache verleiten. Nicht, dass man Alltagsjargon nachäffen sollte! Aber der Grad der sprachlichen Formalisierung kann nur eine Stufe über der kindlichen Sprechsprache liegen. Sprachbewusste Erzieherinnen versuchen deshalb, stilisierte Sprache beim Vorlesen improvisierend zu verändern, damit sie von den Kindern verstanden werden. Eigentlich sollten sich die Lesetexte von Bilderbüchern ohne solche Eingriffe verstehen lassen. Den Textern von Bilderbüchern kann ich nur empfehlen, ihre Geschichten zur Erprobung vor Kindergruppen in freier Rede zu erzählen.
Auch bei der Bildgestaltung führen nur auf die „künstlerische“ Wirkung gerichtete Arbeitsweisen leicht dazu, dass die Abbildungen von Kindern nur recht flüchtig betrachtet werden. Bezogen auf das Einzelbild lässt sich eine simple Regel benennen: Für die Bildwahrnehmung ist es in diesem Alter entscheidend, dass die Abbildung auf den ersten Blick übersichtliche Strukturen bietet, die nicht verwirren. Zugleich sollte genaues Hinsehen durch zu entdeckende Einzelheiten belohnt werden.
3. Schließlich gibt es nicht viele Bilderbücher, in denen nicht nur der Text, sondern auch die Bildfolge selbst erzählt. Bilderbücher sind ja für „Noch-nicht-Leser“ gedacht. Sie sollen das Leseinteresse wecken und zum eigenständigen Lesen anregen. Nachdem ihnen Bücher vorgelesen wurden, greifen Kinder immer wieder in die Bücherkiste und betrachten allein oder gemeinsam die Bilder. Umgekehrt können aber Bücher, deren Bildfolgen bereits die erzählte Geschichte andeuten, den Wunsch und das Bedürfnis wecken, die Geschichte nun über den sprachlichen Text genauer und ausführlicher mitzubekommen.
Noch einmal: Nichts gegen künstlerische und literarische Qualität. Aber sie kann sich gegenüber Kindern im frühesten „Lesealter“ erst dort entfalten, wo die handfesten Kriterien der Benutzbarkeit beachtet werden und den Rahmen für die Gestaltung liefern. Leider erfüllen viele marktgängige Bilderbücher diese Anforderungen nur unvollständig und unzureichend.