Über die innere Einheit des Erzählens in Literatur, Theater und Medien
Johannes Merkel
Ich will von einer erstaunlichen menschlichen Fähigkeit reden, der Fähigkeit, die Gewissheit sinnlicher Wahrnehmung aufzugeben und gegen eine ungreifbare und doch alle unsere Sinne ansprechende vorgestellte Welt einzutauschen, ich will über das Erzählen reden. Zunächst das Erzählen von Mund zu Mund, und dann inwiefern es Vorbild und Vorlage des Erzählens in der Literatur, auf der Bühne und im Kino oder Fernsehen wurde, ich will also über das Erzählen als übergreifende Kategorie sprechen, die allen literarischen, theatralen und medialen Formsprachen zugrunde liegt.
1. VOM MÜNDLICHEN UND ALLTÄGLICHEN ERZÄHLEN
Wo vom Erzählen die Rede ist, zeigt sich, wie eingefleischt uns seit unserer Schulzeit das Schreiben ist. Nachsehend in Wilperts gebräuchlichem „Sachwörterbuch der Literatur“ lese ich unter dem Stichwort „Erzähler“: „1. allg. Verfasser erzählender Werke in Prosa. 2. fiktive Gestalt, nicht identisch mit dem Autor, die ein episches Werk erzählt [Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der deutschen Literatur, 7.Aufl. Stuttgart 1989, s.264 ]
Der mündliche Erzähler ist nicht vorgesehen. Dass Geschichten von Mund zu Ohr und von Ohr zu Mund gehen ohne den Umweg des schriftlichen Textes, müssen wir uns erst durch den sperrigen Zusatz einer „mündlichen Erzählung“ vergegenwärtigen, wie sie bei Wilpert unter dem Stichwort Erzählung auftaucht als „allg. mündliche oder schriftliche Darstellung des Verlaufs von wirklichen oder erdachten Geschehnissen“ [ Gero von Wilpert, a.a.O. s.266] .
Und doch ist es mit Händen zu greifen, dass alles schriftliche Erzählen ausgeht vom mündlichen Erzählen, von den vielen umlaufenden Alltagerzählungen einerseits, den stilisierten und öffentlich vorgetragenen Erzählungen andererseits, also dem, was man im deutschen Sprachbereich etwas nebelhaft als „Märchen“ bezeichnet.
Angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der wir die „Kommunikationsform“ Erzählen, jedenfalls in ihrer alltäglichen Ausprägung, handhaben, machen wir uns kaum klar, in welch kompliziertem und beziehungsreichem Geflecht wir uns damit bewegen: Jeder leibhaftige Erzähler tänzelt in einem merkwürdigen Spagat gleichzeitig durch zwei Säle: Dem vorgestellten Raum der an einem andern Ort und zu einer anderen Zeit ablaufenden Erzählhandlungen und dem gegenwärtigen sinnlich wahrnehmbaren und greifbaren Raum, in dem er vor sichtbaren und reagierenden Zuhörern erzählt. In jedem Augenblick des Erzählens spielen beide Bereiche ineinander, beeinflussen sich gegenseitig, ergeben erst in ihrem Wechselspiel die ganze Erzählung.
Ich will mich zunächst an die Erzählung selbst halten, an die dem Hörer vorgestellten Handlungen, und nachfragen, wie sie der Erzähler im Akt des Erzählens organisiert. In den Theorien psycholinguistischer Textverarbeitung wird ein Schema postuliert, das wir benutzen, um überhaupt einen Redebeitrag der „Textsorte“ Geschichte zuzuordnen, das zweitens die Erwartungen des Hörers an den Fortgang der Erzählung steuert und das uns drittens ermöglicht, eine gehörte Geschichte zu speichern und auf der Stelle weiterzuerzählen. Das letzte ist vom Standpunkt des Schreibens her gesehen eigentlich eine erstaunliche Fähigkeit, denn auch nur zwei Seiten geschriebenen Textes auswendig lernen müssen, bedeutet harte Arbeit. Eine Alltagserzählung entsprechender Länge können wir jedoch auf der Stelle, aber auch noch nach vierzehn Tagen oder selbst noch nach zwei Jahren wiedergeben.
Woraus besteht dieses Schema? Wenn ich das Grundschema vereinfachend wiedergebe, kann ich sagen: Eine Geschichte benötigt, um als Geschichte zu gelten 1. einen Helden, 2. Ort und Zeit der Handlung, 3. ein Ereignis, das in das Leben des Helden eingreift, 4. muss sich der Held mit diesen Ereignis auseinandersetzen und es 5. zu einem Ergebnis und die Geschichte damit zu einem Abschluss bringen. Seine Geschichte glücklich beenden allerdings muss nur der Märchenheld, das Erzählschema begnügt sich auch mit seinem Scheitern.
Das ist also der Grundbaustein und im allgemeinen bescheiden sich unsere Alltagsgeschichten mit dieser einfachen Struktur. Unser Erzählen lebt ja fast nur noch in der Sphäre des Privaten, im Gegensatz zum öffentlichen Bereich, wo uns Literatur und Medien dieses zugänglichste Medium der Unterhaltung fast vollständig aus der Hand genommen haben. Ein anderes Bild zeigen die historisch überkommenen Traditionen öffentlichen Erzählens. In Europa denken wir dabei an das Märchenerzählen. Aber eigentlich stellt es nur noch den auslaufenden Wellenschlag jenes „Ozeans der Erzählströme“ (wie der Titel der Sammlung von Erzählungen lautet, die Somadeva als „Kathasaritsagara“ im 12 Jh. in Indien aufzeichnete) dar, bis auch er in unserer jüngeren Vergangenheit endgültig verebbte. Und in all diesen Traditionen, insbesondere dort, wo die Erzählungen in Sammlungen schriftlich festgehalten wurden und wir ihren Reichtum dadurch besser einschätzen können, etwa in China, Indien, im arabischen Raum aber auch andernorts, sehen wir, dass dieser einfache Grundbaustein zu komplexen Erzählformen weiterentwickelt wird, indem z.B. Episoden verkettet werden oder ineinander geschachtelt. Einfache Beispiele dafür kennen Sie alle aus unseren Märchen, wo oft drei Helden losziehen, zwei an der gestellten Aufgabe scheitern und nur der Dritte schließlich triumphiert. Oder wo ein Held nach der Lösung einer Aufgabe die nächste gestellt bekommt und ihn erst die dritte endgültig erlöst. Bausteinartig können so aus einfachen Grundelementen nächtelange Erzählungen montiert werden und auch die kunstvoll ineinanderverwobenen Geschichten etwa aus „1001 Nacht“ enträtseln sich noch als Kombinationen und Verkettungen des einfachen Grundschemas. Solche komplexen Erzählformen haben die Menschheit über die Jahrtausende in sehr professionalisierter Weise – wenn man an die klassischen Erzähltraditionen des Ostens denkt – unterhalten, und schenkten den Zuhörern die Abwechslung und Entspannung, die heute vor dem Fernseher gesucht wird.
Aber dieses „Operationsschema“ ist ja nichts weiter als das Leitseil, an dem sich der Erzähler entlang hangeln kann, oder es sind mit einem andern Bild nichts weiter als stichwortartige Notizen, die ihm helfen, den mehr oder weniger verschlungenen Pfad seiner Erzählung zu finden. Den Wortlaut muss er im Akt des Erzählens formulieren, und dazu braucht er das Publikum, das seinen Worten lauscht, das ihn mit stillen Signalen oder lauten Äußerungen bestätigt oder entmutigt, das ihn anregt oder bremst. Erst im Wechselspiel mit diesen Reaktionen, in der „Rückkoppelung“ oder im „Feedback“ mit dem Publikum findet er seinen Ausdruck, realisiert sich seine Erzählung. In der linguistischen Formulierung heißt das dann: Der Erzähler „generiert“ den Text seiner Erzählung entsprechend den Reaktionen der Hörer. Das kann man in linguistischen Untersuchungen recht schön belegen. [Siehe dazu: Uta M. Quasthoff: Zuhöreraktivitäten beim konversationellen Erzählen, in: Schröder, Paul/ Steger, Hugo (Hg.): Dialogforschung, Düsseldorf 1981]. Einfacher gesagt: Die Zuhörer erzählen mit. Das ist eben der Grund dafür, dass die Textgestalt jeder einzelnen Erzählung im Gegensatz zur geschriebenen Literatur von der letzten abweicht und diese Tatsache führte letzten Endes zu dem enormen Variantenreichtum, den wir aus allen mündlichen Erzähltraditionen kennen.
2. ERZÄHLEN IN DER LITERATUR: DIE NOVELLE
Auch wenn der Satz auf den ersten Blick trivial erscheinen mag, lohnt es sich doch festzustellen: alles schriftliterarische Erzählen hat seinen Ursprung in der Verschriftlichung mündlichen Erzählens, und in den literarischen Formen selbst finden sich die Spuren mündlichen und alltäglichen Erzählens.
Betrachten wir zunächst die klassische literarische Erzählung, wie sie sich im späten Mittelalter und der beginnenden Neuzeit herauskristallisiert: die Novelle. Wiederum lese ich dazu bei Wilpert: „[…] Prosaerzählung e. neuen, unerhörten […] Einzelbegebenheit mit e. einzigen Konflikt in gedrängte, gradlinig auf ein Ziel hinführender und in sich geschlossener Form […]“ [ Gero von Wilpert, a.a.O. s.266] Eine Definition, die ich direkt auf das eben erwähnte Erzählschema beziehen kann und die nur noch ergänzt wird durch den Zusatz, dass die Novelle nicht von märchenhaften, sondern von tatsächlichen Begebenheiten handelt. Diese letzte Feststellung möchte ich allerdings vernachlässigen, hat sie doch vor allem zu tun mit der Weltsicht am Beginn der europäischen Neuzeit. Die Faktizität literarischer Erzählung ist ja eine sehr fragliche Kategorie, allenfalls kann ich sagen, dass sich das Erzählte auf tatsächliche Ereignisse bezieht, aber in anderer Weise lässt sich das natürlich auch von jeder fantastischen Erzählung behaupten, insofern kann man das ohne weiteres bei Seite lassen und dann trifft die Charakterisierung der europäischen Novelle beispielsweise ebenso gut auf die von Toten oder Fuchsgeistern belebten chinesischen Novellen oder auf die Abenteuer Sindbads des Seefahrers zu.
Die Gemeinsamkeit dürfte in ihrer Nähe zur mündlichen Erzählung zu liegen: In China wurden diese Novellen schon über Jahrhunderte erzählt, ehe sie aufgeschrieben wurden, 1001 Nacht stellt ein Kompendium der unterhaltenden Literatur des orientalischen Mittelalters dar und enthält neben „Märchen“ auch viele Erzählungen aus dem Alltag jener Gesellschaften, besonders in der sogenannten ägyptischen Schicht der Sammlung, und sicher gehen die europäischen Novellen des 14. bis 16. Jh.s in ihrer Mehrzahl auf umlaufende Erzählungen zurück. Stets wird in diesen Geschichten davon berichtet, wie ein Held oder eine Reihe von Helden sich angesichts außergewöhnlicher Ereignisse bewährte oder eben scheiterte, wiederum eine Selbstverständlichkeit, die aber weniger trivial erscheint, wenn man sich klarmacht, dass der moderne Roman auf die Konfrontation des Helden mit dem außerordentlichen Ereignis nicht mehr angewiesen ist
Um den Anforderungen des neuen Kommunikationsmediums Buch zu entsprechen, mussten viele kurze Erzählungen zu einem längeren Lesetext verbunden werden, und auch dafür literarisierte man alltägliche Erzählformen.
Es charakterisiert die Kommunikationsform Erzählen, dass der Sprecher für die Dauer seiner Erzählung das ausschließliche Rederecht zugestanden bekommt, jedoch nach deren Ende jeder Zuhörer die Sprecherrolle übernehmen, und damit seinerseits eine Erzählung zum besten geben kann. Und bekanntlich regt das Hören einer Geschichte dazu an, selbst von einer ähnlichen Begebenheit zu berichten, die wieder bei einem andern eine erlebte oder gehörte Geschichte wachruft: Es entsteht eine Erzählrunde. Als Rahmenhandlung lieferte sie die Vorlage, nach der die Novellenschreiber der beginnenden Neuzeit ihre Erzählungen in Sammlungen vereinigten. Ähnliche Verfahren finden wir in der berühmten Geschichte von Scheherezade in 1001 Nacht, den umfangreichen chinesischen Novellensammlungen des 14. – 17. Jhds. oder der schon erwähnten indischen Sammlung des Somadeva aus dem 12.Jh.
Aber auch diese sichtbar noch an das leibhaftige Erzählen angelehnten Schreibtechniken konnten den mit der Verschriftlichung verbundenen Verlust des lebendigen Publikums nicht ausgleichen. Während mündliches Erzählen das Gleichgewicht zwischen der Erzählung und dem gegenwärtigen Publikum sucht, verlagert sich mit dem schriftlichen Erzählen der Schwerpunkt auf die Ausgestaltung der Erzählung. Der Leser wird zwar noch imaginiert, in den frühen dem mündlichen Erzählen noch nahestehenden Formen wird er sogar angeredet, aber er bleibt ein stummer Partner, der sich dem Text des Schreibers wehrlos ausgeliefert sieht, es sei denn er nimmt die letzte ihm verbliebene Freiheit in Anspruch und klappt das Buch einfach zu. (Und das neue Medium des gedruckten Buches teilt diese Eigenschaft mit allen nachkommenden technischen Massenmedien, deren Benutzern, von einer Ausnahme abgesehen, von der noch kurz die Rede sein soll, auch nur die Entscheidung bleibt, bedingungslos mitzuspielen oder den Knopf drücken.) Der schreibende Erzähler gewinnt nun zwar an Raum für seine Erzählung, kann sie detaillierter schildern und verflochtener anlegen, kann ungestört von der Ungeduld leibhaftiger Hörer die Spannung steigern, die Lösungen verzögern, seine sprachliche Formulierungskunst, seinen „Stil“ entwickeln. Aber andererseits fehlt ihm die Rückmeldung, ob er verstanden oder missverstanden wurde, ob seine Rede beifällig aufgenommen wird oder auf Ablehnung stößt, eine Erfolgskontrolle, die sich dann allenfalls noch über die verkaufte Auflage (oder über Einschaltquoten) ermitteln lässt. Der Verlust der lebendigen Rückkopplung ist es denn auch, der das Schreiben zu einer einsamen und widerspenstigen Arbeit werden lässt, während dem von seinen Hörern angeregten Erzähler die Worte recht selbstverständlich aus dem Munde fließen, er sie auch nicht aufs i-Tüpfelchen kalkulieren muss, bleibt ihm doch jederzeit die Möglichkeit, das Gesagte zu ergänzen, zu präzisieren oder gar ganz zu widerrufen.
3. ERZÄHLEN IN DER LITERATUR: DER ROMAN
Dennoch bleibt das unterhaltende Schreiben in diesen sogenannten „Kurzformen“ noch sehr auf die Vorlage mündlichen Erzählens bezogen, vor allem wenn man die veränderten Verhältnisse im Auge hat, die sich mit dem Auftauchen des modernen Romans herstellen.
Aus vorbürgerlichen Zeiten kennen wir umfangreiche Erzählungen, die wir wohl hauptsächlich wegen ihres Umfangs als Romane bezeichnen, die aber nicht dem entsprechen, was wir etwa seit dem 18 Jh. unter einem Roman verstehen. Sie erzählen meist die Taten eines einzelnen oder einer Gruppe von Helden, indem sie nacheinander deren Einzeltaten wie eine Perlenschnur aneinanderfügen. Jede einzelne Episode dieser Heldenleben folgt dabei noch relativ genau der Struktur des Erzählschemas, und das ist nicht verwunderlich, stellt diese Erzählweise doch die Verschriftlichung ursprünglich mündlich vorgetragener Heldenepen dar.
Schöne Beispiele bieten die chinesischen Volksromane wie die „Reise nach dem Westen“, die zwar schon im 14. Jh. aufgeschrieben dennoch bis ins 20. Jh. von Berufserzählern in abweichenden Varianten mündlich weitererzählt wurde. Aber auch noch die Romane der frühen Neuzeit in Europa folgen trotz mancher Abwandlung dieser Erzählweise, in Deutschland etwa noch Grimmmelshausens „Simplizissimus“.
Grundsätzlich vom mündlichen Erzählschema weicht erst der moderne Roman ab, der seinem Verfasser eine bislang unerhörte Freiheit der Darstellung erschließt: Gemessen am Erzählschema kann der moderne Romanschreiber ganze Strukturteile außer Acht lassen und zum Beispiel einen Roman mit der Schilderung gewöhnlicher Alltagsverrichtungen bestreiten. Auch ohne eigentliche Handlung lässt sich ein Roman verfassen, allemal kann das Ende offengelassen, und damit auf ein Ergebnis verzichtet werden, und selbst den individuellen Helden kann der Romanschreiber, wenn es sein muss, entbehren. Oder wieder mit den Worten lexikalischer Definition: „Bei aller Gebundenheit an die Außenwelt bestimmen letztlich nicht äußere Taten, sondern innere Entwicklungen den Gang des Romans und führen in der Gegenwart bis zu seiner `Entfabelung‘, d.h. dem Verzicht auf äußere Handlung und der Beschränkung auf subtile Seelenanalyse als Beitrag zur Selbstvergewisserung des Menschen.“ [ Gero von Wilpert, a.a.O. s.784]
Wir können also sagen: In gewisser Weise emanzipiert sich der moderne Roman von den Zwängen, die die mündliche Erzählung dem Erzähler bislang auferlegte. Ich würde allerdings eher sagen, der Romanautor verschriftlicht und stilisiert eine wohl mit dem Erzählen verwandte, aber doch davon, er bezieht sich, was meines Wissens wenig bemerkt wird, auf den Tagtraum. Die Fähigkeit ausgedehnten Tagträumens entsteht in der Kindheit, insbesondere während der Grundschuljahre über die wachsende Verinnerlichung der Erzählfähigkeit. Jede Erzählung entführt den Hörer ja aus dem gegenwärtigen gelebten Augenblick an den Ort und in die Zeit der erzählten Handlung und lässt ihn in die Haut des handelnden Helden schlüpfen. Es ist die wachsende Erzählfähigkeit, über die gelernt wird, die Aufmerksamkeit über längere Zeit von der äußeren Sinneswahrnehmung abzulenken und an innere Wahrnehmungen zu fesseln. Wenn Jugendliche in die Pubertät kommen, und das bedeutet in diesem Zusammenhang wenn sich die Erzählfähigkeit vollständig verinnerlicht hat, verstummen sie auffällig, zumindest Erwachsenen gegenüber, doch hinter ihrer Zurückhaltung flimmern ausufernde Tagträume, die, wie wir uns alle erinnern, in dieser Lebenszeit einen großen Teil des Tages ausfüllen. Und auch wenn sie in ihrem Ausmaß zurückgehen, begleiten uns Tagträume ein Leben lang und beschäftigen uns länger, als uns lieb ist. In diesem Sinne beschreibt Jerome Singer, einer der wenigen Psychologen, die sich ausführlich mit dem Tagträumen beschäftigten, den Tagtraum als „Selbstunterhaltung durch privates Erzählen mittels Bildern und Monologen“. [Singer,D.G./ Singer, J.L.: The house of Make-believe, Childrens play and the developing imagination, London 1990, s.2o6]
Wenn wir uns den Tagtraum ansehen, finden wir dort die Freiheit des Romanschreibers wieder: Sie ist davon abgeleitet. Auch wenn in den meisten Fällen der Tagtraum sehr wohl einen Helden kennt, nämlich den Träumer selbst, so lässt sich gelegentlich selbst darauf verzichten, indem der Träumer in aneinandergereihten idyllischen Bildern schwelgt. Ähnlich geht es mit dem Ereignis, meist ein Erlebnis des Wachlebens, das tagträumend berichtigt und zum guten Ende gebracht wird. Auch hier kann der Tagträumer sich mehr im allgemeinen wunderbare Eigenschaften oder Erfolgserlebnisse ohne konkrete Handlungen vorstellen.
Der Erzähler muss sich an die Regelhaltigkeit des erwähnten Schemas halten, um die Vermittlung der Erzählung sicherzustellen, sie wäre sonst in der mündlichen Form nicht verständlich. Der Leser kann nachblättern, was er nicht verstanden hat, der Hörer kann das nicht und muss im Moment des Hörens das Entscheidende aufnehmen und verarbeiten, was ihm das Erzählschema sichert (neben anderen Eigenschaften mündlichen Erzählens wie etwa dem redundanten Wiederholen). Die Entstehung des modernen Romans geht nicht zufällig einher mit veränderten Rezeptionsweisen. Die vorbürgerlichen „Romane“ wurden meist in Gemeinschaften laut vorgelesen, häufig wurde dabei noch abwechselnd erzählt und vorgelesen. Selbst einsame Lektüre erfolgte, wie wir das von unsern Leseanfängern kennen, noch lange mit lauter Stimme. Der Vorleser steht mit den möglichen Modulationen seiner Betonung, den Pausen und Unterbrechungen, die auch Raum für Äußerungen und Fragen der Zuhörer oder auch für Erklärungen lassen, dem Erzähler noch vergleichsweise näher, ermöglicht eine unmittelbarere sinnlichere Aufnahme, wie wir sie heute fast nur noch vom Vorlesen vor leseunkundigen Kindern kennen. Erst im 18.Jh., und wohl zunächst auch nur in einer kleinen Bildungselite, verbreitet sich stille selbstvergessene Lektüre, beginnt man also in tagtraumartiger Versenkung zu lesen, im Laufe des 19.Jh.s setzt sich diese literarische Rezeptionsweise allgemein durch, und erst vor diesem Hintergrund kann es zur „Entfabelung“ literarischen Erzählens kommen. [Siehe Rüdiger Steinlein: Vom geselligen Hörer zum einfachen Leser. Über die Verbürgerlichung mündlicher Erzählkommunikation, in: Merkel, J./ Nagel, M. (Hg.): Erzählen. Die Wiederentdeckung einer vergessenen Kunst, Reinbek 1982].
4. ERZÄHLEN IM THEATER
Bislang war nur von Textgestaltung und seiner Rezeption die Rede. Aber indem ich von „leibhaftigem“ Erzählen spreche, ist eingeschlossen, dass auch der lebendige „Leib“ miterzählt, den wir uns angewöhnt haben in Anlehnung an seine physikalischen Pendants nur noch „Körper“ zu nennen. Das ist natürlich etwas, was nicht nur das Erzählen kennzeichnet, in jeder mündlichen Rede macht der gesprochene Text allenfalls die halbe Botschaft aus, die ergänzt, paraphrasiert oder konterkariert wird durch die nonverbalen Mitteilungen. Der Schreiber, der auf den sprachlichen Text reduziert ist, versucht den Verlust an Anschaulichkeit durch Beschreibung wettzumachen (und worauf ich hier nicht zu sprechen komme, die wiederholende Formel tunlichst zu vermeiden). Wir können das beispielsweise anhand der Verschriftlichung von Märchen beobachten. Die Textvorlagen, die die Sammler beim Hören notierten, waren in ihrer knappen Kargheit eine ungenießbare Lektüre, darum wurden sie nach den Anforderungen des schriftlichen Mediums ausgeschmückt und umgeschrieben. Lesen wir die erhaltenen Notizen und Urfassungen der Gebrüder Grimm, finden wir sie sehr knapp gehalten verglichen mit dem in der Fassung letzter Hand erschienenen Text. Noch stärker fällt das an wörtlichen Transkripten von Tonbandaufnahmen auf: Der Text wird beinahe unverständlich. Das zeigt eben sehr deutlich, dass der Erzähler neben dem Text ein weiteres Medium zur Verfügung hat: die Darstellung, die Gestik. Der Schriftsteller muss diese darstellenden Elemente ersetzen durch Beschreibung, und die Qualität der Beschreibung macht denn auch zu einem guten Teil den literarischen Stil aus.
Schon in jeder alltäglichen Erzählrunde sticht der „geborene Erzähler“ nicht nur durch seine Wortgewandtheit hervor, sondern ebenso durch seine lebendige Gestensprache und seine spielerischen Einlagen, eben jene Elemente, die in den Kulturen gepflegt und zu oft artistischer Perfektion entwickelt wurde, in denen die literarische Unterhaltung von Berufserzählern bestritten wurde. Sieht man sich beispielsweise an, wie in China und Japan, in Indien oder im islamischen Orient noch bis ins 20. Jahrhundert die Berufserzähler von ihren Meistern ausgebildet wurden, findet man überall eine sehr dezidierte, über viele Jahre gehende Schulung, deren wesentlicher Bestandteil das Erlernen von Auftreten und Gestik war. [ Siehe dazu: Hrdlickova, Vena: „Ein Buch, das sind nur Wörter“ Professionelle japanische Geschichtenerzähler, in: Merkel,J./ Nagel,M.(Hg.): Erzählen. Die Wiederentdeckung einer vergessenen Kunst, Reinbek 1982]
Noch im mittelalterlichen Europa gab es den Beruf des öffentlichen Erzählers: Die Troubadoure und fahrenden Sänger einerseits, die auf Burgen und an Fürstenhöfen umfangreiche Heldenepen vortrugen, andererseits die Gaukler und Jongleure, die in einer Mischung aus Erzählung, Vorführung und Akrobatik das „gemeine Volk“ auf Jahrmärkten und städtischen Festen unterhielten. Beiden wird der Boden ihrer Kunst entzogen durch das aufkommende neuzeitliche Theater, das die Heldengeschichten in die Form erhabener Tragödien goss und die Volksunterhaltung, zumindest in den städtischen Zentren, in komödiantischen Aufführungen lieferte. Das überlieferte „Gesamtkunstwerk“ des Geschichtenerzählers wurde weiter aufgesplittert und spezialisiert: Die Aufgabe sprachlicher Formulierung übernahmen die Schriftsteller, deren Darstellung die Theatermacher, und was vom öffentlichen leibhaften Erzähler überblieb, wanderte als „abgesunkenes Kulturgut“ in die Dörfer, bis es von intellektuellen Schreibern als „Märchen“ wieder entdeckt und der Schriftkultur einverleibt, im Bereich des Kindertheater auch auf die Bühne gebracht wurde.
In allen Kulturen wurzeln die verschiedenen Formen theatralischer Darstellung im mündlichen Erzählen: Die repräsentative, Gemeinschaft bildende Funktion des Theaters, die aus der „kultischen“ Vorführung hervorging, brachte den kulturstiftenden Mythos zur Anschauung, der immer und zunächst auch eine Erzählung darstellt, Theater als zerstreuende Unterhaltung dramatisierte die alltäglicheren „weltlichen“ Erzählungen. Auch das neuzeitliche europäische Theater erzählt auf seine Weise Geschichten und lässt sich darum zur althergebrachten Vortragskunst der Erzähler in Beziehung setzen: Es sind die kurzen spielerischen Einlagen, in denen der Erzähler die Handlungsweisen und Gefühle seiner Helden „anspielt“, die nun artistisch ausgebaut zur alleinigen und verbindlichen Konvention der Darstellung werden.
Die Erzähler waren immer nur „Gelegenheitsspieler“, die an dramatischen Stellen ins Spiel fallen. Noch bei den letzten Märchenerzählern, die in Laufe dieses Jahrhunderts beobachtet wurden, finden sich gelegentlich Passagen echten „Einmanntheaters“, wie bei dem folgenden Auftritt des skandinavischen Zigeuners Taikon: Stolz reitet er seinem Schicksal entgegen. Er nähert sich dem Schloss. Er steigt von seinem Pferde. Seine Stimme verstummt. Eine Pantomime beginnt. Auf Zehenspitzen schleicht er sich zum Schloss hin. Späht. Biegt das Gebüsch beiseite. Bleibt einen Augenblick hinter dem letzten Versteck stehen. Geht mit entschlossenem Gesicht auf das Tor zu. Bleibt stehen. Blickt sich um. Erhebt die Hand um an das Schlosstor zu pochen. Lässt sie abermals sinken. Ermannt sich schließlich und schlägt dagegen, dass es im ganzen Schloss widerhallt. Öffnet! Öffnet für Prinz Unverzagt! Tillhagen, 1979 s.169).
Die theatralische Konvention, nach der jeder Spieler für die Zeit der Vorstellung in die Haut der dargestellten Person schlüpfte, erforderte den gelernten Schauspieler. Während die mittelalterlichen „Mysterienspiele“ nach heutigen Kategorien „Laienaufführungen“ darstellten, werden im gleichen Zeitraum, in dem Schriftsteller das unterhaltende Erzählen übernehmen, die darstellenden Künste von berufsmäßigen Schauspielern getragen, die immer mehr schriftlich verfasste Stücke spielen. Nur vereinzelt, wie beispielsweise in der Commedia dell´arte, überlebt im Theater die improvisierende Textgestaltung der Erzähler. Damit veränderte sich notwendig auch das Verhältnis zum Publikum, das nun vom „Miterzähler“, dessen Reaktionen die Vorführung des Erzählers steuern, immer mehr zum stummen, sich nur noch im begeisterten Applaus oder dem ablehnenden Pfeifen artikulierenden Zuschauer wird. Kannte das elisabethanische Theater noch eine große Offenheit dem Publikum gegenüber, die sich auch in seiner in den Zuschauerraum vorstoßenden Bühne ausdrückte und noch das direkte Ansprechen des Publikum erlaubte, richtete das entwickelte europäische Vorführtheater, das sich im französischen Hoftheaters durchsetzte und bis zu Beginn dieses Jahrhunderts vorherrschte, sich eine „Guckkastenbühne“ ein, durch deren imaginäre „vierte Wand“ der Zuschauer einem Geschehen beiwohnte, das ihm die eigene gelebte Gegenwart vergessen zu machen und ihm die vollkommene Gegenwärtigkeit der vorgeführten Bühnenerzählung zu suggerieren suchte. Wie im Bereich des schreibenden Erzählens wurde auch im modernen Theater die doppelte Bezugnahme des Erzählers auf Erzählung und Publikum einseitig auf die Darstellung der Erzählung verlagert.
Theatergeschichtlich gipfelte die vollendete Fiktion der Gegenwärtigkeit der Bühnenhandlung in den berühmten drei Einheiten, wie sie von Boileau für das klassische französische Theater formuliert wurden: Zumindest innerhalb eines Aktes sollte die gelebte Zeit des Zuschauers der Zeit und dem Ablauf der Bühnenhandlung und dem auf der Bühne simulierten Ort entsprechen. Diese Bühnenkonvention dürfte nicht zufällig in jener historischen Epoche ausgebildet worden sein, die auch die Grundlagen der modernen Naturwissenschaft formulierte, die nur noch der materiellen sichtbaren und greifbaren Welt den Status von „Wirklichkeit“ zusprach.
In ihrer Handlungsführung bleibt allerdings auch die klassische Bühnenerzählung dem mündlichen Erzählen verpflichtet: Der in Anlehnung an die Poetik des Aristoteles geforderte Ablauf der Tragödie, die mit der Exposition einzusetzen, rasch einem Höhepunkt zuzustreben hatte, der dann jedoch in der „Peripetie“ zu verzögern sei, ehe er sich in der Katastrophe entlädt und beim Zuschauer die gewünschte „Katharsis“ auslöst, erweist sich erkennbar als eine spezielle Ableitung von dem allgemeiner formulierten „Storyschema“, nach dem der mündliche Erzähler vorgeht.
Was die klassische Dramaturgie aufgab und mit den Konventionen der Guckkastenbühne aufgegeben werden musste, war die Beweglichkeit des Erzählers, der Schauplätze und Helden mit wenigen Worten verändern, der zugleich ständig zwischen der Ebene der erzählten Handlung und der Gegenwart der Erzählung wechseln, einer Äußerung des Helden unvermittelt eine Bemerkung aus der Sicht des Erzählers, der die gesamte Erzählung überblickt, anhängen kann, oder der mit anderen Worten sich traumtänzerisch mit einem Schrittchen von der „Wirklichkeit“ zur Phantasie und zurück bewegen kann. Damit war aber die Erzählbarkeit von Geschichten auf der Bühne bedenklich eingeschränkt und die verschiedenen „Dramaturgien“, die seit Lessing von Theaterautoren oder Theatermachern formuliert wurden, lassen sich unter dem Gesichtspunkt zusammenfassen, wie die aufgegebene darstellerische Freiheit des Erzählens für die theatralische Vorführung zurückzugewinnen ist und damit auf der Schaubühne wieder komplexere und reichhaltigere Geschichten erzählbar werden.
Als Bezugspunkte dienten bezeichnenderweise Formen darstellenden Spieles, die der Guckkastenbühne und ihrer Dramaturgie vorhergehen, und das heißt, die dem erzählenden Vorführen näherstanden. Während sich die deutschen Klassiker auf Shakespeare und das elisabethanische Theater beriefen, sind die Theaterreformen des 20. Jahrhunderts vorwiegend von außereuropäischen Spieltraditionen beinflusst, die sich weniger vom Erzählen entfernt hatten und deshalb vor allem nicht die Fiktion vollendeter Gegenwärtigkeit der vorgeführten Handlung behaupteten, sondern den Zuschauer in einer stilisierten zeichenhaften Sprache auf eine Erzählung verweisen, die ihm meist längst bekannt ist und deshalb jede Illusion teilnehmender Gegenwärtigkeit versagt. So findet sich Brechts „Verfremdungseffekt“ im chinesischen Theater vorgebildet, dessen Spielweise stets „referierend“ verfährt, das seinen Schauspielern auch die direkte Vorstellung vor dem Publikum gestattet: [Beispiel]. Andere Autoren und Regisseure ließen sich vom japanischen No-Theater, den Formen mythologischen Puppenspiels oder den kultischen Festen von Stammeskulturen inspirieren.
Die Rückbesinnung auf erzählende Formen des Theaterspiels und die damit verbundene Öffnung zum Publikum erwies sich von besonderer Bedeutung für das Kindertheater, das zunächst mit dem Illusionstheater verpflichteten Märchenaufführungen beginnt. Geprägt von den eigenen Erfahrungen im Rollenspiel und meist dem „Erzählalter“ angehörend, in dem Erfahrungen in „mythischer“ Weise verarbeitet werden, verlangt das kindliche Publikum eine erzählende Diktion, zugleich veranlasst sie ihre starke Verwicklung in das gezeigte Geschehen zu Zwischenrufen und eigenen Reaktionen. Schon mit der Übernahme des Kaspers ins volkstümliche Kindertheater wurde eine erzählende und offene Spielweise üblich, die sich dann in den verschiedensten Ansätzen des neueren Kindertheaters wiederfindet. Verstärkt werden diese Tendenzen durch die immer größere Bedeutung, die die audiovisuellen Medien für das kindliche Publikum seit den 5oer Jahren gewannen, zunächst im Bereich eines auf kindliche Zuschauer zugeschnittenen Kinos, vor allem aber durch den wachsenden Fernsehkonsum von Kindern und die Öffnung der Programme für spezielle Kindersendungen. Es wiederholte sich im Bereich des Kindertheaters, was schon das Theater dieses Jahrhunderts gezwungen hatte, sich auf seine erzählerischen Ursprünge zurückzubesinnen: Kein noch so perfektioniertes Illusionstheater konnte der überwältigenden Illusion gleichkommen, den Zuschauer unwiderstehlicher in die Gegenwärtigkeit des Gezeigten verwickeln, wie sie die neu aufkommende audiovisuelle Darstellung erlaubte. Das Theater sah sich gezwungen, sich auf seine eigentlichen Möglichkeiten zurückzubesinnen, auf das durchschaubare Spielen und die leibhaftige Kommunikation mit dem Publikum.
5. VON DER FILMSPRACHE DER GESTIK
Der Eindruck sinnlich miterlebter Gegenwärtigkeit, den die kinematograpische Wiedergabe erzeugt, beruht auf einer dem Nachdenken leicht erkennbaren Täuschung: Die Bilder sind, jedenfalls dort, wo das Kino Geschichten erzählt, offensichtlich gestellt und in der Aneinanderreihung von Sequenzen wird die „Wirklichkeit“ auf wenige ausgewählte Ausschnitte reduziert. Dieses Wissen, das man auch dem naivsten Kinobesucher unterstellen darf, behindert jedoch kaum den Eindruck miterlebter Gegenwart, den das Kinobild erzeugt.
Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass dieser durch die perfekte Abbildbarkeit erzeugt wird, die das fotographische Verfahren ermöglicht. Tatsächlich halten wir aber zum einzelnen Foto problemlos Distanz: Wir betrachten es als die Abbildung eines örtlich und zeitlich entfernten Zustandes. Das ändert sich, sobald diese Bilder zu laufen beginnen, es ist das bewegte Bild, das dem Film „Realität“ verleiht, das dem Kinobesucher den unabweislichen Eindruck suggeriert, Augenzeuge der vorgeführten Handlungen zu sein, mit den handelnden Figuren in den abgebildeten Räumen und Landschaften zu leben.. Die Gegenstände und die Personen, die uns der Film zeigt, erscheinen dort als Abbild, doch die Bewegung, durch die sie belebt werden, ist kein Abbild der Bewegung, sie erscheint wirklich ( Christian Metz: Semiologie des Films, München 1972 s.28), wie es der französische Filmkritiker Christian Metz ausdrückte. Er sieht diese spezifische Filmwirkung darin, dass im Gegensatz zu einem stehenden Foto, das wir ohne weiteres als Abbild einer vergangenen Wirklichkeit werten, die Bewegung selbst im Augenblick ihrer Wahrnehmung erzeugt wird.
Sofern man nicht die sicher ganz andere technische Realisierung, sondern den psychologischen Effekt im Auge hat, lässt sich dieser Gedanke unmittelbar auf ein für das Erzählen entscheidendes Verfahren zeichenhafter Darstellung übertragen, auf jene abbildenden Gesten, die sich bewegende Objekte oder Menschen durch stellvertretende Körperbewegungen repräsentieren. Auch wenn der Erzähler dem Zuschauer einer höhere Vorstellungskraft abverlangen mag, seine Darstellungsweisen andern Gesetzmäßigkeiten folgen, zeigt seine gestische Bewegung eine vergleichbare, wenn auch weniger nachhaltige Wirkung. Sie sind darauf angelegt, durch stellvertretende „symbolische“ Darstellungen die Bildvorstellungen des Betrachters anzuregen, und sie lassen sich recht gut unterscheiden in Gesten beschreibender Vergegenwärtigung, die sozusagen mit den Händen dem stehenden Foto vergleichbare Bilder malen, und den gestischen Darbietungen, die Bewegungen wiedergeben, und die – wie man handgreiflich an kindlichen Zuhörern bemerken kann – das Publikum regelrecht in die Erzählung hineinziehen. Sie sind es, die im gestischen Repertoire aller Erzähler überwiegen, und ich möchte für die starke Faszination bewegter Gestik und die davon angeregte imaginierende Bewegung der Bildvorstellungen den gleichen Zusammenhang verantwortlich machen, den Metz hinter dem Realitätseindruck filmischer Wahrnehmung am Werke sieht, wenn er feststellt, man könne eigentlich keine Bewegung „reproduzieren“, sondern man kann sie nur re-produzieren durch eine zweite Bewegung, die für den, der ihr zuschaut, den gleichen Realitätsgrad hat wie die erste (……) beim Kino ist der Eindruck der Realität auch die Realität des Eindrucks, die wirkliche Präsenz der Bewegung (Metz 1972 s.28).
Während uns darstellendes Spielen übers Rollenspiel bis zum mehr oder weniger gekonnten Schauspielern vertraut ist, es eine Kultur darstellenden Spiels, Theaterpädagogen und Laientheater verschiedenster Provenienz gibt, haben wir mit dem Verlust professionellen Erzählens auch eine Kultur gestischen Vorführens verloren, und selbst in unseren Alltagsgesprächen fristet sie, jedenfalls in nördlichen Breiten, ein eher kümmerliches Dasein. Es ist deshalb angebracht, ihr einige grundsätzliche Überlegungen zu widmen und sie gegenüber dem darstellenden Spielen abzugrenzen.
Aus der kommunikationswissenschaftlichen Literatur wissen wir, dass ein Sprecher, sobald er vom Dialog in eine Erzählung übergeht, sich vermehrt der „ikonischen“ darstellenden Gestik bedient, während in Gesprächen die den Sprachfluss rhythmisierende Handbewegung vorherrscht. [ Siehe dazu: David McNeill/ Elena Levy: Conceptual representations in language activity and gesture, in: Jarvella,R.J./ Klein,W. (eds): Speech, place and action, Hillsdale 1982]. Diese abbildende Gestik gibt sich bei genauerer Betrachtung als verkürzte Spielhandlung zu erkennen. Wenn beispielsweise der Held mit dem Fuß zutritt, kann ich als Erzähler dies auch mit der Hand vorführen, benutze also eine isolierte und reduzierte Bewegung, um damit stellvertretend die Handlung des ganzen Menschen vor Augen zu führen und ich tue das im allgemeinen auf der reduzierten Kleinbühne etwa eines Halbkreises vor dem Körper. Im Gegensatz dazu hat der Schauspieler immer den ganzen Menschen zu repräsentieren und dazu steht ihm ein ausgedehnter Bühnenraum zur Verfügung. Dass die gestische Vorführung pantomimische Darstellung verkürzt, zeigt übrigens sehr deutlich die Tendenz von Kindern, das Erzählen mit ganzkörperlichen rollenspielartigen Darbietungen zu illustrieren, die sich im Verlaufe der Entwicklung dann zu zeichenhaften Gesten abschleifen.
Eine dritte Abgrenzung vom darstellenden Spiel liegt in der Abgrenzung der erzählerischen Geste. Wenn die einzelne Geste abgeschlossen ist, gehen die Hände in die Ausgangsstellung zurück, um dann wieder eine neue Geste zu beginnen, wie das Videobeobachtungen sehr schön zeigen. Es werden also klar abgesetzte Zeichen gesetzt. Zugleich wechseln die Darstellungsebenen von Geste zu Geste: Die Hand, die eben noch den zutretenden Fuß bezeichnete, beschreibt im nächsten Augenblick schon die Wucht der gegen die Felsen klatschenden Brandung usw., wiederum im Gegensatz zur Schauspielbühne, deren symbolischer Raum über die gesamte Szene hinweg erhalten bleibt.
Gegenüber der Theateraufführung, mit der der Film oft verglichen wurde, und die auf einen festen Bühnenausschnitt und dem darauf aufgebauten Bühnenbild verpflichtet ist, das nur von Szene zu Szene wechseln kann, erlaubt die filmische Darstellung, Bildausschnitte und Einstellungsgrößen nach Belieben zu wählen, also statt des „ganzen“ Bildes nur Ausschnitte zu zeigen, ein Verfahren, das aus der Rhetorik als „Ecclipse“ bekannt ist und eben gerade durch die Auslassung die Phantasie antreibt. Das macht sich der Film auf seine Weise zunutze: Wenn ich beispielsweise im Film die Nahaufnahme einer greifenden Hand sehe, ergänze ich mir in der Vorstellung unwillkürlich den ganzen Menschen, der zugreift.
In vergleichbarer Weise sind es Teilbewegungen umfassenderer Handlungen, die die Vorlagen symbolischer Gesten liefern, und darum hat die Geste des Erzählers, der die Hand benutzt um vorzuführen, mit welcher Wucht der Held seiner Geschichte die Tür eingetreten hat, eine vergleichbare Wirkung: Jeder „Hörer“ sieht einen wütenden Menschen, der alle seine Wut in den zutretenden Fuß lenkt. Allerdings ist die Geste nicht in der Weise kontextunabhängig wie das fotografische Bild. Ein stehendes Bild ist in sich relativ aussagekräftig. Die stumme Geste bleibt vieldeutig, erst der sprachliche Kontext steuert es in die Richtung der gewünschten Bedeutung. Nun ist zwar das Filmbild als Einzelaufnahme vergleichsweise eindeutiger, aber seine Einbettung in die rasch laufenden Bilder hat einen ähnlichen Effekt.
Die umgebenden Bilder mögen einfach nur andere Ansichten derselben Umgebung bieten oder uns auch plötzlich an einen ganz anderen Schauplatz versetzen, miteinander verbunden sind sie über den Schnitt, der wiederum der rhetorischen Figur des „Hiatus“ vergleichbar, eine gesteigerte Wirkung auf die menschliche Vorstellungskraft ausübt. Was der Schnitt auslässt, was der Wechsel der Einstellungen verschweigt, versucht sich der Zuschauer in der Vorstellung zu vervollständigen. Diesen Effekt nebeneinandergesetzter „geschnittener“ Bilder erzeugt das gestische Erzählen, indem jede Geste einen klaren Abschluss findet, die Hände in die Ausgangslage zurückkehren, ehe sie zur nächsten Geste ansetzen, es damit den Zuschauer überlassen, die Verbindung zu schaffen.
Auch die Bildwinkel, über die im Film die emotionale Einstellung des Zuschauers zum vorgeführten Bild beeinflussbar werden, sind in einfacherer Form im gestischen Erzählen vorgegeben, durch die Blickrichtung des Erzählers einerseits auf das imaginierte Geschehen seiner Erzählung, andererseits über die Blickrichtungen der angespielten Figuren: Der vor den König zitierte Bettler wird ihm mit einem ängstlich nach oben gerichteten Blick entgegentreten, während der König aus der Höhe seines Throns auf ihn hinunterblickt, ganz ähnlich wie wir im Kino zum ausreitenden Cowboy aufblicken und gleich darauf von seiner Warte aus die vor ihm ausgebreitete Prärie überblicken.
Ich will versuchen, dies, soweit es eine kurze schriftliche Beschreibung erlaubt, die Verwandtschaft der filmischen Bildsprache mit der Gestensprache des Erzählers an einem einfachen Beispiel anschaulich zu machen, einer Szene aus dem Grimmschen Märchen vom „Meisterdieb“. Wenn der Meisterdieb bei der zweiten Aufgabe nachts mit der Leiter den Schlosshof betritt, kann ich die Leiter mit beiden Armen gegen die Mauer stellen, kann Hand für Hand die Leiter hochsteigen. Schnitt. Ich wechsle die Perspektive: Oben im Schlafzimmer sitzt wachend der Graf, erblickt plötzlich, wie sich der Schatten eines Kopfes im Fensterausschnitt hochschiebt: Ich zeichne die Umrisse des Kopfes in das Fenster. Als Graf hebe ich nun die Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger als Pistolenlauf und drücke den Knall der abgefeuerten Kugel durch die gepressten Lippen. (einen Effekt, den der Comic adäquat zu einem „Päng“ verschriftlicht, der übrigens in mancher Hinsicht dem Erzählen am nächsten steht und hier nur aus Platzgründen nicht berücksichtigt wird ).
An diesem einfachen Beispiel wird ersichtlich, dass eine gestisch erzählte Passage im Grunde in Filmsequenzen unterteilbar ist. Zunächst der Dieb mit der Leiter, die Wand, das Hochsteigen, der Blickwechsel nach innen, das Fenster und der erscheinende Kopf, schließlich – im Film wäre das wohl eine Nahaufnahme – der Graf, der die Pistole zieht und schießt. In der Sprache des Films wie in der Gestensprache des Erzählers dienen diese Erzählweisen dem gleichen Ziel: Die Vorstellung des Zuschauers/Zuhörers zu aktivieren.
Ich möchte deshalb die Behauptung wagen, dass die gestischen Elemente mündlichen Erzählens in einem deutlichen Bezug zur Bildschiene der audiovisuellen Medien stehen, die vom Beginn unserer Jhs. an als massenwirksame öffentliche Erzähler in Erscheinung treten und sowohl den letzten Berufserzählern wie der Trivialliteratur, die übrigens die Ablösung des modernen Romans vom Erzählschema nie mitvollzogen hat, den Rang ablaufen. Ja ich möchte noch weiter gehen und behaupten, dass mündliches Erzählen seiner Form nach audiovisuell verfährt, seit Menschen sich Mythen und Erfahrungen mitzuteilen verstehen und dass es den damit bezeichneten Medien näher steht als der Schriftliteratur, der wir als eingefleischte Leser die überkommene Erzähltexte zurechnen. Die Entstehung kinematographischer Wiedergabe lässt sich deshalb sinnvoll begreifen als die technische Realisierung jener aus Bild und Sprache gebildeten Kommunikationsweise, die wir Erzählen nennen.
Ich habe mich hier allerdings auf die Vergleichbarkeit des gestischen Ausdrucks mit filmischen Darstellungsweisen beschränkt, habe die vom Film entwickelten eigenständigen, nur seiner medialen Sprache zugängliche Ausdrucksweisen, unberücksichtigt gelassen, z.B. die Aufnahmeverfahren der sogenannten „inneren Kamera“, bei denen der Eindruck der Bewegtheit durch die Bewegung der Kamera erzeugt wird. Auch habe ich die spezifischen Ausformungen übergangen, die das Erzählschema in der Filmdramaturgie erfährt und die einen weiteren interessanten Vergleichspunkt zwischen Film und Erzählen bieten.
Was andererseits die audiovisuelle Darstellung noch stärker als das perfekteste Illusionstheater unterdrückt, ist der für den Erzähler selbstverständliche Rückbezug auf die Gegenwart des Zuschauers, die Offenheit für seine Reaktionen und Einwürfe, die spontane Ausrichtung der Erzählung nach seinen Signalen. Diese einfache und selbstverständliche Fähigkeit des Erzählers, die im Theater noch in bescheidenen Ansätzen wie der vom Publikum ausgehenden „atmosphärischen Dichte“ überlebt, sich in der Literatur in einigen stilistischen Schreibtechniken niederschlägt, kann sich im Film allenfalls in artifiziellen Experimenten behaupten, wie sie zum Teil in den 60er Jahren vom „Underground-Kino“ versucht wurden und nie über ein sehr begrenztes Publikum hinausgelangten. Auch alle Versuche eines irgendwie, meist pädagogisch motivierten aktiven Fernsehens sind, wenn überhaupt, nur in Ausnahmesituationen möglich. Auch die Einrichtung „offener Kanäle“ schafft einigen wenigen um den Preis eines großen Arbeitsaufwands die Möglichkeit sich zu artikulieren, ändert aber nichts an der grundsätzlichen Angeschlossenheit des Mediums. Die in der mündlichen Erzählung selbstverständliche Rückkoppelung ist mit diesen Medien nicht zu leisten, und trotz der beeindruckenden Herstellbarkeit von „Wirklichkeit“, die sie erlauben, scheinen ihre Benutzer den Verlust an zwischenmenschlichem Bezug zu bemerken und ein Bedürfnis nach unvermittelter Kommunikation zu spüren. Darauf möchte ich einerseits die etwas zwiespältige Renaissance des öffentlichen Erzählens zurückführen, die wir seit einigen Jahren erleben, und die zu oft auf einseitigen Kammergesang vor ehrfürchtig erstarrendem Publikum hinausläuft. Andererseits versuchen sich die Medien selbst im Rahmen ihrer Möglichkeiten darauf einzustellen. Wenn uns Moderatoren im Rundfunk anreden, als würden sie neben uns auf dem Sofa sitzen, oder wenn Talkshows in den Fernsehprogrammen zunehmen, die spontane Kommunikation vorzumachen versuchen, dann möchte ich diese Tendenz darauf zurückführen, dass hier der Verlust normalen zwischenmenschlichen Feedbacks irgendwie mit den unzulänglichen Mitteln von Medien wettgemacht werden soll, die auf „Einwegkommunikation“ aufgebaut sind.
5. VERMUTUNGEN ZUM COMPUTERSPIEL
Eine unter diesem Aspekt neue Situation entsteht mit dem animierten Computerspiel. Meine zugegebenermaßen spekulative Vermutung lautet, dass im Computerspiel eine bestimmte Rückkoppelung wieder denkbar wird, allerdings auf einer sehr technischen Ebene, wobei ich gestehen muss, dass ich mich für diese Spiele weder begeistere noch genügend überblicke, was auf diesem Gebiet entwickelt und angeboten wird. Was ich dazu sagen möchte sind also eher vorläufige Vermutungen.
Meine Überlegung geht in folgende Richtung: Die Computerspiele führen unsere überkommenen Regelspiele weiter. Diese Regelspiele lassen sich in Bezug setzen zu dem eingangs behandelten Erzählschema. Sieht man sich Regelspiele an, so steckt in ihnen stets eine rudimentäre Erzählung mit offenem Ausgang. Selbst ein hoch stilisiertes Spiel wie das Schachspiel entspricht dem Krieg zweier Königreiche, dem Stoff so vieler Heldenepen oder „Räuber und Gendarm“ handelt vom Kampf der Ordnungskräfte mit Rebellen und Räubern, einem zentralen Topos zunächst der historischen Trivialliteratur, später der Jugendliteratur. Die Geschichten finden sich in den Spielen verkürzt, gleichsam eingefroren auf ein Regelsystem, das notwendigerweise sehr überschaubar bleiben muss, da unsere normale Kapazität nicht ausreicht, zu komplizierte Regeln zu beachten. Bereits die Spiele, die aus der Bewegung der „New games“ hervorgingen, bauten ja bereits die erzählerischen Elemente der Spiele aus, ihre Begleithefte haben deshalb oft einen entmutigenden Umfang und es kostet einige Anstrengung ihre Regeln in Spiel umzusetzen.
In den Computer lassen sich jedoch auch sehr komplexe Regelsysteme einspeisen und jeweils an der entsprechenden Stelle ins Spiel einbringen. Dadurch wird es im Prinzip möglich, Erzählungen so zu konstruieren, dass der Rezipient, in diesem Fall der Spieler, sich seine Erzählung entsprechend einem mit zahlreichen Alternativen vorgegebenen Verlaufsschema selbst entwickelt. Es könnten ihm z.B. an jeder entscheidenden Weiche der Handlung wieder Alternativen angeboten werden, wie es weitergehen soll. Vorbilder dafür liefern etwa die in oft umfangreichen Druckwerken festgehaltenen „Fantasy-Spiele“, denen eine Erzählhandlung zugrunde liegt, die aber an jedem Knotenpunkt der Handlung vom Leser eine Entscheidung verlangen. Das lautet dann etwa so: Wenn du dem Vampir entgegentreten willst, lese weiter auf s.39. Willst du die Flucht ergreifen, so folge s. 47. Einige dieser Spiele konnten deshalb auch direkt in Computerversionen umgesetzt werden. Begrenzt auf die im Programm vorgesehenen Entscheidungsknoten, erlauben solche Spiele dann den Eingriff des Rezipienten in die Erzählung, knüpfen auf sehr hohen technischem Niveau an den für den Erzähler selbstverständlichen „interaktiven“ Umgang mit seinem Publikum an.
Eine weitergehende Möglichkeit böte die Entwicklung von Programmen, in denen sich der Spieler anhand bestimmter Handlungsmuster und vorgegebener Figuren eine eigene Erzählung erzeugen könnte. Das eher bedenkliche Vorbild dafür fände sich in den Verfahrensweisen, mit denen serienweise triviale Lesestoffe hergestellt werden. Den Schreibern solcher Erzählungen werden ja von den Verlagen ganz bestimmte Regeln vorgegeben werden, nach denen sie Heftchenromane – Perry Rhodan, Jerry Cotton etc. – zu schreiben haben und die Aussehen, Qualitäten, Eigenarten der Helden ebenso festlegen wie grundsätzliche Handlungsmuster oder für den Helden tabuiertes Verhalten. Dieses als Schreibanweisung vorgesehene Regelsystem soll die eingefahrenen Bahnen der Handlung und die feststehenden Charaktere der Serien sichern, könnte aber in Computerspielen aufgebrochen werden, dem Spieler also erlauben, abweichende Handlungsweisen vorzusehen und neue Verhaltensmuster einzugeben, die Charaktere und die Handlungsmuster also zu mischen und somit eine Erzählung nach seinen eigenen Vorgaben zu gestalten.
Ich kann, wie gesagt, nicht beurteilen, ob solche Versuche bereits gemacht werden oder sogar auf dem Markt zu finden sind. Vorausgesetzt, dass solche Programme entwickelt werden, hätten wir erneut eine etwas veränderte Situation, gemessen am Verhältnis von Erzähler, Hörer, Held und Handlung einer Geschichte. Diese neue Situation würde an den Tagtraum anknüpfen, indem der Computerspieler ebenfalls in Personalunion gleichzeitig den Erzähler, Hörer und Helden stellen würde, und vielleicht ist das ein Stück Erklärung dafür, warum gerade in der Altersgruppe der Jugendlichen Computerspiele so großen Anklang finden.
Leider reduzieren sich allerdings die erdzählerischen Komponenten der meisten Computerspiele auf sehr simple Schemata und Spielregeln, z.B. auf Modelle des Kampfes, der Auseinandersetzung, die nur auf eine Weise gelöst werden können oder an denen der Spieler scheitert und entfalten stattdessen die in ihrem Medium mögliche Komplexität in beeindruckenden Simulationen vergleichsweise primitiver Geschichten. Ich denke, dass sich darin, ähnlich wie bei andern Massenmedien, die Beschränkungen des Marktes ausdrücken und sie nicht durch die Eigenschaften des Mediums vorgegeben sind. Die Entwicklung veränderter Programme wäre zumindest einen Versuch wert, und in jedem Fall führt die Technisierung der „Interaktivität“ ein neues Moment in die Medienlandschaft ein, das in seiner bescheidenen und allen zugänglichen Urform längst im dem Medium vorgegeben ist, das die Vorlage für alle literarischen, theatralen und audiovisuellen Medien stellte, dem schlichten zwischenmenschlichen Erzählen.