Hinweise zum Erzählen für Kinder
Johannes Merkel
Erzählen kann jeder, und jeder tut es täglich, oft ohne es zu merken, in der Straßenbahn, am Mittagstisch, in der Kneipe. Man braucht dazu keine Ausbildung, kein Zeugnis, und nicht einmal ein Gerät; es reicht das Medium, das uns allen zur Verfügung steht: Die Sprache. Und wenn uns Kinder auffordern: „Jetzt erzähl mir was“, dann sollte man einfach erzählen. Je mehr man erzählt, desto besser wird es werden, denn Erzählen macht den Erzähler.
Wie vielfältig Erzählungen für Kinder ausfallen können und was sie an Erinnerungsspuren hinterlassen, zeigen die Äußerungen Bremer Studenten, die sich an in der Kindheit gehörte Erzählungen erinnern.
1.
Zum Erzählen braucht man keinen Lehnstuhl und kein Schummerlicht, man muss nicht einmal in der Dämmerung unterm Apfelbaum sitzen. Es geht überall: Beim Spaziergang, beim Warten auf die Straßenbahn, sogar während man sich rasiert im Badezimmer. Wichtig ist nur, dass man etwas Ruhe weg hat, fürs Erzählen wie fürs Zuhören.
Die Geschichten meines Vaters stammten neben erfundenen Geschichten aus seinem Berufsleben, und die Geschichten um Schiffskollisionen erzählte er besonders lebendig (…) Sie wurden erzählt sonnabendsnachmittags, im Badezimmer bei seiner sogenannten Morgentoilette, beim Frühstück und immer dann, wenn dieser recht alte, vielbeschäftigte Mann Zeit für sein jüngstes Kind hatte.“
Allerdings geht es am leichtesten vorm Schlafengehen oder im Kindergarten nach dem Freispiel, wenn sich die Kinder ausgetobt haben, oder in der Erschöpfung der letzten Unterrichtsstunde. Überhaupt sind regelmäßige Zeiten und Gelegenheiten hilfreich, denn die Erwartung erleichtert das Zuhören wie das Erzählen.
2.
Erzählen ist keine „Einbahnstraße“. Nicht nur der Erzähler, auch die Zuhörer erzählen mit. Deshalb geht es auch ohne fertige Geschichte, die man herunterschnurren kann. Kinder verstehen sie einem auch aus dem hohlen Bauch zu kitzeln.
„Ich kann mich an eine Art von Unterhaltung mit meinem Großvater erinnern, die mich beeindruckte. Während verschiedener Spaziergänge fragte ich nach Ursache und Herkunft verschiedener Dinge, die ich sah, und zu jeder Antwort stellte ich eine neue Frage, meist „Warum?“ und „Wodurch?“. Da er aber, wie ich mitkriegte, längst nicht alles wusste, wurde er gezwungen, sich immer phantastischere Geschichten auszudenken, die dann die Form von Erzählungen annahmen.“
3.
Wie gut einer erzählt, hängt auch davon ab, wie es ankommt. Auch wo nur einer erzählt, sind die anderen, die zuhören, doch zu spüren.
Was sich an Gemeinschaft entwickelt in der Runde, sucht auch nach einem körperlichen Kontakt: Die Kinder wollen sich anlehnen, legen den Kopf aufs Knie, kuscheln sich aneinander oder suchen wenigstens den Blick des Erzählers.
„Mein Opa saß meist in seinem Sessel direkt am Fenster, las sehr viel oder hörte Radio und rauchte dabei dicke Zigarren. Wenn er gute Laune hatte, durften Marlies – meine zwei Jahre ältere Schwester – und ich uns dazusetzen, d.h. Marlies saß auf seinem einen Knie und ich auf dem anderen, in der Mitte die „Hör zu“ mit der „Mecki-Geschichte“. Die Geschichte war nur eine Zeitungsseite lang, zuerst mit Schwarz-Weiß-Bildern, später farbig. Mir ist diese eine Seite aber immer sehr, sehr lang vorgekommen. Vielleicht liegt das daran, dass „Mecki“ eine Fortsetzungsgeschichte war und wir uns am Schluss immer zusammen überlegten, wie die Geschichte wohl weitergehen könnte.“
Am leichtesten erzählt es sich vor Kindern, die man gut kennt oder vor einer kleinen Gruppe von vielleicht vier oder sechs Kindern.
Aber mit etwas Übung geht es auch vor größerem Publikum, einer Schulklasse zum Beispiel, dann macht man am besten eine kleine Show draus, mit viel Gestik und Spiel und vielleicht einem Schuss Blödsinn. Damit die Augen begreifen können, wohin die Hände nicht reichen.
4.
Beim Erzählen braucht man keine Infratestergebnisse, um die Einschaltquoten festzustellen. Kinder können den Mund nicht halten, wenn er ihnen sowieso schon offen steht vor Staunen. Sie wollen mitreden.
Da fruchtet auch die gutgemeinte Mahnung nichts: Nun lern doch mal zuhören! Sie plappern ja dazwischen, weil sie so genau zuhören. Wenn einer meint, er hätte auch schon einen Ziehbrunnen gesehen, im letzten Urlaub, sagt man: „Siehst du, genauso ein Brunnen war das“, und schon steht der Brunnen greifbar zwischen den Hörern. Wer seine Zuhörer zwingt, „mucksmäuschenstill“ zu bleiben, mag seine Geschichte besser der nächsten Wand erzählen: Sie wird ihn nicht stören.
„Zum Geschichtenerzählen gehörte auch der Kindergottesdienst. Nach dem Gottesdienst gab es immer ein Bild zum Einkleben zu der jeweiligen „Geschichte“. Die Gottesdiensthelfer, die wir einmal in der Woche zum Bastelnachmittag trafen, haben die Geschichte manchmal noch einmal erzählt oder auch auf dem Nachhauseweg von der Kirche. Erst dann habe ich etwas davon mitgekriegt. Im Gottesdienst selber durfte man nicht nachfragen. Der Pastor erzählte und erzählte und erzählte. Schon nach kurzer Zeit konnte ich nicht mehr zuhören.“
5.
Erzählen heißt nur reden. Wer mit verschränkten Armen herumsteht und tonlos runterrattert, darf sich nicht wundern, wenn die Kinder lieber den Fernseher anstellen. Dort kriegen sie wenigstens auch was zu sehen.
Kinder unter fünf verstehen oft auch Geschichten gar nicht, die nur gesprochen werden. Was dagegen mit Händen und Füßen erzählt wird, prägt sich tief ein und wird oft noch nach Jahren erinnert.
„Eine Phantasiegeschichte, die ich und meine Mutter morgens im Bett gespielt haben. In einem Negerkral stellt eine ganz dicke Negermammi mit ihrem Kind zusammen einen Teig her und formt dann Klöpse daraus. Diese Geschichte wollte ich immer wieder spielen, weil wir dabei gesungen haben und sehr viel mit Händen und Füßen und Gesichtsausdrücken gespielt haben. Wir haben die Geschichte auch ständig erweitert, so dass sie bald sehr lang dauerte.“
6.
Mit dem Erzählen werden Erfahrungen, Einstellungen, Gefühle weitergegeben. Banale Erlebnisse vom Vortag können spannender sein als die Watteelefanten, die durch manche Kinderbücher trotten. Und was übrigens so gut wie immer bei Kindern ankommt: Erlebnisse aus der eigenen Kindheit, Geschichten, die sich zusammenfügen zu einer ersten Vorstellung von Geschichte.
„Am meisten hat mich beeindruckt, als mir mein Großvater einmal von seiner Lehre als Töpfer in der Brennofengasse erzählte, weil es für mich unvorstellbar war, dass mein Großvater ein regelrechter Lehrbub und später Wandergeselle gewesen war. So etwas kannte ich nur aus richtigen Märchen.“
Nur sollte das die Form von Geschichten haben: Ich hab damals das und das gemacht und da ist mir das passiert .. . Meist staunt man dann selber, wie man die Erlebnisse ausphantasiert, und doch nicht das Gefühl hat, sie würden verkehrt. Am Ende haben wir uns selber eine ganz neue Vergangenheit erzählt. Auch mit Flunkereien flunkern wir noch von uns und über uns, wir teilen uns mit, auch wenn es so traurige Heldengeschichten werden können, wie die verdrehten Kriegserzählungen unserer Väter.
„Zum Beispiel erzählte mein Vater, wie er in Russland mit seiner Einheit versprengt wurde und mit Kollegen eine Nacht in einem Wachhaus verbrachte (mit Briketts als Kopfkissen). Oder er wurde beim Rückzug vergessen, weil er gerade „Bau“ hatte. Er wurde dann von einem Oberleutnant nachgeholt, der extra wegen ihm zurückkam.“
7.
Wer lieber gleich offensichtlich flunkert, erleichtert sich das Geschäft durch stehende Figuren. Oft tauchen solche Figuren in Kindergesprächen auf; und man braucht sie nur am Schopf zu packen, Tiere, komische Namen, oder die merkwürdig gezinkte Fleischgabel auf dem Küchentisch. Durch das Erzählen kriegen sie Eigenschaften, die einem das Weitererzählen erleichtern.
Wie „richtig“ eine Geschichte ist oder gar was man daraus entnehmen kann über die Welt, über die die Kinder etwas erfahren möchten, hängt gar nicht davon ab, ob die Figuren und Begebenheiten „echt“ sind. Wichtig ist, dass die Phantasie in den Alltag einbricht.
„Mein Bruder erzählte Phantasiegeschichten in Fortsetzungen und auch nur dann, wenn wir jüngeren Geschwister (3 Mädchen) ihm mehrere „Dienste“ taten. Die Geschichten hatten alle den Hauptpunkt, dass mein Bruder behauptete, er könne durch die Wand zu unserm alten Nachbarn („Opa Kaiser“) schauen. Wir fragten immer, was so alles passierte in unserm Nachbarhaus, und er erfand immer allerlei. Die Geschichten wurden im Dunkeln im Bett erzählt.“
8.
Kinder, denen erzählt wird, machen einem bald das Handwerk streitig, denn „was du kannst, das kann ich auch“. Wie sie Sprache sprechen lernen, so lernen sie erzählen durchs Erzählen.
„Von andern Kindern habe ich auch Geschichten gehört. Manchmal am Abend, zwischen sieben und acht Uhr. Weil es so warm war, haben wir uns auf eine Wiese gesetzt und uns Witze erzählt. Plötzlich waren es keine Witze mehr, sondern Märchen, die von den andern erzählt wurden.“
Wer aber seine eigenen Geschichten erzählen kann, durchschaut am ehesten die Bären, die man ihm aufbinden möchte, ob hochglanzgedruckt, in Stereo oder auf der Mattscheibe.
(Zuerst erschienen in: Johannes Merkel/ Michael Nagel (Hg.): Erzählen – Die Wiederentdeckung einer vergessenen Kunst, Reinbek 1982 S. 345-349 [leicht veränderter Wortlaut])