Jakobs Glückstraum

Wer möch­te schon Jakob Kuh­schwanz hei­ßen und weit oben in den Ber­gen auf einer ent­le­ge­nen Alm leben? Und wenn man dann oben­drein von früh mor­gens bis spät in die Nacht arbei­te­te und damit den­noch kaum das Brot zum Bei­ßen ver­dien­te, dann muss­te einem das Leben umso unge­rech­ter und grau­sa­mer erschei­nen. Jakob Kuh­schwanz war alles ande­re als glücklich.

Eines Nachts träum­te Jakob Kuh­schwanz und im Traum stand er im Nebel, konn­te die Hand nicht vor den Augen sehen und dabei hör­te er eine Stim­me rufen:
                        „In Thun auf der Brück
                        Da machst du dein Glück!“

Hät­te er davon nur nicht sei­ner Frau erzählt! Er hät­te sich am liebs­ten gleich auf den Weg gemacht, um der Sache auf den Grund zu gehen. Aber was hör­te er von ihr: „Ach hör mir doch auf mit dei­nen Träu­men! Träu­me sind Schäu­me! Mach dich an dei­ne Arbeit und ver­giss die­sen Unsinn!“
Jakob Kuh­schwanz gab nach, mach­te sich an sei­ne Arbeit, flick­te da an einer Sichel, setz­te dort einem Rechen einen feh­len­den Zahn ein. Und fiel am Abend tod­mü­de ins Bett.
Aber im Traum stand er wie­der im Nebel und hör­te die Stim­me rufen:
                        „In Thun auf der Brück
                        Da machst du dein Glück!“

Er erzähl­te der Frau davon und mein­te, ob er nicht doch viel­leicht nach Thun run­ter­stei­gen soll­te.
„Was hab ich dir denn gesagt?“ schimpf­te sie. „Träu­me sind Schäu­me! Mach dich darn, mir Spä­ne und Scheit­holz fürs Feu­er zu machen, es kann plötz­lich kalt wer­den!“
Und Jakob Kuh­schwanz mach­te sich dar­an, den lie­ben lan­gen Tag Scheit­holz zu spal­ten und Spä­ne zum Anfeu­ern zu schnei­den.
Aber in der fol­gen­den Nacht hat­te Jakob den selt­sa­men Traum zum drit­ten Mal. Wie­der stand er im Nebel und hör­te die Stim­me rufen:
                        „In Thun auf der Brück
                        Da machst du dein Glück!“

„Ich muss es ver­su­chen!“ dach­te er, und ganz lei­se, um ja sei­ne Frau nicht zu wecken, schlüpf­te er aus dem Bett und zog drau­ßen in der Küche sei­ne Klei­der an. Dann steck­te er ein Stück alt­ba­cke­nes Brot und eine Käse­rin­de in sei­ne Tasche und stieg ohne nur ein­mal zu ras­ten nach Thun hin­un­ter. Als die Son­ne auf­ging, stand er schon mit­ten auf der Brü­cke über den Fluss. Sein Herz klopf­te vor Auf­re­gung, was ihn Wun­der­ba­res auf der Brü­cke erwar­ten wür­de.
Aber nichts davon pas­sier­te. Zunächst kam der Geiß­hirt über die Brü­cke. Er trieb sei­ne Her­de vor­über und grüß­te freund­lich. Jakob blick­te ihm nach, lief hin und her, und such­te sich von sei­ner Auf­re­gung abzu­len­ken.
Er stand und stand und die Zeit wur­de ihm immer län­ger. Um sich abzu­len­ken ver­folg­te er das spru­deln­de Was­ser im Fluss oder blick­te den Vögeln nach, die über den Dächern schwirr­ten. Er nick­te den Leu­ten zu, den Stadt­frau­en, den Bau­ern und Markt­fah­rern. Als es end­lich Mit­tag schlug, ver­zehr­te er sein har­tes Brot, nag­te am Käse und streu­te den Rest den Enten hin. Aber je län­ger er war­te­te, des­to unsin­ni­ger kam ihm sein War­ten vor. Und je län­ger ihm das War­ten wur­de, des­to mehr ging es ihm durch den Kopf, ob sei­ne Frau nicht doch Recht hat­te und Träu­me nichts wei­ter wären als Schäu­me. Und wenn er zu den Ber­gen hin­auf­schau­te, muss­te er dar­an den­ken, wie ihn sei­ne Frau wegen der ver­trö­del­ten Zeit beschimp­fen und wie sie ihn aus­la­chen wür­de, weil er leicht­gläu­big sei­nen Träu­men hinterherlief.

Immer wie­der über­leg­te er, ob er nicht doch bes­ser wie­der auf sei­ne Alm hin­auf­stei­gen soll­te statt sinn­los auf der Brü­cke her­um­zu­ste­hen. Aber nun war er schon ein­mal da, und da woll­te er dann doch lie­ber bis zum Abend aus­hal­ten. In die­sem Augen­blick trieb der Geiß­hirt sei­ne Her­de wie­der über die Brü­cke. Als der bemerk­te, dass der gute Mann von heu­te mor­gen immer noch auf der Brü­cke stand, blieb er ste­hen und frag­te, ob er wohl für das Her­um­ste­hen bezahlt wer­de.
Jakob schüt­tel­te den Kopf, und um sich Luft zu machen, berich­te­te er, dass er schon drei Mal im Traum eine Stim­me gehört hat­te, die ihm sag­te:
                        „In Thun auf der Brück
                        Da machst du dein Glück!“

Da lach­te der Geiß­hirt, dass ihm die Ohren wackel­ten. „Ach hör mir doch damit auf! Träu­me sind Schäu­me! Weißt du, was mir schon oft geträumt hat? Dass dro­ben auf der Alm im Haus von einem Jakob Kuh­schwanz unter dem Küchen­herd ein Kes­sel voll Gold ver­gra­ben wäre. Meinst du, ich wür­de auf sol­chen Unsinn ach­ten? Und wer in aller Welt könn­te Jakob Kuh­schwanz heißen?“

Kaum hat­te das Jakob Kuh­schwanz gehört, lief er davon wie von einer Wes­pe gesto­chen. Der Geiß­hirt blick­te ihm nach, tipp­te sich an die Stirn und mein­te: „Nar­ren sind auch Leu­te, aber glück­li­cher­wei­se sind nicht alle Leu­te Narren!“ 

Jakob Kuh­schwanz aber lief, was sei­ne Bei­ne her­ga­ben, bis er spät nachts zu sei­ner Hüt­te kam. Er riss die Feu­er­plat­te vom Herd und grub die Erde unter dem Herd auf. Und tat­säch­lich, er stieß auf etwas Har­tes, und als er aus­ge­gra­ben hat­te, stand da wahr­haf­tig ein Topf rand­voll gefüllt mit Gold­ta­lern. „Nun soll jemand noch sagen, Träu­me sei­en Schäu­me“, schmun­zel­te er und weck­te sei­ne Frau, die schon im bes­ten Schlaf lag.
Von dem Topf voll Gold kauf­te er einen statt­li­chen Bau­ern­hof. Aber Kuh­schwanz woll­te er nun doch nicht mehr hei­ßen. Das ver­stand auch der Amt­mann, als er ihm ein paar schö­ne Taler unter die Augen hielt. Nur scha­de, dass nir­gends geschrie­ben steht, was für einen neu­en Namen er ein­ge­tauscht hat! Das wür­den wir doch eigent­lich auch noch ger­ne wissen.

Der Text folgt in etwa der in der Schweiz ange­sie­de­le­ten Ver­si­on in: Fritz Senfft: Die Nidel­gret und ande­re Mär­chen, Zürich 1980, S. 37-40. Eine aus Eng­land stam­men­de Fas­sung lässt sie dort spie­len: The ped­lar of Swaff­ham, in: Joseph Jacobs, Eng­lish Fairy­ta­les, Lon­don 1890, p. 204/205

Die­se Erzäh­lung eig­net sich gut für eine Art unter­halt­sa­mes Gesell­schafts­spiel, mit dem zugleich Ver­fah­ren münd­li­cher Wei­ter­ga­be nach­zu­voll­zie­hen sind. Mn bil­det dazu so etwas wie eine „Über­lie­fe­rungs­ket­te“: Alle Teil­neh­men­den war­ten zunächst vor der Tür, nur ein/eine Erzäh­le­rIn blei­ben im Raum und erzählt einem/einer Zuhö­re­rIn die­se Geschich­te. Danach wird ein wei­te­rer Teil­neh­men­der her­ein­ge­be­ten und hört sie von dem oder der­je­ni­gen, die sie eben erst hör­te. Nach­ein­an­der wer­den alle nach dem Zuhö­ren zu Erzäh­len­den.
Dabei lässt sich meist hand­fest beob­ach­ten, wie einer­seits jede Erzäh­lung die Vor­la­ge ver­än­dert und vari­iert und doch im gro­ßen gan­zen den grund­sätz­li­chen Hand­lungs­ab­lauf bei­be­hält. Nur sehr sel­ten füh­ren Aus­las­sun­gen oder Ände­run­gen dazu, dass die Erzäh­lung nicht mehr ver­stan­den wer­den kann.