Unser Herr Meier war für seine Redseligkeit bekannt. Er hörte sich gerne reden und redete jeden an, der ihm gerade über den Weg lief.
Wenn ihm zum Beispiel ein Mütterchen auf dem Gehsteig entgegenkam, dann zog Meier den Hut und meinte: „Na, geht’s wohl wieder zum Einkaufen“.
Da freute sich das Mütterchen und antwortete: „Ja, muss ja auch mal sein, nicht wahr.“
Oder wenn gerade die Müllabfuhr vor seinem Haus die Tonne leerte, nickte Meyer den Müllarbeitern zu und meinte: „Tausend Dank auch! Wo kämen wir hin, wenn wir euch nicht hätten? Wir würden glatt im Dreck ersticken.“
Und weil er so gerne was Nettes sagte, mochten ihn die Leute und freuten sich, wenn sie angeredet wurden.
So ging das auch der Verkäuferin im Bäckerladen, wo Meier morgens sein Frühstück einkaufte. Kaum trat er durch die Ladentür, da rief Meier schon: „Einen wunderschönen guten Morgen.“
„Sind Sie wieder in Laune!“ freute sich die Verkäuferin. „Was darf es denn sein?“
Dann meinte Meier vielleicht: „Ach wissen Sie, bei den vielen verlockenden Sachen, die Sie anbieten, weiß man ja gar nicht, was man nehmen soll. Also zum Beispiel diese Nusshörnchen, die mich hier verführerisch anlachen. Aber bei meinem kranken Magen dieser Tage, nein, da sollte ich ja doch lieber bei zwei Roggenbrötchen und einem halben Liter Milch bleiben“.
So ging das immer bei ihm. Wenn er auch nur ein einziges Brötchen kaufte, machte er daraus gleich einen ganzen Roman.
Eines Morgens war Meier wieder am Hin- und Herreden, ob er sich heute vielleicht ausnahmsweise ein Stück Früchtebrot leisten sollte. Aus einem besonderen Anlass: Erst vor zwei Tagen habe er sich doch plötzlich wieder erinnert, dass er als kleiner Junge seine Mutter im Laden um ein Stück Früchtebrot angebettelt hatte. „Und stellen Sie sich vor, da steht vor uns eine ältere Dame, dreht sich um und drückt mir eine Scheibe Früchtebrot in die Hand. Sie können sich nicht vorstellen, wie mir das geschmeckt hat.“
Während er wie immer redet und redet, steht ein Kunde hinter ihm, der sich für Meiers Kindheitserinnerungen gar nicht begeistern kann. Er tritt von einem Fuß auf den anderen, und schließlich platzt er raus: „Sie werden wohl fürs Quatschen bezahlt, was!“
Herr Meier schrickt zusammen, zahlt hastig und geht. Aber beim Rausgehen denkt er: „Der Kerl hat eigentlich nicht so ganz unrecht. Was kriege ich denn dafür, dass ich die Leute nett und freundlich anrede? Nichts! Bekomme ich dafür vielleicht mein Frühstück billiger? Vielleicht sollte ich wirklich sparsamer mit meinen Worten umgehen.“
Von da an verfolgte unsern Herrn Meier die fixe Idee, seinen Wortschatz zusammenzuhalten. Er beschloss, in Zukunft kein überflüssiges Wörtchen mehr zu verschenken. Von jetzt an würde er nur noch von sich geben, was unbedingt nötig war, um sich verständlich zu machen. Und jedes Wort, das er sich sparte, würde er auf ein Zettelchen schreiben und aufheben, damit er genau kontrollieren konnte, wie viele Worte er gespart hatte.
Und das sah dann so aus: Als er am nächsten Morgen in die Bäckerei kommt, begrüßt ihn die Verkäuferin: „Hallo, Herr Meier, ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.“ Aber gleich darauf bleibt ihr das Wort im Hals stecken.
Denn unser Herr Meier knurrt nur: „Morgen.“ Und darauf holt er ein Zettelchen aus der Tasche, schreibt drauf, was er damit an Wörtern gespart hat und schiebt das Zettelchen in seine Einkaufstüte.
Was stand da wohl auf Meiser Notizzettel?
Schon etwas genervt fragt die Verkäuferin: „Was darf’s denn heute sein?“
Ganz gegen seine Art betrachtet Herr Meier schweigend die Auslagen. Schließlich sagt er: „Bitte zwei Butterhörnchen und einen viertel Liter Milch.“ Und schon hat er wieder Stift und Papier in der Hand.
Und was schreibt er jetzt wohl auf seinen Notizblock?
„Nicht schlecht“, denkt sich Meier, als er die Bäckerei verlässt, „aber das muss noch besser werden!“
Als ihn die Verkäuferin am nächsten Morgen nur noch kurz angebunden begrüßt, antwortet unser Herr Meier überhaupt nichts mehr und kritzelt stattdessen schon wieder auf ein Zettelchen.
Sie kann da nur noch den Kopf schütteln. „Sie wünschen?“
„Milchbrötchen, zwei. Kakao, Liter, halb“. Und schon kritzelt er wieder.
Den hat’s erwischt, denkt die Verkäuferin. Aber sie versteht ja, was er will: Zwei Milchbrötchen und einen halben Liter Kakao, und schiebt es ihm wortlos über den Tresen.
Was hat Herr Meier wohl jetzt auf seinem Notizblock stehen?
Wieder einen Tag später stolpert unser Herr Meier in den Laden und presst zwischen den Zähnen heraus: „Brötchen, Kakao“. Und schon wieder notiert er gesparte Wörter.
Alles was recht ist, aber diesmal ist die Verkäuferin ratlos. „Was für Brötchen denn? Und wieviel Kakao?“
Aber Herr Meier denkt nicht daran, gesparte Wörter wieder rauszurücken, bloß damit diese begriffsstutzige Person endlich kapiert, was er braucht. Aber wie kommt er jetzt nur an sein Frühstück, ohne sinnlos Wörter zu vergeuden?
Auf die Mohnbrötchen, auf die er sich den ganzen Morgen schon freut, kann er mit den Fingern zeigen. Die Verkäuferin schiebt zwei davon über den Tresen. Aber unser Herr Meier wollte doch drei! Er schüttelt den Kopf. Die Verkäuferin legt noch zwei dazu. Herr Meier schüttelt wieder den Kopf.
Wie soll er ihr beibringen, dass er drei haben möchte?
Natürlich! Dass er darauf nicht gleich gekommen ist! Er hebt drei Finger, und das kapiert die Bedienung auf Anhieb.
Aber wie soll er dieser begriffsstutzigen Person jetzt noch klarmachen, dass er einen halben Liter Kakao braucht?
Er zeigt ihr die flache Hand und schlägt mit der anderen Hand genau auf die Mitte, als wollte er sie in zwei Teile teilen. Und sieh an, sie kapiert es.
Aber fragt nicht, wie die inzwischen unseren Herrn Meier findet!
Das ist dem aber piepegal. Er hat sich nun mal in den Kopf gesetzt, Wörter zu sparen, und solange er Wörter sparen kann, ist er glücklich. Zufrieden zieht er ab, indem er sich die gesparten Wörter aufschreibt.
Und schon freut er sich auf den nächsten Morgen, dann will er nämlich gar nichts mehr sagen. Kein einziges Wörtchen mehr! Wie er das macht, hat er sich über Nacht genau überlegt.
Als er in den Laden tritt, schaut ihn die Verkäuferin nur stumm an. Hat ja sowieso keinen Sinn, diesen Stoffel auch noch zu grüßen! Unseren Herrn Meier aber stört das gar nicht, der ist vollkommen damit beschäftigt, sich ohne Wörter verständlich zu machen.
Und das fängt er so an: Mit beiden Händen malt er ein Hörnchen in die Luft, und dann hebt er die Finger seiner rechten Hand. Klarer Fall, fünf Hörnchen.
Danach tut er so, als würde er eine Flasche an den Mund setzen. Die Verkäuferin schiebt ihm eine Flasche Bier über den Tresen. Nein, schüttelt Herr Meier den Kopf, und er tut so, als würde er eine Kuh melken.
„Ach so, Sie meinen eine Flasche Milch.“
Als unser Herr Meier diesmal den Laden verlässt, strahlt er übers ganze Gesicht. Jetzt hatte er den Bogen raus, in Zukunft brauchte er keinen Ton mehr zu sagen und konnte gleich schaufelweise Wörter sparen. Und das tat unser Herr Meier auch, bald kannte die ganze Stadt den komischen Kauz, der sich weigerte den Mund aufzumachen und immer nur vormachte, was er haben wollte.
Könnt ihr euch denken, was er zum Beispiel machte, wenn er sich ein Bett kaufen wollte?
Und wenn er noch eine Bettdecke dazu brauchte?
Und ein Leintuch oder ein Kopfkissen?
Oder wie zeigte er, dass er eine Hose suchte?
Oder eine Unterhose? Oder gar eine neue Badehose?
Sich ohne Wörter verständlich zu machen, war manchmal gar nicht so einfach. Aber unser Herr Meier ließ nicht locker, und jedes Wort, das er nicht sagen musste, notierte er peinlich auf seine Zettelchen.
Und wisst ihr, was er mir diesen voll geschrieben Notizblöcken machte? Er packte sie mit dem Datum versehen in Kommoden und Schränkchen. Und als er sämtliche Kommoden und Schränkchen damit gefüllt hatte, räumte er seinen Kleiderschrank aus, hing seine Kleidung an der Vorhangstange auf und packte seine gesparten Wörter in den Schrank. Und unermüdlich sparte er Wörter und packte sie weg. Bald aber war auch der Schrank bis oben hin voll, er sammelte sie in Schuhkartons und stellte sie auf Regalen ab, bis auch alle Regale davon überquollen. Schließlich besorgte er Umzugskartons, Wäschekörbe und Kisten, um darin seinen gesparten Wortschatz zu verstauen, und die Umzusgkartons, Wäschekörbe und Kisten stapelte er in den Zimmern an den Wänden entlang bis zur Decke.
Oft ging er dann durch die vollgestellten Räume, blickte stolz über seine Schätze und sagte sich: „So viele Wörter hätte ich sinnlos verschleudert, ohne dafür was zu kriegen. Was für ein Glück, dass ich das noch rechtzeitig gemerkt habe!“
Leider musste er sich auch dieses Vergnügen bald verkneifen, da sämtliche Räume voller Kisten und Kasten standen und er sie schlicht nicht mehr betreten konnte. Zum Wohnen blieb ihm nur noch eine schmale Dachkammer, in die gerade sein Bett zum Schlafen hineinpasste. Weil er aber weiter unverdrossen gesparte Wörter in Kartons und Kisten ablegte, begann er sie auf den Stufen des Treppenhauses aufzustapeln, bis auch das ganze Treppenhaus vollgestellt war, und ihm nur ein schmaler Durchgang blieb, um in seine Dachkammer hochzusteigen.
Und eines Tages war auch dieser Durchgang dicht, und das kam so: Er hatte gerade wieder einen Karton Wörter gespart und versuchte ihn oben auf einen Stapel im Treppenhaus hoch zu hieven. Plötzlich aber schwankte der ganze Stapel, fiel um und verstopfte den schmalen Durchgang nach unten. Die mühsam aufgestapelten Türme aus Kisten und Karton stürzten einer nach dem andern in sich zusammen. Verzweifelt suchte sich Herr Meier den Durchgang nach unten frei zu räumen, aber sobald er eine Kiste beiseite geschoben hatte, rutschten gleich wieder drei weitere in die Öffnung. Es war nichts zu machen: Der Weg nach unten war versperrt und unser Herr Meier fand sich als Gefangener in seinem eigenen Haus.
Was sollte er machen? Er hockte in seiner Dachkammer und dachte darüber nach, wie er sich aus dieser verzwickten Lage befreite. Nachdem er sich zwei Tage lang den Kopf zerbrochen hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als aus dem Dachfenster aufs Dach zu klettern. Er hoffte, dass ihn Passanten auf der Straße bemerken und die Feuerwehr benachrichtigen würden, um ihn vom Dach zu holen. Denn er war fest entschlossen, auf keinen Fall um Hilfe zu rufen und damit sinnlos wertvolle Wörter zu verschleudern. Doch die Passanten schauten nur auf ihren Weg und kümmerten sich nicht um den komischen Vogel, der da oben auf seinem Dach saß.
Der erste Tag war ja noch gut auszuhalten, aber am zweiten Tag wurde es ungemütlich, es kam ein kräftiger Wind auf, schließlich setzte Nieselregen ein. Aber noch immer weigerte sich Meier, auch nur ein einziges Wörtchen zu verschwenden.
Schließlich am dritten Tag war es nicht mehr auszuhalten. Er musste um Hilfe rufen. Erst ganz leise, fast flüsternd, er war ja gar nicht mehr gewöhnt, den Mund auzumachen. Aber so hörte ihn niemand. Unten auf der Strasse fuhren Autos, auf der Straßenseite gegenüber lärmten die Arbeiter auf einer Baustelle. Er musste schreien, schließlich sogar aus vollem Halse brüllen, bis endlich einige Menschen erstaunt hoch guckten und die Feuerwehr anriefen, die ihn dann vom Dach holte.
Von dem Tag an hatte unser Herr Meier die Nase voll vom Wörtersparen. Er rief die Stadtreinigung an, verabredte einen Sperrmülltermin und stellte eines Abends seinen gesammelten Wortschatz auf die Straße. Jeder, der vorbei kam, konnte sich bedienen und nach Lust und Laune Wörter mitnehmen, und was am Morgen noch übrig blieb, nahm die Stadtreinigung mit. Ich habe mir damals auch zwei Hosentaschen voll Wörter mitgenommen und kann euch einige von Meiers gesparten Wörter schenken.
Wollt ihr sie haben? Es sind aber aus den Sätzen gerissene Wörter. Wenn ihr wissen wollt, aus welchen Sätzen sie stammen, müsst ihr euch die Sätze selber wieder zusammensetzen. Und wenn ihr die Sätze richtig zusammenkriegt, könnt ihr euch ausmalen, bei welcher Gelegenheit sie Meier sparte, was er mit diesen hingeworfenen Brocken von Wörtern erreichen wollte und wie er das anstellte.
Aus: Johannes Merkel: Ich kann euch was erzählen, Reinbek 1981, S. 31-36
Zeichnung Dieter Malzacher
Meiers Tick keine Wörter mehr zu verschleudern, kann spielerische nachvollzogen werden: Die gesparten Wörter können nicht nur geäußert, sondern auch aufgeschrieben und gesammelt werden.
Man kann am Ende auch vorbereitete Notizen mit Wörtern verteilen, in denen sich eine Situation andeutet, in der Herr Meier sie sich vom Mund absparen konnte. Diese Situationen können danach vorgestellt werden.