Wozu benutzt man eigentlich die Hände?
Zum Tragen zum Beispiel. Oder zum Schreiben. Oder um zur Begrüßung die Hand zu geben. Aber bei den meisten Menschen ist es immer die rechte Hand, die etwas trägt oder schreibt oder die man zur Begrüßung hinhält. Die linke Hand hat bei ihnen nicht viel zu tun, und man könnte denken, dass sie sich fürchterlich langweilen muss. Aber ich werde euch jetzt von einer linken Hand erzählen, die sich überhaupt nicht langweilte.
Diese linke Hand wuusste sich zu beschäftigen: Sobald ihr niemand auf die Finger guckte, fuhr sie heimlich über den Hintern. Das fand sogar der Hintern ziemlich seltsam, und schließlich brummte er: „Was fingerst du denn dauernd auf mir herum?“
„Ach, weißt du, ich mag dich,“ flüsterte die linke Hand. „Und deswegen macht es mir Spaß, dich zu streicheln.“
„Soso? Du streichelst mich? Aber wieso streichelst du mich? Sonst lachen mich immer alle nur aus.“
„Ich mag dich, weil du so schön weich und zart bist,“ flüsterte die linke Hand.
Und das fand der Hintern dann doch gar nicht so übel. „Ooooh!“ machte er und wackelte aufgeregt mit beiden Backen.
Vielleicht hatte er sich doch etwas zu laut gefreut, denn jetzt kriegte das die rechte Hand mit. Sie schob sich nach unten, schielte hinter den Rücken, und was musste sie erblicken? Die linke Hand, die über den Hintern streichelte.
„Du Schwein“, rief sie, „das tut man nicht!“
Aber von dieser naseweisen rechten ließ sich die linke Hand noch längst nichts vorschreiben: „Kümmere dich um deinen Mist! Davon verstehst du nichts.“
Wie von einer Nadel gestochen schoss die rechte Hand zum Ohr hoch. „Weißt du was! Die linke Hand fummelt hinter deinem Rücken auf dem Hintern rum.“
Na, das wäre ja nun wirklich allerhand! Aber bevor er etwas unternimmt, sucht sich ein kluger Kopf erst mal selbst ein klares Bild von der Angelegenheit zu machen. Und darum versuchte dieser kluge Kopf, sich selber über den Rücken zu schauen. Das müsst ihr mal versuchen, dann werdet ihr mir glauben, dass sich der Kopf in seiner ganzen Klugheit verrenken konnte, wie er wollte, seinen eigenen Hintern konnte er nicht sehen.
Das musste er anders anpacken. Er machte ein sehr ernstes Gesicht und sagte: „Hallo, Früchtchen, raufkommen!“
„Ja bitte,“ meinte die linke Hand und kam hinterm Rücken hervor .
„Was kommt mir da zu Ohren? Du sollst dich hinter meinem Rücken auf dem A. …will sagen auf dem Allerwertesten herumtreiben?“
„Na und?“ meinte die linke Hand. „Wird ja wohl noch erlaubt sein, ihn zu kratzen, wenn es ihn juckt.“
„Kratzen? So, du hast ihn also gekratzt?“
Da schoss wieder die rechte Hand dazwischen. „Die lügt! Gefummelt hat sie, das Schwein.“
Solche Ausdrücke treiben einem anständigen Kopf die Schamröte ins Gesicht. „Das möchte ich überhört haben!“ sagte er empört. Dann dachte er nach. Und wie jeder kluge Kopf beschloss er, der Sache selbst auf den Grund zu gehen. Und deshalb fragte er über seine Schultern weg: „Hör zu, du dahinten. Stimmt es, dass dich die linke Hand nur gekratzt hat?“
„Wie bitte? Gekratzt?“ Zum Glück schaltete der Hintern noch rechtzeitig. „Na klar hat sie mich gekratzt. Und wie sie mich gekratzt hat!“
Jetzt war der kluge Kopf auf die rechte Hand sauer: Sie soll sich bittesehr nicht immer um Dinge kümmern, die sie nichts angehen! Und er schickte sie zur Strafe in die Hosentasche.
Und was glaubt ihr, machte die linke Hand? Die streichelte gleich wieder über den Hintern. Die Beine fanden das ganz schön ungerecht und beschwerten sich: „Warum streichelst du immer bloß den da? Wir möchten auch mal gestreichelt werden.“
Und was machte die linke Hand? Die streichelte jetzt eben auch die Beine.
„Und was ist mit uns?“ flüsterten die Füße. „Uns streichelt keiner.“ Da streichelte die linke Hand eben auch noch die Füße.
Das konnte die rechte Hand wirklich nicht mehr mit ansehen! Sie schoss aus der Hosentasche und wieder ans Ohr hoch. „Von wegen kratzen! Jetzt treibt sie es schon mit beiden Beinen.“
Diesmal brauchte der Kopf nur kurz runterzuschauen und er wusste Bescheid. Er wurde puterrot und keuchte: „Unerhört! Unerhört! Schämst du dich eigentlich überhaupt nicht?“
Die linke Hand ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. „Schämen? Wieso? Die haben es gern, und ich mache es gern.“ Und dabei streichelte sie einfach weiter.
„Raufkommen!“ fauchte der Kopf. „Dir muss ich wohl mal eine Lektion verpassen. Wozu ist eine Hand da? Na, wird’s bald!“
„Zum Anfassen,“ sagte die rechte Hand schnell.
„Richtig! Und wozu sonst?“
„Zum Schlagen, wenn einer nicht macht, was er soll,“ antwortete die rechte Hand.
„Richtig. Aber du bist nicht gefragt!“ schimpfte der Kopf und wendete sich an die linke Hand: „Und was treibst du?“
„Ich streichle.“
„Wie bitte? Streicheln! “ Davon hatte der kluge Kopf noch nie gehört. „Was soll denn das sein?“
„Soll ich dir das mal vormachen?“
„Soweit kommt’s noch“, schimpfte die rechte Hand. „Auf die Finger muss man ihr klopfen!“
„Ruhe!“ fauchte der Kopf. „Möchte doch wissen, was das für ein neumodisches Zeug ist, dieses Streicheln oder so.“ Und schon fing die linke Hand an, über den Kopf zu streicheln.
Klar, auch ein kluges Köpfchen wird mal gern gestreichelt. Kein Wunder, dass er bald zufrieden kicherte: „Gar nicht so übel, dieses Streicheln oder so. Tatsächlich, gar nicht so übel.“
Da jammerte plötzlich auch die rechte Hand: „Ich möchte aber auch mal streicheln. Ich muss immer nur packen und tragen und Pfoten geben. Und ich darf niemals streicheln.“
„Blödmann, dann tu’s doch!“ lachte die linke Hand.
Da meinte die rechte Hand: „Aber ich weiß aber doch gar nicht, wie das geht!“
Die linke Hand zeigte der rechten Hand, wie man streichelt, und ihr hättet erleben müssen, wie nun auch die rechte Hand mit dem Streicheln loslegte. Da reichten der Kopf und der Hintern und die Beine bald nicht mehr, sie fing an, alle und jeden zu streicheln, die ihr zwischen die Finger kamen. Wen sie gerade erwischte, den streichelte sie, und die verliebte linke Hand wollte sich dabei auch nicht lumpen lassen. Und so haben die beiden drauflos gestreichelt, gerade so, wie ich euch jetzt streichle. So und so und so.
Erstmals erschienen in: Johannes Merkel: Ich kann euch was erzählen. Spielgeschichten, Rotfuchs 292, Rowohltverlag Reinbek 1981, S. 19-22
Es handelt sich um eine „Körpergeschichte“: Die verschiedenen Körperglieder werden als handelnde Figuren vorgestellt. Während sonst beim Erzählen Sprache und Gesten ineinander verschränkt werden, sollen hier die Gesten durch kurze Pausen von den Redepassagen abgesetzt ausgeführt werden, um die Eigenständigkeit der Körperglieder zu verdeutlichen.
Die Geschichte kann solo vorgeführt werden, indem die Erzählenden jeweils die entsprechenden Körperteile in Bewegung setzen (z.B. mit dem Kopf versuchen, das Hinterteil zu beobachten). Sie kann auch von drei Personen vorgeführt werden, die hintereinander sitzend und stehend Kopf, Hände und Beine darstellen.
Die Erzählung kann mit einer „Streichelorgie“ enden, indem erst die Erzählenden die zunächst sitzenden Kinder streicheln und dabei zum gegenseitigen Streicheln auffordern.