Der heiratswillige Specht

Es war ein­mal ein Specht, der woll­te hei­ra­ten. Aber nicht irgend­je­man­den, nein, er woll­te nur die Größ­te und Stärks­te hei­ra­ten.

Dar­um flog er zur Son­ne und sag­te: „Son­ne, du bist die Größ­te und Stärks­te, willst du mich hei­ra­ten?“

Die Son­ne muss­te lachen, als sie den klei­nen Specht her­um­flat­tern sah, und sie sag­te: „Ich bin groß und stark, aber ich ken­ne jeman­den, der ist grö­ßer und stär­ker als ich.“

„Wer ist das?“ frag­te der Specht.

„Das ist die Wol­ke. Sie schiebt sich ein­fach vor mich und ich bin nicht mehr zu sehen.“

Da flog der Specht zur Wol­ke und sag­te: „Wol­ke, du bist die Größ­te und Stärks­te, willst du mich hei­ra­ten?“

Die Wol­ke ant­wor­te­te dem Specht: „Ich bin groß und stark, aber ich ken­ne jeman­den, der ist grö­ßer und stär­ker als ich.“

„Wer ist das?“ frag­te der Specht.

„Das ist der Wind, der pus­tet mich weg.“

Da flog der Specht zum Wind und sag­te: „Wind, du bist der Größ­te und Stärks­te, willst du mich hei­ra­ten?“

Der Wind pus­te­te dem Specht zu: „Ich bin groß und stark, aber ich ken­ne jeman­den, der ist grö­ßer und stär­ker als ich.“

„Wer ist das?“ frag­te der Specht.

„Das ist der Baum, der beugt sich, aber er hält stand, ich kann ihn nicht umblasen.“ 

Da flog der Specht zum Baum und sag­te: „Baum, du bist der Größ­te und Stärks­te, willst du mich hei­ra­ten?“

Der Baum knarr­te dem Specht zu: „Ich bin groß und stark, aber ich ken­ne jeman­den, der ist grö­ßer und stär­ker als ich.“

„Wer ist das?“ frag­te der Specht.

„Das ist die Spech­tin, die häm­mert mit ihrem Schna­bel Löcher in mich und ich kann nichts dage­gen tin. Eines Tages fal­le ich noch um.“

Da flog der Specht zur Spech­tin und sag­te: „Spech­tin, du bist die Größ­te und Stärks­te, willst du mich hei­ra­ten?“

Und was glaubt ihr, was die Spech­tin ant­wor­te­te? Sie sag­te ja und die bei­den hei­ra­te­ten noch am glei­chen Tag.

Nach einem Mär­chen­mo­tiv aus Tibet.

Man mag die­se ein­fa­che Geschich­te als Auf­for­de­rung ver­ste­hen, der eige­nen Natur zu fol­gen, oder nach dem etwas zwie­lich­ti­gen Mot­to: Schus­ter bleib bei dei­nen Leis­ten! In jedem Fall bie­tet die kreis­för­mi­ge Hand­lung, die zum Aus­gangs­punkt zurück­kehrt, eine ein­fa­che und wirk­sa­me Erzähl­vor­la­ge. Wie sie die Zuhö­ren­den auf­neh­men, über­lässt man gera­de bei sol­chen etwas „zwie­lich­ti­gen“ Geschich­ten am bes­ten dem Publikum. 

Oben­drein führt sie sprach­lich den Gebrauch vom Kom­pa­ra­tivs vor.