Der ängstliche Wassertropfen

Es war ein­mal ein Was­ser­trop­fen, der hing am Was­ser­hahn und spür­te sol­che Lust, sich fal­len zu las­sen. Aber er war ängst­lich und trau­te sich nicht.
Hin­ter ihm war­te­te schon der nächs­te Was­ser­trop­fen. „Mensch, mach zu, lass dich fal­len!“
„Wenn ich mich aber doch nicht trau‘!“ jam­mer­te der ers­te Was­ser­trop­fen. „Mach du zuerst!“

Der zwei­te Was­ser­trop­fen rutsch­te über den ers­ten weg und ließ sich fal­len. Da hat­te der ers­te Was­ser­trop­fen wie­der sol­che Lust, sich fal­len zu las­sen! Aber er trau­te sich noch immer nicht.
„Mensch, lass dich end­lich fal­len!“ schimpf­te hin­ter ihm der drit­te Was­ser­trop­fen.
„Wenn ich mich aber doch nicht trau‘!“ jam­mer­te der ers­te Was­ser­trop­fen wie­der. „Mach du zuerst!“

Da rutsch­te auch der drit­te Was­ser­trop­fen über den ers­ten weg und ließ sich fal­len. Und der ers­te Was­ser­trop­fen hat­te wie­der sol­che Lust, sich fal­len zu las­sen. Aber er trau­te sich noch immer nicht.

Da kam eine Hand und dreh­te den Was­ser­hahn auf. Plötz­lich scho­ben und stie­ßen ihn die Was­ser­trop­fen hin­ter ihm  und ris­sen den ängst­li­chen Was­ser­trop­fen mit. Und er fiel, und fühl­te sich so leicht und glück­lich und lach­te. Bis er ins Was­ser­be­cken klatsch­te! Die ande­ren Was­ser­trop­fen rutsch­ten und glit­ten an den glat­ten Wän­den des Beckens zum Ausguss.

„Halt!“ rief der ängst­li­che Was­ser­trop­fen. „Ich will nicht in den Aus­guss rut­schen! Ich will noch ein­mal fal­len!“
Und damit er nicht durch den Abguss rutsch­te, sprang er auf die Hand, die jetzt in den Strahl des Was­ser­hahns griff, um sich zu waschen. Sobald die Hand wie­der hoch über dem Wasch­be­cken stand, woll­te sich der ängst­li­che Was­ser­trop­fen gleich wie­der fal­len las­sen. Aber die nas­se Hand kehr­te nicht über das Wasch­be­cken zurück, son­dern griff nach einem Hand­tuch, um die Was­ser­trop­fen vom Hand­tuch auf­sau­gen zu lassen.

Da rief der ängst­li­che Was­ser­trop­fen: „Nein! Ich will mich auch nicht vom Hand­tuch auf­sau­gen las­sen!“ Die Hand dach­te nicht dar­an, sich auch das Hand­ge­lenk abzu­trock­nen und der ängst­li­che Was­ser­trop­fen konn­te sich in den fei­nen Här­chen des Hand­ge­lenks festkrallen.

Die­se Hand gehör­te einem Jun­gen, der gleich dar­auf auf die Stra­ße lief. Gegen­über, auf der ande­ren Stra­ßen­sei­te sah er sei­nen Freund sit­zen, rief ihm zu und wink­te mit der Hand. Da fie­len die Was­ser­trop­fen, die sich ans Hand­ge­lenk geret­tet hat­ten, auf das von der Som­mer­son­ne hei­ße Stra­ßen­pflas­ter und ver­dampf­ten. Aber der ängst­li­che Was­ser­trop­fen rief: „Nein! Ich will auch nicht auf dem Pflas­ter ver­damp­fen!“ Und er krall­te sich an die fei­nen Här­chen des Hand­ge­lenks. Weil aber gera­de ein Auto vor­bei­fuhr, konn­te der Freund gegen­über den Jun­gen nicht hören, des­halb rief der Jun­ge noch lau­ter und wedel­te hef­tig mit bei­den Armen. Da konn­te sich der ängst­li­che Was­ser­trop­fen nicht mehr fest­hal­ten, fiel auf das hei­ße Pflas­ter und verdampfte.

 

 

Als Was­ser­dampf wur­de er leicht und immer leich­ter. Und weil er so leicht gewor­den war, stieg er in die Luft und er fühl­te sich so luf­tig und glück­lich und lach­te. Und dabei stieg er und stieg, bis er weit oben am Him­mel auf eine Wol­ke stieß. Dort oben war es kalt und in der Käl­te wur­den aus dem Was­ser­dampf wie­der schwe­re Was­ser­trop­fen. Die ers­ten Trop­fen began­nen zur Erde zu fal­len und der ängst­li­che Was­ser­trop­fen spür­te, dass er schwe­rer und immer schwe­rer wur­de. „Nein!“ rief er. „Ich will nicht wie­der zur Erde fallen!“

Aber schon war auch er zu schwer gewor­den und er fiel und fiel und im Fal­len fühl­te sich so leicht und glück­lich und lach­te.
Da war er auch schon wie­der ange­kom­men und klatsch­te auf die Erde. Die Trop­fen, die mit ihm gefal­len waren, ver­si­cker­ten im Erd­reich, aber der ängst­li­che Was­ser­trop­fen rief: „Nein! Ich will nicht in der Erde versickern!“

Doch die Erde saug­te ihn auf und er sicker­te durch das Erd­reich immer tie­fer und tie­fer, bis er von einer Was­ser­bla­se tief in der Erde ange­zo­gen wur­de. In die Was­ser­bla­se rag­te ein dickes Rohr, das saug­te das Was­ser an und pump­te es in eine Was­ser­lei­tung. Da schrie der ängst­li­che Was­ser­trop­fen: „Nein! Ich will nicht in die Was­ser­lei­tung gepumpt wer­den!“ Aber das half ihm nichts, schon wur­de er mit vie­len ande­ren Was­ser­trop­fen erfasst und durch die Rohr­lei­tung gepresst.

Am Ende der Rohr­lei­tung geriet der ängst­li­che Was­ser­trop­fen in einen trop­fen­den Was­ser­hahn. Nun hing er wie damals am Was­ser­hahn und  spür­te wie­der sol­che Lust, sich fal­len zu las­sen. Aber nun wuss­te er, wie es ging. Er hat­te alle Angst ver­lo­ren, lös­te sich vom Hahn und ließ sich fal­len. Und er fiel und fühl­te sich so leicht und glück­lich, dass er lach­te. Bis er auf den Boden des Was­ser­be­ckens klatsch­te! Die Was­ser­trop­fen vor ihm rutsch­ten und glit­ten an den glat­ten Wän­den des Beckens hin­ab und die Was­ser­trop­fen hin­ter ihm scho­ben ihn zum Aus­guss. Aber der ängst­li­che Was­ser­trop­fen hat­te alle Angst ver­lo­ren und er sag­te: „War­tet nur! Ich kom­me bestimmt wie­der zurück!“ Und er ver­schwand zwi­schen den ande­ren Was­ser­trop­fen im Aus­guss des Beckens.

Ob er wohl wirk­lich bald wie­der zurück­kom­men wird?

Ursprüng­lich erschie­nen in: Johan­nes Mer­kel, Das Kro­ko­dil an der Ampel, Ber­lin 1988, S. 32-34
Zeich­nung von Die­ter Malzacher