Der Lehrer als Erzähler
Johannes Merkel
Der Primaner Hans-Georg Friedrich war erst vor kurzem ans Breisacher Gymnasium gewechselt, als der Schulleiter, Herr Oberstudiendirektor Pfitzer, Herrn Friedrich fernmündlich bat, in der Schule vorzusprechen: Sein Sohn falle durch fortwährendes überhebliches Grinsen auf. Herr Friedrich kam schon am nächsten Morgen, und der Oberstudiendirektor erklärte ihm, das besagte Grinsen scheine nach seiner und der Ansicht betroffener Kollegen, eine prinzipielle Ablehnung des Schulbetriebs zu beinhalten.
„Herr Oberstudiendirektor“, antwortete Herr Friedrich, „es handelt sich hierbei um ein Missverständnis. Hans-Georg grinst nicht, er scheint nur zu grinsen. Es sind seine etwas ungewöhnlichen Gesichtszüge, die diesen Eindruck hervorrufen. Grinsen liegt bei uns sozusagen in der Familie.“
„Aber ich bitte Sie“, protestierte Herr Pfitzer, „Sie grinsen doch auch nicht.“
Herr Friedrich lächelte. „Das hat seine Gründe. Wenn Sie mich genau betrachten, sehen Sie hier unterhalb des linken Kiefers eine fast verwachsene Narbe. Eine Kriegsverletzung, durch die sich meine Physiognomie veränderte – zu meiner Erleichterung, muss ich gestehen, denn ich war vorher, vor allem bei der Wehrmacht, ihretwegen oft ungerechten Verdächtigungen ausgesetzt.“ Und zum Beweis zog Herr Friedrich ein halb vergilbtes Foto aus der Brieftasche, das ihn in Leutnantsuniform und grinsend zeigte. Oberstudiendirektor Pfitzer betrachtete es misstrauisch, musste aber schließlich Herrn Friedrich recht geben. „Übrigens“, sagte Herr Friedrich aufstehend, „dieses erbbedingte Grinsen tritt erfahrungsgemäß vor allem in einer bestimmten Wachstumsphase auf. Danach entwickelt es sich auch ohne Kieferverletzung stark zurück.“
Ein Jahr später hatte sich Oberstudiendirektor Pfitzer selbst von dieser merkwürdigen Tatsache überzeugt. In einem Telefongespräch teilte er Herrn Friedrich mit, er habe die Sache zwar damals auf sich beruhen lassen, jedoch habe er Hans-Georg weiterhin im Auge behalten, und heute könne er bestätigen, daß jenes Grinsen bereits so weit zurückgegangen sei, daß man nicht mehr von einem eigentlichen Grinsen reden könne, sondern allenfalls von einer gewissen Verzerrung der Mundpartie. Ansonsten seien Hans-Georgs fachliche Leistungen vollauf zufriedenstellend.
Erzählen heißt, sich erinnern, wie es gewesen war und wie es anders hätte sein können. Aber ich fürchte, um tagtäglich in der Schule zu funktionieren, müssen Lehrer eher vergessen können – die Erinnerungsspuren an die eigene Schulzeit, an die eigenen Lehrer. Erleichtert wird das durch den ziemlich schiefen Eindruck, daß die Schule von damals, von vor der „Bildungsreform“ ja ganz anders gewesen sei.
Wenn ich an meine Schulzeit denke, sehe ich zuerst einmal Gestalten:
– Einen Biologielehrer, rotbraune Birne mit einem Haarkranz, Stiernacken, der Europa zweimal vor dem Bolschewismus gerettet hat, und sein obligatorisches Einfamilienhaus baute er mit eigenen Händen, währenddessen schlief er im Ziegenstall und stank dementsprechend.
– Einen Altphilologen, der besessen rauchte, es ohne erkennbare Besonderheiten schaffte, uns für griechische Vokabeln und den Aorist zu begeistern und schon nach einem dreiviertel Jahr an Krebs starb. Während des Unterrichts steckte er meist die Hände hinter den Hosengürtel, und das mach ich ihm heute oft noch nach. Ich glaube, er war der überzeugendste Lehrer, den wir hatten, aber ich hab deswegen Griechisch nicht weniger vergessen.
– Eine Französischlehrerin, nach den Vorstellungen der 50er Jahre eine mondäne Erscheinung, immer kräftig geschminkt und als Gipfel der Provokation auch mit gut vierzig Jahren noch unverheiratet, die sich im Unterricht aufs Pult pflanzte und die Beine übereinander schlug. Im Abitur hat sie eine Mathematikskizze auf einen Zettel gekritzelt und sie mir zugesteckt – auch keine schlechte Erinnerung.
Nur ein winziger Ausschnitt aus der Galerie, und schon der flüchtige Blick im Abstand von 20 Jahren zeigt: Was spontan hängen blieb, ist, wie sie vor einem standen, wie sie einen anredeten und Episoden, die sich an die Gestalten ranken. Und wo blieb der Stoff, in meinem Falle die „humanistische Bildung“?
– Ein griechischer Mathematiker saß zeichnend vor seinem Haus, als die Römer die Stadt eroberten, und sagte gleichgültig zu einem römischen Soldaten: „Geh mir aus der Sonne!“ Dann machte ihn der Soldat einen Kopf kürzer. War es Euklides oder Pythagoras? Da setzt es schon aus, doch mit Sicherheit geschah es in der Stadt Tarent.
– Sokrates trank seinerseits in aller Seelenruhe den Schierlingsbecher aus mit dem Hinweis an seine trauernden Schüler, sie wüssten ja wohl nicht, was ihn erwarte, weshalb also trauern? Allerdings, was Schierling ist, weiß ich erst seit etwa zwei Jahren.
– Und den Anfang von Schillers „Ring des Polykrates“ weiß ich heute noch auswendig, nicht weil ich ihn damals so gut gelernt hätte. Ich konnte mit der alten Pennälerparodie landen, von dem, der mit vergnügten Sinnen auf seine zehn belegte Brötchen blickt, wurde dafür belobigt, aber schon am nächsten Tag mit einer Strafaufgabe bedacht, weil die Gattin des Lehrers meinte, das sei ja wohl eine Beleidigung des großen deutschen Dichters.
Zugegeben, das sind ziemlich banale Histörchen, zugegeben auch, daß in den 50er Jahren wesentlich weniger auf den Schulen gelernt wurde als heute (fast möchte ich sagen: Gott sei Dank!), und daß der Stoff nicht halb so geschickt in Grob- und Feinlernziele aufgegliedert wurde. Aber schließlich, ihr „Rüstzeug“ hatten die Lehrer damals genauso gut, und was mir bei unkontrolliertem Erinnern ins Gedächtnis kommt, stand jedenfalls nicht in ihren Lehrplänen und Lehrerhandbüchern: Anekdötchen und Gestalten und erst nach hartnäckigem Nachdenken auch noch Zusammenhänge, Kenntnisse, die über die puren Kulturtechniken hinausgehen, also „Stoff“. Und ich denke, das Ergebnis wird nicht wesentlich anders sein, wenn sich einmal die Schüler von heute zurückerinnern werden an ihren methodisch und didaktisch ausgeklügelten Unterricht in der „technokratischen“ Schule. Wahrscheinlich werden sogar viele sinnvolle Unterrichtsgegenstände und Vermittlungsmethoden gerade dadurch wieder zunichte gemacht, daß der Schulbetrieb wie die wissenschaftliche Pädagogik die Person des Lehrers inzwischen fast restlos ausklammert und sich fast nur noch auf die Vermittlung des „Stoffs“ konzentriert (und das gerade mit eifriger Unterstützung der „Linken“).
Altgediente Lehrer, insbesondere in der Grundschule, verstehen es noch manchmal, ihren Stoff „emotional“ aufzubereiten, indem sie sich erzählend in Pose bringen, indem sie nicht mehr behandeln, sondern erzählen. Peter Schneider hat 1971, mit den ganzen noch blütenfrischen pädagogischen Vorstellungen der Linken ausgerüstet, ziemlich irritiert festgestellt: „daß mir der Lehrer Lampe durch eine gewisse Lockerheit, eine Art Künstlerschaft im Umgang mit Beispielen und Mythen, durch die er die Kinder auf die Welt vorbereitete, überlegen war. Ich registrierte hier einen Vorsprung, den sich die Propagandisten der bürgerlichen Gesellschaft durch die naive Handhabung von Märchen und Mythen verschaffen“ (Kursbuch 24, S. 70). Allerdings, die Propagandisten in der Schule tun das schon lange nicht mehr (und taten das bewußt auch vorher nicht). Das haben ihnen längst die Werbeagenturen und die Fernsehmacher abgenommen.
Geschichten erzählen als neue Wunderwaffe im alltäglichen Kampf gegen die Gleichgültigkeit der Schüler? Methodisch und didaktisch reflektiert und organisiert für den Einsatz im Schulalltag? In den letzten Jahren sind genug plausible und erfahrungs- oder gesellschaftsbezogene „didaktische Ansätze“ ausgebrütet und vermarktet worden und dann am Schulbetrieb gescheitert, so daß es überflüssig ist, noch ein totgeborenes Kind in die Welt zu setzen.
Ich bin kein Lehrer, ich beziehe mich eher auf Erfahrungen im Kindergarten und mit dem Kindertheater. Obwohl unsere Erzählstunden nicht nur bei den Kindern ankamen, sondern auch von Erzieherinnen und Lehrern sehr geschätzt wurden, kam bis auf eine einzige Ausnahme niemand von ihnen auf die Idee, uns nachzuahmen. Ich denke, das hat tieferliegende Gründe als die Scheu, mit den „gelerntem“ Erzählern in Konkurrenz zu treten. Ursache scheint mir die in der Ausbildung vermittelte und im Kindergarten beobachtete Erzieherhaltung zu sein, die die Motorik des Körpers als Medium ausklammert: Welcher Lehrer kann es riskieren, sich vor seiner Klasse auf den Boden zu legen, um vorzumachen, wie ein Krokodil im Wasser schläft?
Es schlägt hier die vorgebliche „Objektivität“ durch, auf die alle Erziehungsanstalten und Erziehungsmaßnahmen sich berufen: Das systematische Absehen und Übersehen von gegenwärtigen Interessen oder gar körperlichen Regungen der Schüler und Erziehenden zum höheren Interesse einer späteren Brauchbarkeit „im Leben“. Unabhängig davon, für wie sinnvoll man diese Begründung hält, die gelebte und erlebte Gegenwart von Schülern und Lehrern bleibt dabei vor der Schultür, und sie ist im alltäglichen Schulbetrieb auch durch noch so ausgeklügelte Unterrichtsverfahren kaum mehr in die Schule zu locken. Und deshalb ist es auch weder Zufall noch schlechtes Gedächtnis, dass sich uns gerade die wenigen und für den Schulstoff eher störenden Augenblicke einprägten, wo wir etwas vom konkreten und auch körperlichen Leben unserer Lehrer spürten.
Ein ziemlich verbreitetes Missverständnis ist es, Erzählen mit Reden gleichzusetzen, Geredet wird in der Schule schon mehr als genug, und es wäre keinen Gedanken wert, den zu Recht suspekten verbalen Unterricht noch um eine neue Redeweise zu erweitern. Wer ein Erlebnis mehrmals hintereinander in einer einigermaßen gelösten Situation berichtet, bemerkt sehr rasch, daß es beim Reden allein nicht bleibt. Es stellen sich Gesten ein, man ahmt Stimmlagen nach, und beim Wiederholen schleift sich eine relativ feste Form ein, die oft ans Einmanntheater streift. Gerade beim wiederholten Vortragen bekommt man ein sehr genaues Gefühl, welche Passagen mit welcher Gestik am wirkungsvollsten bezeichnet werden. Diese Wirkung teilt sich dem Erzähler durch spürbare und sichtbare Reaktionen der Zuhörer mit: vorgebeugte „gespannte“ Haltung, offener Mund, Gelächter, unwillkürliche Nachahmung. Im Umgang mit Kindern und besonders bei Vorschulkindern ist die Reaktion noch offensichtlicher: Ohne solches „Getue“ schalten sie rasch ab, aber sie sind gespannt wie ein Flitzebogen, sobald man sich gestattet zu „kaspern“, jeden Bericht mimisch und gestisch zu veranschaulichen. Sie verstehen oft Zusammenhänge, die man vergeblich erklärt hat, sobald sie gestisch illustriert werden. Solche Gesten sind Zeichen ebenso wie die Lautzeichen der Sprache, aber sie bilden das Gemeinte andeutungsweise nach, sie sind deshalb bis zu einem gewissen Grade sinnlich „lesbar“. In der Kombination mit den schwerer erfassbaren lautlichen Zeichen schaffen sie ein andeutungsweises assoziatives Verständnis des Gesagten, noch ehe es voll entschlüsselt oder entschlüsselbar ist. Von daher ist es verständlich und sogar ganz sinnvoll, wenn die Kinder, die oft nur noch begrenzte Kommunikationsmöglichkeiten mit Erwachsenen haben, nach allen verfügbaren Formen sinnlicherer Erzählung in den Medien greifen. Fernsehen, Film, Comic oder Toncassette stellen ja ebenfalls die gesprochene Äußerung in eine optisch und akustisch wiedergegebene Situation und machen dabei die sprachliche Äußerung durch den wahrnehmbaren Kontext erschließbar. Das Verständnis hängt also nicht ausschließlich von der Entschlüsselung sprachlicher Strukturen ab. Andererseits ist sehr wahrscheinlich, daß sie durch die enge Verbindung von Sprechäußerung und Bildeindruck oder Geräuschkulisse das Verständnis der sprachlichen Mitteilungen erschließen und differenzieren. Das gilt vielleicht am meisten für das Medium, dem man die schlimmsten Auswirkungen zugeschrieben hat und noch zuschreibt: dem „Bildidioten“ produzierenden Comic. Comic-Panels sind ja genau in diesem Sinne keine Bilder, sondern optische Lesezeichen, und sie brauchen deswegen die oft beanstandete körperliche und gestische Bewegung der Figuren.
Der Vergleich mit den Medien ist nicht von ungefähr: Auch gestisches Erzählen ist in diesem Sinne ein „Medium“. Aufgrund der technischen Kompliziertheit der Medien und noch mehr aufgrund ihrer gesellschaftliche Organisation können damit aber nur wenige erzählen, und die andern werden zu Konsumenten, denen man „Einwegkommunikation“ bietet. Die Medienpädagogik hat deshalb gefordert, in die aktive Sprache der Medien einzuführen, also eine „medienspezifische Kompetenz“ zu vermitteln. Und sie hat sich auch redlich abgequält, das in aufwendigen Unterrichtseinheiten zu bewerkstelligen. Abgesehen davon, daß in den meisten Schulen dafür schlicht die Voraussetzungen fehlen (Projektunterricht, Gerätebeschaffung etc.), verlangt die Durchführung solcher Projekte einen Aufwand, der die Arbeitsmöglichkeiten und die Zielstrebigkeit des Lehrers meist weit übersteigt. Es blieb deshalb meist bei „Modellversuchen“. Gestisches Erzählen dagegen ist als Medium jedem und jederzeit verfügbar, so, wie sonst allenfalls noch einfaches Theaterspielen, mit dem es nahe verwandt ist.
Beim Erzählen in Kindergruppen begannen immer wieder einzelne Kinder spontan loszulegen, zunächst oft in schwer verständlichen Assoziationsfetzen, die sich erst bei vorsichtigem Nachfragen zu einer Geschichte zusammensetzten. Aber auch wenn die Zuhörer nach unserem Empfinden so gut wie nichts verstanden haben konnten, hörten sie lange Zeit interessiert zu, und am Ende war dem Erzähler dieser Erfolg unverkennbar ins Gesicht geschrieben. Die Fähigkeit, seine eigenen Erlebnisse zu artikulieren und damit den gewerbsmäßigen Vorbetern entgegenzusetzen, beginnt mit solch unscheinbaren Erfahrungen. Erst darauf kann vielleicht eine „passive“ oder gar „aktive“ Medienkompetenz aufbauen, und ohne dergleichen Erfahrungen ist vermutlich der schönste medienkritische Unterricht für die Katz. (Als gelegentlicher Drehbuchautor fürs Kinderfernsehen möchte ich hinzufügen: Man sollte niemanden Drehbücher schreiben oder Filmbeiträge machen lassen, der seine oft recht dünnen Einfälle Kindern nicht erst einmal lebendig zu erzählen gelernt hat.) Reichlich zweifelhafte Vermutungen, die der amerikanischen Sesamstraße zugrunde lagen, wurden als wissenschaftliche Wahrheiten verkauft, und plötzlich sollte das Vorschulfernsehen den Sputnikschock kurieren. Die wenigen ausführlichen Begleituntersuchungen haben dann, soweit man sich auf dergleichen Untersuchungen überhaupt verlassen kann, ziemlich eindeutig ergeben, daß ein längerfristiger „Lernerfolg“ nur da wahrscheinlich ist, wo die Sendungen mit Eltern und Erziehern „nachbereitet“ werden. Daher der kluge und begründete Rat „wissenschaftlicher“ Pädagogik: Man solle doch die Fernseheindrücke der Kinder besprechen und nachspielen, mindestens mit selbst gebastelten Papierfiguren. Gegenfrage: Warum sollte man eigentlich die geringe Zeit, die zur Verfügung steht, mit Kindern außerhalb der in Anweisungen und Erklärungen ablaufenden Alltagskommunikation zu reden, auch noch damit verbringen, die oft als Erzählung recht gequälten Kindersendungen nachzukauen? Haben wir nicht Erfahrungen zu bieten, die Kinder mehr interessieren, weil sie von Personen gemacht wurden, mit denen sie täglich umgehen, die sie lieben oder auf die sie wütend sind? Wie sehr sich solche oft unscheinbaren Geschichten und Berichte Kindern einprägen, wird deutlich, wenn man sich an die eigene Kindheit zu erinnern versucht. Wir haben das mehrmals und ausführlich mit Studentengruppen gemacht, und am auffälligsten war dabei, daß die Geschichten oft über ganz äußerliche Situationen erinnert wurden: bei welcher Gelegenheit erzählt, mit welcher Stimme geredet und vor allem was spielerisch ausgeschmückt wurde.
Obwohl sich die Linguistik kaum mit gestischer Zeichenvermittlung beschäftigt, weiß man inzwischen doch, daß die Sprachentwicklung sowohl beim Säugling als auch menschheitsgeschichtlich mit der Geste beginnt, sehr wahrscheinlich mit der Zeigegeste, deren Form und Bedeutung noch vor dem eigentlichen Spracherwerb vermittelt wird. Menschheitsgeschichtlich dürfte sich der Signal- und Zeichencharakter sprachlicher Laute erst aufgrund der Normierung von emotionalen Lautäußerungen entwickelt haben, die Signalgesten begleiteten und sich wegen ihrer Vorteile (Informationsvermittlung auch außerhalb des Gesichtsfeldes) von der Geste ablösten. Dieser Hinweis ist auch deshalb aufschlussreich, weil die offensichtliche Lust, die gestisches Erzählen auch dem Erwachsenen bereitet, mit einer Erleichterung der sprachlichen Verständigungsarbeit zu tun hat, also einer Art regressiver Lust entsprechen dürfte. Sprechen bedeutet ja auch für den sprachlich spezialisierten Erwachsenen eine beträchtliche Anstrengung, insbesondere dort, wo sich die Äußerung auf eine vom Sprecher und Hörer nicht wahrgenommene Situation bezieht. Hier muss die gemeinte Situation mit sprachlichen Mitteln sozusagen nachgebaut werden, eben mit Hilfe der vom muttersprachlichen System zur Verfügung gestellten semantischen und grammatischen Strukturen. Und Erzählen ist seiner Definition nach die Rekonstruktion des Gewesenen mit sprachlichen Mitteln – und es ist kein Zufall, dass solche Rede „naturwüchsig“ gestisch angereichert wird.
Die sprachliche Wiedergabe entfernter Situationen wird im Verlaufe des kindlichen Spracherwerbs relativ spät und erst sehr unbeholfen angeeignet. Jeder Vorschulerzieher oder Grundschullehrer weiß aus Erfahrung, wie schwer es Kindern fällt, sprachliche Beschreibungen nachzuvollziehen oder selbst zu formulieren. Überraschend sind solche Schwierigkeiten nur vom Standpunkt einer (relativen) Sprachbeherrschung her und der gelernten Selbstverständlichkeit, alle Situationen sprachlich zu rekonstruieren gemäß dem Kernsatz des Sprachunterrichts der Schule: Bilde einen vollständigen Satz! Vom Standpunkt kindlichen Hörens und Sprechens aus sieht es anders aus. Linguistisch ist jede Stufe kindlichen Spracherwerbs nicht als unvollständige Beherrschung der vollkommenen Erwachsenensprache definiert, sondern als jeweils geschlossenes System von Zeichen und Bezeichnungsmöglichkeiten, mit deren Hilfe es sich zu äußern sucht. (Das trifft natürlich prinzipiell auch für die Erwachsenen zu, deren Sprechweisen sich bekanntlich individuell und sozial sehr unterscheiden.) Da das kindliche Sprachsystem jeweils über weniger und weniger differenzierende Zeichen verfügt, ist viel mehr auf die Nutzung zusätzlicher Kommunikationskanäle angewiesen, eben jener paraverbalen und nonverbalen Zeichen, wie sprachbegleitende Gesten und Körperspiel genannt werden. Auch von dieser Seite her gesehen, ist die sprachbegleitende Geste nicht „redundant“, keine bloße Verzierung, sondern Bedingung gelingender Verständigung. Sieht man eine umfassende Kommunikationsfähigkeit als Ziel des Sprachunterrichts, dann müsste er eigentlich von dieser Art lebendiger Rede ausgehen, und nicht vom Schriftsprachgebrauch. Noch mehr: Gerade um eine sprachlich differenzierte Ausdrucksfähigkeit zu entwickeln, müsste gestisches und sinnlich spontan verständliches Reden einbezogen werden. Und das heißt: der Lehrer müsste erzählen können und die Schüler erzählen lassen.
Aber schon sträubt sich in mir alles, Erzählen für die Schule zu empfehlen. Wird nicht schon, wenn auch in schriftlicher Form, der „Erlebnisbericht“ aus dem Leben gegriffen, und mit welch abschreckenden Resultaten? Und wenn ich mir dann erst einen Lehrer vorstelle, der aus jedem problematischen Lernbereich ein kleines „kindgemäßes“ Geschichtchen drechselt, das hinterher zwecks höherer „Motivation“ mimisch und gestisch aufbereitet wird. Und noch schlimmer: Unterrichtseinheiten in der „praxisorientiertem> Ausbildung: hinter den Spalten „Lernziele (grob und fein)“, „didaktische Methode“ und „Stoff“ noch zwei neue Spalten: die veranschaulichende Erzählung und die sprachbegleitenden Gesten. Und ich stelle mir den ängstlichen Referendar vor, mit halbem Auge nach dem Ausbilder auf der letzten Bank schielend, der diese Spalten dann vor den Schülern herunterholpert.
Zum Erzählen gehören immer zwei: einer, der redet, und einer, der zuhört. Deshalb noch einmal eine Erfahrung aus den Kindergärten: Selbst wo die Kinder sich nicht aus der Gruppe entfernen konnten, weil die Erzieherin meinte, sie sollten ruhig auch einmal zuhören lernen, signalisierten sie uns ihre Unlust.
Erzählen im Sinne des lebendigen Mitteilens kann man eben nur, wenn der Erzähler mit jeder Bewegung und jedem Tonfall hinter seiner Geschichte steht, wenn sie in diesem Sinne „seine“ Geschichte ist, ob er sie nun selbst erlebt oder ausgedacht oder nur einer fremden Geschichte nachgefühlt hat.
Sollen die Lehrer selbst entscheiden, ob sie vor ihrer Klasse so erzählen können oder wollen.
(Zuerst erschienen in: Johannes Beck/ Heiner Boehncke (Hg.): Jahrbuch für Lehrer 6, Reinbek 1981)