Wie Kinder Geschichten erzählen

Johan­nes Merkel

Wir haben uns im „Jahr­hun­dert des Kin­des“ ange­wöhnt, Kin­der als fremd­ar­ti­ge Wesen zu sehen, die durch tie­fe Grä­ben ande­ren Den­kens und Ver­hal­tens von sozia­li­sier­ten Erwach­se­nen getrennt sei­en. Wenn die­se Sicht auch die Eigen­hei­ten kind­li­chen Erle­bens und Reagie­rens her­aus­zu­stel­len und zu beach­ten erlaub­te, trüb­te sie doch gleich­zei­tig den Blick dafür, dass Kin­der nicht grund­sätz­lich anders sind als Erwach­se­ne, dass sie nur das sind, was wir alle waren, und jeder Mensch ein Kind in sich trägt. Die über­wie­gen­de Mehr­zahl der Autoren, die kind­li­ches Leben und kind­li­che Ent­wick­lung zu beschrei­ben ver­su­chen, bli­cken durch die­se exo­ti­sche Bril­le auf Kind­heit und Kin­der her­un­ter, als ob es sich um einen eigen­ar­ti­gen Stamm auf einer pazi­fi­schen Insel han­del­te und nicht um einen Teil ihres eige­nen Lebens und ihrer eige­nen Geschich­te. Die­se „eth­no­lo­gi­sche“ Sicht, die Abstand und damit „Objek­ti­vi­tät“ zu hal­ten erlaubt, bestimmt auch die Kon­zep­te und For­schun­gen, die nach­zu­zeich­nen ver­su­chen, wie sich Kin­der die for­ma­len und kom­mu­ni­ka­ti­ven Regeln aneig­nen und anwen­den, die dem Erzäh­len die­nen. Die vor­aus­ge­setz­te Fremd­ar­tig­keit führt dazu, dass man sie nur über „empi­ri­sche“ Beob­ach­tun­gen erkun­den, über sta­tis­tisch erfass­ba­re und ope­ra­tio­na­li­sier­ba­re Fak­ten ver­ste­hen zu kön­nen glaubt. Tat­säch­lich las­sen sich mit die­sen Ver­fah­ren auf­schluss­rei­che Dif­fe­ren­zen benen­nen, die den kind­li­chen von dem uns ver­trau­ten Umgang mit Erzäh­lun­gen und dem Erzäh­len unter­schei­det. Zugleich aber ver­stel­len sie den Blick dafür, dass erzäh­len­des Kom­mu­ni­zie­ren von Anfang an eine ein­heit­li­che Funk­ti­on hat und lebens­lang behält, und dass die Gesetz­mä­ßig­kei­ten, die es steu­ern, für jeden die glei­chen sind, der zum Erzäh­len ansetzt, gleich­gül­tig, ob es sich um ein Kin­der­gar­ten­kind, einen die Gute-Nacht-Geschich­te erzäh­len­den Vater, eine Kol­le­gin, die aus ihrem Urlaub berich­tet, oder einen Schrift­stel­ler am Schreib­tisch handelt.

Ich wer­de des­halb, wenn es jetzt um die Ent­wick­lung des Erzäh­lens in der Kind­heit geht, die­se Ein­heit­lich­keit beto­nen und davon aus­ge­hen, dass Kin­der Erzäh­lun­gen nach den glei­chen Prin­zi­pi­en und Ver­fah­ren bil­den, die auch Erwach­se­ne lei­ten, und dass die Schwie­rig­kei­ten, die sie beim Kon­stru­ie­ren von Geschich­ten haben, denen glei­chen – oder sich doch mit denen ver­glei­chen las­sen -, denen wir alle bei der Aus­ar­bei­tung von Geschich­ten begeg­nen. Wenn sich kind­li­che Erzäh­lun­gen oft so anders und fremd­ar­tig anhö­ren, geht das in mei­ner Sicht dar­auf zurück, dass sie die Inte­gra­ti­on der ver­schie­de­nen Bewusst­seins­ebe­nen, die in einer Erzäh­lung zu einem ein­heit­li­chen Gebil­de ver­bun­den wer­den, noch unvoll­kom­men zustan­de brin­gen und dass sie die for­ma­len Ver­fah­ren, die das ermög­li­chen, erst teil­wei­se zu hand­ha­ben ver­ste­hen. Mit ande­ren Wor­ten gehe ich davon aus, dass die Ent­wick­lung der kind­li­chen Erzähl­fä­hig­keit, sozu­sa­gen in Zeit­lu­pe aus­ein­an­der­ge­zo­gen, den glei­chen Wegen folgt, die wir bei der Bil­dung einer Geschich­te durch­lau­fen. Die Stu­fen, über die sich ein Ein­fall oder ein Erleb­nis zu einer Erzäh­lung aus­formt, geben auch in etwa die Pha­sen­fol­ge vor, in der Kin­der in einer über Jah­re sich erstre­cken­den Ent­wick­lung ihre Erzähl­fä­hig­keit aus­bil­den und ver­in­ner­li­chen. Sobald sie erwor­ben sind, ste­hen sie als Instru­men­te bereit, mit denen Geschich­ten nach den kul­tur­üb­li­chen Ver­fah­ren aus­ge­dacht und aus­ge­ar­bei­tet werden.

Es ist fas­zi­nie­rend, dass schon die Anfän­ge kind­li­chen Erzäh­lens durch­sich­tig machen, aus wel­chen Quel­len sich Geschich­ten spei­sen. Die ers­ten Erzäh­lun­gen ver­sprach­lich­ten all­täg­li­che Ver­rich­tun­gen, in die sich unver­mit­telt Sät­ze ein­ge­schnit­ten fan­den, die den Ein­druck traum­ar­ti­ger Phan­ta­sien mach­ten. Ich sehe in die­sem Ein­bruch inne­rer Vor­stel­lungs­bil­der in die Wie­der­ga­be sozia­ler Ver­rich­tun­gen den ent­schei­den­den Hin­weis dar­auf, war­um das außer­or­dent­li­che Ereig­nis Erzäh­lun­gen über­haupt kon­sti­tu­iert und sie erzäh­lens­wert macht: Die Erzäh­lung muss die inne­ren Gestal­tun­gen in der äuße­ren sozia­len Welt zur Gel­tung brin­gen und mit­teil­bar machen. Es sind Wahr­neh­mun­gen der „inne­ren Welt“, die in die sozia­le Außen­welt ein­bre­chen, sich Gehör ver­schaf­fen und mit ihr in Ein­klang gebracht wer­den wol­len. Um mit­teil­bar zu wer­den, müs­sen die­se wider­sprüch­li­chen Ebe­nen der Erfah­rung auf­ein­an­der bezo­gen und mit­ein­an­der ver­bun­den wer­den. Das Erzähl­sche­ma und die pla­nen­de Vor­aus­sicht, die es ver­langt, die­nen letz­ten Endes der Mit­teil­bar­keit der inne­ren Bil­der und Emp­fin­dun­gen, und nur weil sie das leis­ten, bemü­hen sich Kin­der, die Struk­tu­ren, die eine Äuße­rung zur Erzäh­lung machen, sowie die kom­mu­ni­ka­ti­ven Ver­hal­tens­wei­sen, die erzäh­len­des Spre­chen erfor­dert, zu über­neh­men und zu beherrschen.

Die kurz nach dem Sprach­er­werb auf­tau­chen­den kind­li­chen Erzäh­lun­gen mach­ten durch­ge­hend den Ein­druck, sich unge­plant und spon­tan zu erge­ben, indem die lau­fen­den inne­ren Wahr­neh­mun­gen, ob Skript­be­schrei­bun­gen, Erin­ne­run­gen oder Phan­ta­sien unkon­trol­liert wie­der­ge­ge­ben wer­den. Je genau­er die ein­zel­nen Hand­lungs­ele­men­te auf­ein­an­der bezo­gen wer­den, um sich zu einem fort­lau­fen­den Gesche­hen zusam­men­zu­fü­gen, je mehr auch die phan­ta­sier­ten Ein­schü­be in die­ses Gesche­hen ein­ge­glie­dert wer­den sol­len, des­to mehr muss der Auf­bau der Erzähl­hand­lun­gen struk­tu­riert und vor­ge­plant wer­den. Schließ­lich wird eine kom­ple­xe­re Erzäh­lung nur in dem Maße ver­ständ­lich und mit­teil­bar, wie sie geplant und geglie­dert ist, denn nur wo sie den vom Hörer vor­aus­ge­setz­ten Auf­bau zeigt, kann er sei­ne Erwar­tun­gen dar­an aus­rich­ten und sie beim flüch­ti­gen Hören voll­stän­dig aufnehmen.

Die Fähig­keit, Erzähl­hand­lun­gen „rich­tig“ zu struk­tu­rie­ren, lässt sich an zwei Fra­gen abschät­zen: Wie weit sind die Kin­der ers­tens in der Lage, die vom Ope­ra­ti­ons­che­ma gefor­der­ten Bau­ele­men­te zu berück­sich­ti­gen, ihre Geschich­ten also den kul­tur­üb­li­chen Bau­wei­sen anzu­pas­sen, und in wel­chen Stu­fen ler­nen sie ihnen zu ent­spre­chen? Und wie gut gelingt es ihnen zwei­tens, die ein­zel­nen Hand­lungs­tei­le aus­ein­an­der her­vor­ge­hen zu las­sen und zu begrün­den, ihre Erzäh­lung also „kohä­rent“ zu gestal­ten? Bei­de Fra­gen las­sen sich unter dem Gesichts­punkt zusam­men­fas­sen, wie weit es die Kin­der schaf­fen, die Erzäh­lung im Akt des Erzäh­lens zu pla­nen und doch gleich­zei­tig für die Signa­le der Zuhö­ren­den offen zu blei­ben, also die eige­ne Bewusst­seins­tä­tig­keit sowohl auf den Ablauf der Geschich­te wie auf die lau­fen­de Kom­mu­ni­ka­ti­on hin aus­zu­rich­ten. Zwar kann man sys­te­ma­tisch Struk­tu­rie­rung, pla­nen­de Vor­aus­sicht und zusam­men­hän­gen­de Gestal­tung der Erzäh­lung von den kom­mu­ni­ka­ti­ven Ver­stän­di­gun­gen abgren­zen, über die das Erzäh­len erfolgt. Tat­säch­lich sind sie beim münd­li­chen Erzäh­len jedoch unauf­lös­lich mit­ein­an­der ver­quickt: Nur indem die erzäh­len­den Kin­dern ihre Geschich­ten immer bes­ser nach dem vor­ge­se­he­nen Mus­ter aus­rich­ten, kön­nen sie sich dar­über mit­tei­len, und nur indem sie die Signa­le ihrer Zuhö­rer beach­ten, ler­nen sie Erzäh­lun­gen regel­ge­recht auf­zu­bau­en. Vor­aus­schau­en­des Pla­nen und spon­ta­nes Kom­mu­ni­zie­ren müs­sen stän­dig und gleich­zei­tig geleis­tet werden.

Wenn wir die­sen Zusam­men­hang auf­tren­nen und zunächst danach fra­gen, auf wel­che Wei­se Kin­der die im Erzähl­sche­ma vor­ge­se­he­nen Struk­tu­ren zu über­neh­men und anzu­wen­den ler­nen, erhal­ten wir von den Geschich­ten­gram­ma­ti­kern zur Ant­wort: „Schon vom frü­hes­ten Lebens­al­ter an hören wir eine beson­de­re Art von Geschich­ten mit hoch­gra­dig ähn­li­chen Struk­tu­ren und nach und nach bil­den wir eine abs­trak­te Reprä­sen­ta­ti­on die­ser Struk­tur aus“ (Man­dler zit. nach Man­cu­so 1986, S.99). Die sta­ti­sche Aus­rich­tung ihrer Theo­rie ver­lei­tet sie anzu­neh­men, die­ses Sche­ma wer­de von Kin­dern im gan­zen erkannt und ver­in­ner­licht, und sie zei­gen sich des­halb über­zeugt, die meis­ten Men­schen sei­en in der Lage „vor dem Ende des drit­ten Lebens­jah­res die grund­le­gen­den Ele­men­te der Geschich­ten­struk­tur zu gebrau­chen“ (Man­cu­so 1986, S.104).

Wie wir aber gese­hen haben, zei­gen die frü­hen kind­li­chen Erzäh­lun­gen kaum Spu­ren der Geschich­ten, die ihnen erzählt, vor­ge­le­sen oder in Medi­en prä­sen­tiert wer­den. Sie zäh­len All­tags­hand­lun­gen auf oder erin­nern sich an Erleb­nis­se, in die sich unver­mit­telt „unpas­sen­de“ Figu­ren, Hand­lun­gen oder Ereig­nis­se ein­ge­reiht fin­den, Sprach­äu­ße­run­gen, wie sie die Kin­der von ihren Bezugs­per­so­nen nicht zu hören bekom­men. Den­noch ent­hal­ten sol­che Äuße­run­gen prin­zi­pi­ell zwei ent­schei­den­de Struk­tur­ele­men­te der Sto­ry­grammar: die „Nor­ma­li­tät“ des anfäng­li­chen Zustan­des und den Ein­bruch des „Außer­ge­wöhn­li­chen“. Sobald ein Prot­ago­nist dazu­kommt und die Äuße­run­gen auf­ein­an­der bezo­gen wer­den, haben wir schon die Mini­mal­for­de­rung der Geschich­ten­gram­ma­ti­ker erfüllt, nach der eine Geschich­te „wenigs­tens einen beleb­ten Prot­ago­nis­ten und eine Art kau­sa­ler Fol­ge ein­schließt“ (Stein/Policastro, zitiert nach Man­cu­so 1986, S.93).

Gegen eine Über­nah­me des vor­ge­ge­be­nen Sche­mas spricht zwei­tens, dass zwar auch kind­li­che Erzäh­lun­gen schon ein über­ra­schen­des Ereig­nis benen­nen, in den ers­ten Erzähl­ver­su­chen eben in Form der in die All­täg­lich­keit ein­bre­chen­den Phan­ta­sie, dass jedoch voll­stän­di­ge Struk­tu­ren, die auf die siche­re Anwen­dung des Ope­ra­ti­ons­sche­mas schlie­ßen las­sen, zunächst eher gele­gent­lich und zufäl­lig auf­tre­ten. Es ist näm­lich kei­nes­wegs so, dass Kin­der von einem bestimm­ten Augen­blick an gene­rell voll­stän­di­ge­re Geschich­ten erzäh­len, wie es doch der Fall sein wür­de, wenn sie den Bau­plan ins­ge­samt zu einem bestimm­ten Zeit­punkt ver­in­ner­licht hät­ten. Obwohl die Erzäh­lun­gen mit stei­gen­dem Alter im Durch­schnitt voll­stän­di­ger wer­den, die Aus­ein­an­der­set­zung ihres Hel­den mit dem ein­bre­chen­den Ereig­nis genau­er ent­wi­ckeln und dann auch leich­ter zu einem Schluss­punkt fin­den, las­sen sich den­noch kaum ver­läss­li­che Alters­an­ga­ben oder Pha­sen­fol­gen beschrei­ben, nach denen sich die ver­bes­ser­te Struk­tu­rie­rung aus­rich­ten wür­de. Kin­der kön­nen gele­gent­lich sehr früh Geschich­ten prä­sen­tie­ren, die alle wesent­li­chen Bestand­tei­le berück­sich­ti­gen, und sich im nächs­ten Ver­such in der Abfol­ge ver­hed­dern, Tei­le durch­ein­an­der­lau­fen las­sen und dann allen­falls noch zu einem auf­ge­setz­ten Schluss-Satz fin­den. Ich mei­ne des­halb, dass die Grund­bau­stei­ne, aus denen sich eine Geschich­te auf­baut, nicht gelernt wer­den müs­sen: Sie ent­ste­hen mit dem wach­sen­den Bewusst­wer­den der mensch­li­chen Innen­welt. Sie tre­ten natur­wüch­sig auf, sobald die inne­ren Vor­stel­lun­gen in erzäh­len­der Rede ver­sprech­licht wer­den. Die phan­tas­ti­schen Ein­schü­be in erin­ner­te sozia­le Hand­lun­gen erge­ben so etwas wie eine Vor­form des unge­wöhn­li­chen Ereig­nis­ses, und damit ist die Dyna­mik in Gang gesetzt, die das Erzäh­len antreibt und in Gang hält. Die über­ra­schen­den Mischun­gen von All­täg­lich­keit und Phan­ta­sie bil­den die Ker­ne, aus denen sich all­mäh­lich voll­stän­di­ge­re Geschich­ten entwickeln.

Auch im wei­te­ren Ver­lauf rich­ten sich die kind­li­chen Erzäh­lun­gen kaum an den Vor­bil­dern aus, die ihnen die Umge­bung bie­tet. Es macht viel­mehr den Ein­druck, als hin­ge die gelun­ge­ne Durch­struk­tu­rie­rung und die Beach­tung der Erzähl­re­geln von der jewei­li­gen Erzähl­si­tua­ti­on ab, von den Anre­gun­gen und von der Unter­stüt­zung, die die Kin­der durch die Zuhö­rer im Moment des Erzäh­lens erfah­ren. Es sind ja zunächst vor allem die erwach­se­nen Bezugs­per­so­nen, die das Publi­kum kind­li­cher Erzäh­lun­gen stel­len und die, wie wir gese­hen haben, die tas­ten­de Erzähl­wei­se durch Nach­fra­gen prä­zi­sie­ren und durch Zusät­ze ergän­zen, schließ­lich auch dazu auf­for­dern, die Erzäh­lung zu wie­der­ho­len. Aber selbst wo sie nicht ein­grei­fen, ver­hal­ten sie sich nach den Regeln des gesprächs­wei­sen Erzäh­lens, das den Zuhö­rern einen beträcht­li­chen Ein­fluss auf Fort­gang und Aus­ge­stal­tung der Erzäh­lung zuge­steht. Über die­se Erfah­run­gen dürf­ten Kin­der immer genau­er die ver­bind­li­chen Struk­tu­ren von Geschich­ten durch­schau­en, dar­aus Erwar­tun­gen ihrer Zuhö­rer ablei­ten und ihnen zu ent­spre­chen ver­su­chen. Und je aus­gie­bi­ger ihre Erzähl­freu­de im fami­liä­ren und sozia­len Milieu ange­regt wird, des­to frü­her und des­to siche­rer wer­den sie ler­nen, voll­stän­di­ge Geschich­ten zu kon­stru­ie­ren. Es ist also eher die in der Erzähl­si­tua­ti­on gege­be­ne Anre­gung, die die Beach­tung des Sche­mas sti­mu­liert, und es dürf­te das Inter­es­se des erzäh­len­den Kin­des sein, sich ver­ständ­lich zu machen, das es dazu führt, den Erwar­tun­gen der Zuhö­ren­den zu ent­spre­chen und die Erzäh­lung zu struk­tu­rie­ren und vor­aus­zu­pla­nen, sich die erzähl­ten Hand­lun­gen immer genau­er vor­zu­stel­len und aus­zu­phan­ta­sie­ren. In ver­gleich­ba­rer Wei­se wer­den die ers­ten Spiel­ak­te zufäl­lig von Gegen­stän­den und Hand­lun­gen ange­sto­ßen, mit wach­sen­der Spiel­fä­hig­keit exak­ter vor­ge­stellt und nach der inne­ren Vor­stel­lung aus­ge­führt, bis über die wach­sen­de und kom­ple­xe­re Spiel­tä­tig­keit die inne­re Vor­stel­lung zum aus­schließ­li­chen Regis­seur des Spiels wird.

Die Ele­men­te des Erzähl­sche­mas stel­len nur das Ras­ter dar, das durch detail­lier­te­re Dar­stel­lung aus­ge­füllt wer­den muss. Dass eine Erzäh­lung struk­tur­ge­recht auf­ge­baut wird, erfüllt nur eine Bedin­gung ihrer Erzähl­bar­keit. Dazu kommt als zwei­te Bedin­gung, wie über­zeu­gend der phan­tas­ti­sche Ein­fall oder das über­ra­schen­de Ereig­nis mit der all­täg­li­chen Wahr­schein­lich­keit ver­wo­ben wird, ob und in wel­cher Genau­ig­keit es gelingt, die Hand­lungs­ele­men­te aus­ein­an­der her­vor­ge­hen zu las­sen und damit die inne­re „Kohä­renz“ der Erzähl­hand­lun­gen zu sichern. Oder wie sich auch for­mu­lie­ren lie­ße: Nach­dem die im Ope­ra­ti­ons­sche­ma vor­ge­se­he­nen Bau­ele­men­te plat­ziert sind, machen sich die Kon­struk­teu­re an die Fein­ar­beit, die die gan­ze Kon­struk­ti­on wie aus einem Guss wir­ken las­sen. Auf der Ebe­ne der Hand­lungs­fol­ge geht es dar­um, jeden ein­zel­nen Schritt als die unaus­weich­li­che Fol­ge des vor­her­ge­hen­den Schrit­tes erschei­nen zu las­sen, die Hand­lun­gen als inein­an­der­grei­fen­de Ket­ten­glie­der dar­zu­stel­len. Da das ent­schei­den­de, die Erzäh­lung begrün­den­de Glied stets ein „Fremd­kör­per“ sein muss, geht es zugleich dar­um, das über­ra­schen­de Ereig­nis, das unwahr­schein­li­che Ver­hal­ten in den gere­gel­ten Lauf der Din­ge ein­zu­glie­dern. Oder wenn ich die­sen „Fremd­kör­per“ als Ein­bruch psy­chi­scher Bil­der in den gesell­schaft­li­chen All­tag begrei­fe, kann ich sagen, es gehe dar­um, sie in die Welt der sozia­len Wahr­neh­mung einzufügen.

Da Kin­der situa­ti­ons­be­zo­gen erzäh­len, Hand­lun­gen und Ereig­nis­se noch weit­ge­hend spon­tan und unge­plant impro­vi­sie­ren, gelingt es ihnen zunächst nur sel­ten, die ein­zel­nen Sze­nen ihrer Erzäh­lung zu einer kon­se­quen­ten Hand­lungs­fol­ge zu ver­bin­den. Sie bewei­sen jedoch gro­ße Geschick­lich­keit, auf­tau­chen­de Wider­sprü­che nach­träg­lich zu glät­ten oder Lücken spon­tan aus­zu­fül­len, und ver­mut­lich ant­wor­ten sie damit auf Signa­le, die ihnen die Zuhö­rer ent­ge­gen­brin­gen, und zei­gen zugleich, dass es ihnen bewuss­ter zu wer­den beginnt, wie eine „rich­ti­ge“ Geschich­te gebaut sein muss.

„Ganz am Anfang geht es erst dar­um, da war ein gro­ßes Schiff. Es war rund und dann leb­ten da auf ihm fünf Leu­te. Und dann gin­gen sie ins Bett und lie­ßen das Fett auf dem Ofen und das Schiff brann­te aus. Sie fie­len alle ins Was­ser und wur­den von einem Wal ver­schluckt“. Erst nach­dem sei­ne Matro­sen im Maul des Wal­fi­sches sit­zen, sucht der fast fünf­jäh­ri­ge Erzäh­ler nach einer Mög­lich­keit, sie wie­der dar­aus zu befrei­en. Und dann hat­ten sie da, bevor sie ins Was­ser spran­gen, einen Stock, mit dem Stock schlu­gen sie dem Wal auf den Rachen. Und weißt du, was dann pas­sier­te? Dann waren sie frei und spran­gen aus dem Maul des Wales raus“. Die zu kurz grei­fen­de Pla­nung hin­dert ihn dar­an, ihnen das Instru­ment ihrer Ret­tung recht­zei­tig in die Hand zu drü­cken. Den Kauf des Haus­boo­tes über­lässt er dann ganz dem Segen des Him­mels, statt ihn bei­spiels­wei­se durch ein vor­bei­flie­gen­des Flug­zeug zu begrün­den, des­sen Pilot das Geld aus der Tasche fällt, oder mit einer Möwe, die das glit­zern­de Geld­stück im Schna­bel hält und ver­liert. „Und dann kamen sie aus dem Was­ser hoch und sie fan­den ein neu­es Boot und sie fan­den ein Geld­stück am Him­mel und sie fin­gen es, als es run­ter­fiel, und sie bezahl­ten das Haus­boot und sie lie­ßen nie wie­der das Fett auf dem Ofen und den Ofen an“ (Pitcher/Prelinger 1962, s.94). Der Erzäh­ler zeigt sich aber dann doch geschickt genug, auch nach die­sem Bruch zu einem soli­den Schluss zu fin­den, indem er den Anfang wie­der auf­nimmt und die Geschich­te damit abrundet.

Wo sie nicht ein­sam vor einem Publi­kum erzäh­len, son­dern in der ihnen ver­trau­ten Situa­ti­on des Gesprächs, kön­nen Kin­der die spon­ta­nen Ein­fäl­le, die ihnen beim Erzäh­len kom­men, recht pro­blem­los in ihre Geschich­ten ein­glie­dern, und bemer­ken Brü­che und Wider­sprü­che wäh­rend des Erzäh­lens an den offe­nen oder ver­deck­ten Reak­tio­nen des Zuhö­rers. Die fünf­jäh­ri­ge Jen­ny hat­te dem Vater ange­kün­digt, eine Geschich­te zu erzäh­len von Kin­dern, die an einem Tag ganz böse und am nächs­ten die liebs­ten Kin­der von der Welt sei­en. Ihre Bos­heit bestand dar­in, dass sie sich heim­lich Süß­kram aus der „Nasch­kis­te“ klauten.

„J: ….aber die Mut­ter wuss­te das, weißt du woher?
V: Nee.
J: Weil sie in der Nacht dann den Süß­kram aus­ge­kotzt hat­ten, weil sie zu viel geges­sen haben.
V: Das war aber doch erst in der Nacht danach. Also die Mut­ter hat das dann in der Nacht ent­deckt, als sie zurück­kam, wuss­te sie es noch nicht, oder doch?
J: Nee, nur in der Nacht.
V: Und was hat sie gemacht, als sie zurück­kam?
J: Da hat se’s auch noch gese­hen, weil die Nasch­kis­te, nee, am Tage hät­te sie’s auch noch gese­hen, ja?
V: Ja, mhm.
J: Weil die Nasch­kis­te offen auf’m Tisch war, ja?“ (Par­men­tier 1989, S.39).

Vor­schul­kin­der machen den Ein­druck, als sei­en sie noch kaum imstan­de, ihre Auf­merk­sam­keit auf bei­de Gesichts­punk­te zu rich­ten, die der Erzäh­ler stets gleich­zei­tig zu berück­sich­ti­gen hat: einer­seits die über­sicht­li­che Struk­tu­rie­rung der Gesamt­hand­lung und ande­rer­seits die genaue Aus­ge­stal­tung und Ver­knüp­fung der ein­zel­nen Hand­lungs­tei­le. Ich neh­me an, dass bei­de Anfor­de­run­gen auch des­halb so schwer zu koor­di­nie­ren sind, weil die Struk­tu­rie­rung der Bau­ele­men­te von sprach­li­chen Ope­ra­tio­nen abhängt, wäh­rend die Fol­ge­rich­tig­keit inner­halb der ein­zel­nen Sze­ne über die bild­haf­te Vor­stel­lung vor­ge­nom­men wer­den dürf­te. Es ist jeden­falls auf­fäl­lig, dass es gera­de die knap­pen, sze­nisch und sprach­lich wenig aus­ge­stal­te­ten Erzäh­lun­gen sind, die am ehes­ten voll­stän­dig durch­struk­tu­riert wer­den, wie die Geschich­te, die sich der gleich­alt­ri­ge Natha­ni­el aus­dach­te: „Zwei klei­ne Jun­gen gin­gen mit ihrer Mut­ter und ihrem Vater in den Dschun­gel. Tiger mit leuch­ten­den Augen. ‚Ich bin ein guter Tiger und will euch für mein Baby mit nach Hau­se neh­men, damit es mit euch spie­len kann. Wenn ihr Hun­ger habt, sagt es mir und ich wer­de euch was zu essen geben.‘ Da sag­ten sie: ‚Löwe, ich bin hung­rig.‘ Da ging er raus und erwisch­te eine tote Maus. Und sie sag­ten: ‚Ich mag kei­ne tote Maus.‘ Da brach­te er den klei­nen Jun­gen nach Haus. Und Mama sag­te: ‚Geh ins Bett!‘ Da gin­gen der Jun­ge und das Mäd­chen ins Bett“ (Pitcher/Prelinger 1962, S.86).

Sobald die Hand­lun­gen sprach­lich detail­lier­ter aus­fal­len und wohl auch stär­ker aus­agiert wer­den, wor­auf die aus­führ­li­che­ren direk­ten Reden hin­deu­ten, schaf­fen es die Erzäh­len­den bis zum Alter von sechs oder sie­ben Jah­ren nur in Aus­nah­me­fäl­len, eine geord­ne­te Abfol­ge der Bau­tei­le sicher­zu­stel­len und zu einem schlüs­si­gen Ende zu fin­den. Es ist, als ob die Reich­wei­te der Plan­bar­keit noch begrenzt wäre, die detail­lier­te Aus­ge­stal­tung der Ein­zel­sze­nen die Auf­merk­sam­keit vom Pla­nungs­pro­zess abzie­hen wür­de, beim Erzäh­len auf­tau­chen­de Ein­fäl­le von der ein­ge­schla­ge­nen Linie ablenk­ten und sich die Erzäh­lung auf die­se Wei­se auf Neben­we­gen verirrte.

Die Inte­gra­ti­on von All­tags­er­fah­rung und Phantasie

Wenn Kin­der ver­hält­nis­mä­ßig lan­ge brau­chen, bis ihnen die for­ma­len Mus­ter und Ver­fah­rens­wei­sen, die das Erzäh­len ver­langt, voll­stän­dig zur Ver­fü­gung ste­hen, dann liegt das nur vor­der­grün­dig dar­an, dass sie noch nicht fähig wären, die­se Regel­sys­te­me zu durch­schau­en und anzu­wen­den. Solan­ge man nur die sprach­li­chen Struk­tu­ren betrach­tet, wird man kaum ver­ste­hen kön­nen, war­um Erzähl­sche­ma und nar­ra­ti­ves Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ver­hal­ten sich über so lan­ge Zeit­räu­me hin­weg aus­bil­den, wäh­rend doch die gleich­falls hoch­kom­pli­zier­ten Sprach­struk­tu­ren, die dem all­täg­li­chen „instru­men­tel­len“ Spre­chen die­nen, recht rasch und recht gut über­nom­men wer­den. Sowohl das Erzähl­sche­ma wie die zusam­men­hän­gen­de und sze­nisch aus­ge­ar­bei­te­te Dar­stel­lung sind eben mehr als for­ma­le Rege­lun­gen: Sie die­nen der Inte­gra­ti­on der bei­den Bewusst­seins­schich­ten, die in einer Geschich­te auf­ein­an­der bezo­gen und mit­ein­an­der ver­bun­den wer­den, und es ist die­se Inte­gra­ti­on, die Schwie­rig­kei­ten bereitet.

Die kind­li­chen Erzäh­ler kämp­fen sicht­lich immer wie­der damit, die in der Erzäh­lung auf­tau­chen­den Ebe­nen ihrer Erfah­rung mit­ein­an­der in Ein­klang zu brin­gen, die All­tags­wahr­neh­mun­gen und erin­ner­ten Erleb­nis­se mit ihren Phan­ta­sie­ge­stal­tun­gen zu einem kon­se­quen­ten und zusam­men­hän­gen­den Gebil­de zu ver­bin­den. Wir haben gese­hen, dass die ers­ten erzäh­len­den Äuße­run­gen bei­de Sphä­ren der Erfah­rung unver­mit­telt neben­ein­an­der setz­ten, und sie zei­gen dabei ein recht ein­heit­li­ches Bild. Die Erzäh­lun­gen der Vier- oder Fünf­jäh­ri­gen fal­len dage­gen recht unter­schied­lich aus. Gelin­gen oder Schei­tern hängt aber offen­bar nicht an einer mehr oder weni­ger geschul­ten for­ma­len Erzähl­fä­hig­keit, denn Erzäh­lun­gen des­sel­ben Kin­des kön­nen in einem Fall schon eine vor­bild­li­che Form errei­chen und bei der nächs­ten Gele­gen­heit wie­der in wider­sprüch­li­che Äuße­run­gen oder gar in lose Anein­an­der­rei­hun­gen zurück­fal­len. Alle Erzäh­ler ver­su­chen nun zwar in der einen oder andern Wei­se, Wunsch­vor­stel­lun­gen und Ängs­te in die gewohn­te Umwelt zu ver­pflan­zen, oder umge­kehrt Phan­ta­sien mit Par­ti­keln der All­tags­wahr­neh­mung zu ver­ge­gen­ständ­li­chen, es gelingt ihnen aber meist nur ansatz­wei­se. Die form­ge­recht gebau­ten Geschich­ten sind fast durch­weg auch die­je­ni­gen, die Phan­ta­sie und sozia­le Erfah­rung am geschick­tes­ten zu inte­grie­ren ver­ste­hen, und umge­kehrt wei­sen die for­ma­len Brü­che und Inkon­se­quen­zen auf die miss­glü­cken­de Ver­bin­dung die­ser Erfah­rungs­ebe­nen hin.

Die vier­jäh­ri­ge Chloe zum Bei­spiel ver­liert den Faden ihrer Geschich­te, indem sie sich nicht zwi­schen einer fik­tio­na­len Geschich­te und einer Erin­ne­rung an einen Restau­rant­be­such ent­schei­den kann. Mit dem Ein­stieg: „Es war ein­mal ein klei­nes Mäd­chen, das zu einem Restau­rant spa­zier­te“, dürf­te die Erzäh­le­rin vor­ge­habt haben, den eige­nen Restau­rant­be­such an ihrer Prot­ago­nis­tin nach­zu­er­le­ben, aber dann bricht sich schon mit dem zwei­ten Satz ihr Erleb­nis Bahn und ver­drängt die fik­ti­ve Hel­din. „Und ich wuss­te schon, was ich zum Essen haben woll­te. Ich setz­te mich hin und wuss­te nicht, was ich tun soll­te, des­we­gen ging ich und ging und ich wuss­te es nicht. Des­we­gen nahm mich mei­ne Mut­ter aus dem Restau­rant raus und ging mit mir ins Auto und ließ mich da, sie wuss­te auch nichts zu tun und hol­te mich raus und ging wie­der rein, dann kam die Bedie­nung und frag­te: ‚Was wün­schen Sie zu essen?'“ Mit dem Wech­sel in die drit­te Per­son, die sich für Kin­der mit Fik­ti­vi­tät ver­bin­det – fik­ti­ve Erzäh­lun­gen erschei­nen so gut wie nie in der ers­ten Per­son – , kün­digt die Erzäh­le­rin an, dass sie sich auf ihre ursprüng­li­che Absicht zurück­be­sinnt, die dann im letz­ten Abschnitt zu einer frei phan­ta­sier­ten Epi­so­de führt. „Dann gin­gen sie und aßen das Essen. Sie gin­gen mit dem klei­nen Mäd­chen nach Hau­se, so dass wir alle Essen gehabt hat­ten und nach Hau­se gin­gen. Eines Tages wach­te das klei­ne Mäd­chen auf und ging vor­sich­tig aus dem Bett und zog ihre Jacke an. Sie ging ganz früh in der Nacht aus dem Zim­mer, als nie­mand sie sah. Dann ging sie nach drau­ßen und nahm ein klei­nes Fahr­rad und fuhr weit weg in die Wüs­te. Als sie einen Ara­ber sah, rann­te sie weg“ (Pitcher/Prelinger 1962, S.95).

Eine Erzäh­lung des fünf­jäh­ri­gen Alan setzt mit einem phan­tas­ti­schen Pau­ken­schlag ein: „Als ich zu Hau­se war, schau­te ich ins Klo­sett und sah einen rie­sig gro­ßen Bären“. Es ist der Ein­bruch von Phan­ta­sie­fi­gu­ren in die All­tags­welt, wie ihn schon so vie­le Erzäh­lun­gen der Zwei- und Drei­jäh­ri­gen vor­führ­ten, ohne eine Ver­bin­dung mit ihrer all­täg­li­chen Lebens­welt her­zu­stel­len. Alan sucht nun aber die gefähr­li­che Ent­de­ckung in sei­nen All­tag her­ein­zu­ho­len, reprä­sen­tiert der Bär doch auch ein alter Ego, das ihn selbst mäch­ti­ger und gefähr­li­cher macht. Dazu müss­te er aber auf der vor­der­grün­di­gen Hand­lungs­ebe­ne die Kon­flik­te aus­phan­ta­sie­ren, die das bedroh­li­che Tier in sei­ner Umge­bung aus­lö­sen wür­de, und auf der psy­chi­schen Ebe­ne sich mit sei­ner eige­nen gefähr­li­chen Natur kon­fron­tie­ren. Er scheut bei­des, degra­diert sei­nen gefürch­te­ten Freund zu einem Kuschel­tier und muss des­halb, wie­der­um ganz in der Art der ers­ten Erzäh­lun­gen, in eine blo­ße Auf­zäh­lung von All­tags­ver­rich­tun­gen abglei­ten. „Ich behan­del­te ihn wie einen net­ten klei­nen Bären. Wir gin­gen oft zusam­men in den Park. Wir schlie­fen zusam­men und wir aßen zusam­men. Am nächs­ten Mor­gen schau­ten wir zusam­men ein Buch an, und dann hal­fen wir mei­nem Vater, das Haus anzu­strei­chen. Im nächs­ten Win­ter war Weih­nach­ten, und ich bekam eine neue Jacke. Mein Ted­dy­bär bekam einen Baby­ted­dy­bä­ren, und sie leb­ten glück­lich zusam­men. Ende“ (Sut­ton-Smith 1981, S.126).

Es ist offen­sicht­lich für Kin­der die­ses Alters nicht ein­fach, einen phan­tas­ti­schen Ein­fall kom­pro­miss­los mit der sozia­len Erfah­rung zu kon­fron­tie­ren, die­se Kon­fron­ta­ti­on kon­se­quent durch­zu­spie­len und zu einem kla­ren Abschluss zu brin­gen. Wie­der­um scheint die Ver­schmel­zung von Phan­ta­sie und All­tags­wahr­neh­mung am ehes­ten dort zu glü­cken, wo die Erzäh­lung knapp und über­sicht­lich gehal­ten wer­den kann, wie in der Geschich­te der fast sechs­jäh­ri­gen Tra­cy: „Da war ein Jun­ge, der hieß Jon­ny Hong­kong, und als er grö­ßer wur­de und zur Schu­le ging, da mach­te er nichts mehr, hock­te nur den gan­zen Tag her­um und dach­te nach. Er ging kaum ein­mal ins Bade­zim­mer. Und er dach­te jeden Tag nach, und bei jedem Gedan­ken, den er dach­te, wur­de sein Kopf grö­ßer und grö­ßer. Eines Tages wur­de er so groß, dass er mit Kof­fern und Win­ter­klei­dern im Hof leben muss­te. Des­we­gen kauf­te sei­ne Mut­ter eini­ge Gold­fi­sche und ließ sie in sei­nem Kopf leben – er ver­schluck­te sie -, und jedes Mal, wenn er nach­dach­te, wür­de der Fisch es auf­fres­sen, bis er gera­de wie­der so war, dass er nicht wie­der nach­dach­te, und er fühl­te sich viel bes­ser“ (Pitcher/Prelinger 1962, S.133).

Die Erzäh­le­rin spart sich ablen­ken­de Details oder aus­schmü­cken­de Erwei­te­run­gen, wir erfah­ren nichts über die Gedan­ken, die den miss­han­del­ten Kopf des Hel­den anschwel­len las­sen, noch wer­den die Reak­tio­nen der besorg­ten Mut­ter aus­ge­malt, über­haupt ent­hält sich die Erzäh­le­rin jeder direk­ten Rede. Sie schafft es wohl auch des­halb, ihre Erzäh­lung geschlos­sen und kon­se­quent zum Abschluss zu brin­gen, muss dazu aber auf ein Gestal­tungs­mit­tel ver­zich­ten, das ihren Ein­fall noch plas­ti­scher und über­zeu­gen­der in die Welt der gewohn­ten Hand­lungs­mus­ter ein­zu­pas­sen erlaubt hät­te. Ich rede von der „sze­ni­schen Dar­stel­lung“, die das Gesche­hen „aus der Erle­bens­per­spek­ti­ve einer der an der Geschich­te Betei­lig­ten ver­sprach­licht“ (Hausendorf/ Quast­hoff 1996, S.23).

Die sze­ni­sche Aus­füh­rung der Erzählung

Uta Quast­hoff unter­schei­det zwi­schen dem „Dis­kurs­mus­ter“ des beschrei­ben­den Berich­tens auf dem einen Ende einer Ska­la von Dar­stel­lungs­for­men, an des­sen ande­rem Ende die teil­neh­men­de Aus­ge­stal­tung liegt. Der Erzäh­ler wäh­le bei der Wort­wahl sei­nes Erzähl­tex­tes auf die­ser Ska­la aus, wel­che Form sprach­li­cher Dar­stel­lung sei­nen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­zie­len am bes­ten gerecht wer­de (Quast­hoff 1977, S.320). Sie sie­delt auf die­ser soge­nann­ten „Infor­ma­ti­ons­py­ra­mi­de“ nur sprach­li­che Alter­na­ti­ven an, wie etwa die indi­rek­te oder die direk­te Rede einer betei­lig­ten Figur. Die im Wort­sinn „sze­ni­schen“ Mit­tel ges­ti­scher und schau­spie­le­ri­scher Dar­stel­lung wer­den über­gan­gen. Das Kon­zept ruft nach die­ser Erwei­te­rung, und wir kön­nen dann sagen, der Erzäh­ler müs­se in jedem Moment der lau­fen­den Erzäh­lung den Grad an sprach­li­cher und ges­ti­scher Detail­liert­heit aus­wäh­len, der ihm im Zusam­men­hang der Erzäh­lung wie von den Reak­tio­nen sei­nes Publi­kums her ange­mes­sen erscheint.

In einer mit Hei­ko Hau­sen­dorf durch­ge­führ­ten Unter­su­chung wur­de ein Vor­fall gestellt, den sich die Unter­su­cher dann von betei­lig­ten Kin­dern wie­der­ge­ben lie­ßen, den Wort­laut fest­hiel­ten und aus­wer­te­ten. Ein Ergeb­nis scheint mir hier von Inter­es­se: Sie stell­ten fest, dass die sze­ni­sche Aus­ar­bei­tung der Erzähl­tex­te in der Grup­pe der Sie­ben­jäh­ri­gen plötz­lich deut­lich gegen­über den Fünf­jäh­ri­gen anstieg und dass gleich­zei­tig die erwach­se­nen Unter­su­cher, die den Kin­dern gegen­über als Unbe­tei­lig­te auf­tra­ten, ihre Erwar­tun­gen an eine detail­lier­te „Ela­bo­rie­rung“ stei­ger­ten. Die­ses Ergeb­nis ist wie­der­um mit einer gewis­sen Vor­sicht zu betrach­ten, da der Erzähl­an­lass – ein her­un­ter­ge­fal­le­ner Kas­set­ten­re­cor­der und eine dar­an anschlie­ßen­de Aus­ein­an­der­set­zung der bei­den Hilfs­kräf­te, ob man das Miss­ge­schick dem Unter­su­chungs­lei­ter ver­ra­ten sol­le – die Erzähl­lust der betei­lig­ten Kin­der nicht gera­de her­aus­for­der­te. Sie erzähl­ten dann auch kaum von sich aus, son­dern auf Nach­fra­gen der Unter­su­cher, die gesam­te Situa­ti­on ent­fernt sich damit weit vom spon­ta­nen Erzäh­len, bei dem Kin­der vor einer anre­gen­den Zuhö­rer­schaft gele­gent­lich schon längst vor dem sieb­ten Lebens­jahr ihre Erzäh­lun­gen sze­nisch aus­füh­ren kön­nen. Den­noch dürf­te es zutref­fen, dass etwa ab die­ser Alters­stu­fe die sze­nisch-dra­ma­ti­sche Aus­ge­stal­tung zunimmt, bewuss­ter gesucht und wahr­ge­nom­men wird. Ich möch­te die­se Beob­ach­tung aber dar­auf zurück­füh­ren, dass die gemein­sa­men Rol­len­spie­le der Vor­schul­zeit an Beliebt­heit ver­lie­ren und das sprach­lich-ges­ti­sche Erzäh­len an Bedeu­tung gewinnt. Mit der „sze­ni­schen Ela­bo­rie­rung“ wird die im Rol­len­spiel aus­ge­bil­de­te Fähig­keit dar­stel­len­den Spie­lens in die Erzäh­lung ein­ge­glie­dert, die sprach­li­che Dar­stel­lung über­nimmt nun die Füh­rung gegen­über dem Spiel, die aus­ge­spiel­te Rol­le ver­kürzt sich auf direk­te Reden und ges­tisch-mimi­sche Zeichen.

Die Erzäh­le­rin der fol­gen­den Geschich­te dürf­te in ihrer Sprach­ge­wandt­heit vie­len Gleich­alt­ri­gen vor­aus sein, zumal sie ihre Erzäh­lun­gen auf ein Kas­set­ten­ge­rät sprach und des­halb auf die leben­di­ge Rück­mel­dung und Anre­gung durch Zuhö­rer ver­zich­ten muss­te. Sie schafft aber eigent­lich nur, was weni­ger Sprach­be­gab­te ein oder zwei Jah­re spä­ter meis­tern, indem sie ihre Spiel­fä­hig­keit in die sprach­li­che Insze­nie­rung überführen.

„Gehei­mad­ler­chen ging ein­mal durch den Urwald, und dann woll­te er nach Afri­ka, jaja, dann flog er auch wirk­lich dahin, da kam ein Löwe und jag­te ihn, und Gehei­mad­ler­chen rann­te so schnell er konn­te. ‚Ich wuss­te ja nicht‘, sag­te er, ‚dass der Löwe so schnell lau­fen konn­te, so schnell lau­fen kann‘, und er rann­te und rann­te so schnell er konn­te, dann husch­te er auf eine Pal­me. Der Löwe rann­te um die Pal­me rum, weil er dach­te, er jagt noch den Adler. Und dann wur­de ihm klar, er war auf die Pal­me gehuscht. Brrrr, der Löwe brüll­te mit Kraft und sprang auf die Pal­me, Gehei­mad­ler­chen war unten. Dann wur­de dem Löwen klar, dass Gehei­mad­ler­chen unten war, und dann ging es immer zick zack, zick zack, nach oben und unten, oben-unten, oben-unten, oben-unten und immer an der­sel­ben Stel­le. Ein­mal der Löwe drauf, ein­mal Gehei­mad­ler­chen, weil dem Löwen das immer klar wur­de, dass Gehei­mad­ler­chen nicht da war, wo der Löwe war. Und dann wur­den sie Freun­de, weil der Löwe so aus der Pus­te war. Dann hat Gehei­mad­ler­chen den Löwen mitgenommen.“

Offen­bar kon­zen­triert sich die Erzäh­le­rin in die­ser Pas­sa­ge auf die Insze­nie­rung der Ver­fol­gungs­jagd, die ihr mit erstaun­li­cher sprach­li­cher Geschick­lich­keit und einem genau­en Sinn für die dra­ma­ti­sche Span­nung gelingt, und die sie zugleich mit Laut­ges­ten illus­triert. Sie ver­säumt im Eifer des Gefechts aber, die Kon­tra­hen­ten in nach­voll­zieh­ba­ren Schrit­ten mit­ein­an­der zu ver­söh­nen. Erst beim Erzäh­len wird ihr klar, dass sie die Ver­fol­gungs­jagd zu einem Abschluss zu brin­gen hat, und sie zau­bert kur­zer­hand eine Freund­schaft aus dem Hut, ohne sie in der vor­an­ge­hen­den Hand­lung anzu­le­gen. Um die auf­ein­an­der fol­gen­den Hand­lungs­tei­le genau zu moti­vie­ren, müss­te die Erzäh­le­rin den gesam­ten Hand­lungs­ab­lauf über­bli­cken, und den ver­liert sie über der sprach­li­chen Detail­lie­rung offen­bar immer wie­der aus den Augen.

Wenn sie in der nächs­ten Epi­so­de dann die uner­war­te­te Freund­schaft zwi­schen Adler­chen und Löwe aus­phan­ta­siert, beschäf­tigt sie sich so sehr mit Rede und Gegen­re­de der bei­den, dass ihr auch hier kaum Raum mehr bleibt, die struk­tu­rel­len Anfor­de­run­gen der Erzäh­lung zu berücksichtigen.

„Nach so vie­len Tagen und Näch­ten plötz­lich war der Löwe eines Nachts weg. Er saß im Gefäng­nis, das wuss­te natür­lich kei­ner. Gehei­mad­ler­chen mach­te das Gefäng­nis auf, und der Löwe sprang raus mit ihm zusammen.

‚Vor­sicht! Nicht so, du tust dir weh! Du wirst schwin­de­lig, dir wird schlecht.‘.

‚Aha‘, sag­te der Löwe.

‚Komm, wir neh­men die­se lan­ge Lei­ter, hopp hopp. Nein, wir flie­gen zusam­men. War­te, ich hab noch ein Netz.‘

‚Wofür?‘

‚Um dich zu tra­gen, hab ich Sei­le.‘ Und er nahm die Sei­le fest in die Kral­len und sie flo­gen nach unten. Dann gin­gen sie wei­ter“ (Das Bei­spiel wur­de mit freund­li­cher Geneh­mi­gung von Hel­ga Böving zur Ver­fü­gung gestellt).

Die gan­ze Pas­sa­ge wirkt nicht zufäl­lig wie eine Rol­len­spiel­se­quenz, die, vom dar­stel­len­den Spie­len abge­löst, nur noch die Wech­sel­re­den der Spie­ler wie­der­gibt. Auch in die­ser zwei­ten Epi­so­de weicht die Erzäh­le­rin dem in ihrer Geschich­te ange­leg­ten Kon­flikt aus: Wäh­rend sie vor­her das Umschla­gen der Ver­fol­gung in die Freund­schaft über­geht, wird jetzt die Fra­ge, war­um der Löwe ins Gefäng­nis geriet und wer ihn ein­sperr­te, kur­zer­hand ausgeblendet.

Kon­flikt­füh­rung kind­li­cher Erzählungen

Ich habe das die Erzäh­lung aus­lö­sen­de über­ra­schen­de Ereig­nis dar­auf zurück­ge­führt, dass Wahr­neh­mun­gen der psy­chi­schen Innen­welt in die sozia­le Welt ein­bre­chen und es gera­de die Struk­tur­mus­ter und die Regeln zwi­schen­mensch­li­chen Erzäh­lens sind, die zur Ver­knüp­fung die­ser bei­den Erfah­rungs­ebe­nen ver­pflich­ten. Das Erzähl­sche­ma, das die struk­tu­rel­le Ver­bin­dung der bei­den Bewusst­seins­sphä­ren ermög­licht, schließt nicht mit ein, dass die den gere­gel­ten All­tag stö­ren­den Trou­bles sich gegen die sozia­len Erwar­tun­gen durch­set­zen, oder anders gesagt, dass die Geschich­te zu einem glück­li­chen Ende gebracht wird. Das Ope­ra­ti­ons­sche­ma der Geschich­ten­gram­ma­tik for­dert wohl ein kla­res Ergeb­nis, lässt aber offen, ob die Erzäh­lung ihren Hel­den zum Erfolg führt oder schei­tern lässt. Gleich­wohl ist das in unse­rem Kul­tur­kreis vor­herr­schen­de Modell auf die in Kampf und List sieg­rei­che Bewäh­rung des Hel­den ange­legt. Schon unter den Erzäh­lun­gen, die uns die münd­li­che Tra­di­ti­on über­lie­fert, über­wie­gen bei wei­tem die erfolg­rei­chen Hel­den, die an das Ziel ihrer Wün­sche gelan­gen, ins­be­son­de­re bestehen die Mär­chen auf die­sem glück­li­chen Aus­gang, und selbst der tra­gisch schei­tern­de Held vie­ler Hel­den­epen hat sich den­noch einen Ruhm erwor­ben, der ihn im Gedächt­nis der Nach­welt leben­dig erhal­ten wird, weil er die Macht der höhe­ren Wer­te bewies, denen er folg­te und die sei­nen Unter­gang schließ­lich in einen Sieg ver­wan­deln. Auch die meis­ten im All­tag erzähl­ten Geschich­ten, ins­be­son­de­re jene Sto­rys, mit denen sich der Erzäh­ler sei­nes Mutes, sei­ner Vor­aus­sicht oder sei­ner Klug­heit ver­si­chert, gip­feln gleich­falls im kühn erkämpf­ten oder im lis­tig erschli­che­nen Erfolg des heroi­schen Erzäh­lers. Noch unge­bro­che­ner und oft jeder nach­voll­zieh­ba­ren Wahr­schein­lich­keit spot­tend, behaup­tet sich das Hap­py End in den tri­via­len Pro­duk­tio­nen der Mas­sen­me­di­en oder der Best­sel­ler­li­te­ra­tur. Nicht zuletzt bestehen auch die für Kin­der vor­ge­se­he­nen Medi­en auf einem glück­li­chen Aus­gang, selbst die päd­ago­gisch ambi­tio­nier­te Kin­der­li­te­ra­tur kann dar­auf kaum ver­zich­ten und ris­kiert, wo sie es in kri­ti­scher Absicht tut, ihre Leser­schaft zu ver­lie­ren. Erzäh­len scheint dem­nach so etwas wie eine „natür­li­che“ Ten­denz zum guten Aus­gang zu ken­nen. Die akti­ve Über­win­dung des Gegen­spie­lers und der unwi­der­ruf­li­che Sieg des Hel­den stel­len das ver­bind­li­che Modell dar, nach dem „ech­te“ Geschich­ten in unse­ren kul­tu­rel­len Brei­ten geschnei­dert sein müs­sen und das in Bezug zum Ide­al einer unab­hän­gi­gen, selbst­be­wuss­ten, akti­ven und indi­vi­du­el­len Per­sön­lich­keit zu sehen ist.

Unter dem Gesichts­punkt, unter dem ich hier Erzäh­lun­gen betrach­te, macht die­se Über­macht der Erfolgs­sto­ry in Lite­ra­tur und Medi­en durch­aus Sinn, lässt sie sich doch als die end­gül­ti­ge und unwi­der­ruf­li­che Inte­gra­ti­on der in das sozia­le Umfeld ein­bre­chen­den inne­ren Gestal­tun­gen begrei­fen, als gelun­ge­ne Rea­li­sie­rung von Ein­fäl­len, die aus dem Unbe­wuss­ten auf­stei­gen, von tief ver­an­ker­ten unun­ter­drück­ba­ren Stre­bun­gen oder von Gefüh­len, die alle sozia­len Schran­ken spren­gen und über­win­den. Nur in einem ver­gleichs­wei­se schma­len Bereich der „geho­be­nen“ Schrift­li­te­ra­tur kann sich die gesell­schaft­li­che Welt gegen die inne­re Land­schaft des Prot­ago­nis­ten durch­set­zen, wird das tra­gi­sche Schei­tern an den gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­sen the­ma­ti­siert oder der Ein­zel­ne als Pro­dukt die­ser Ver­hält­nis­se geschil­dert. Ähn­lich ver­fährt – was viel­leicht mehr als eine zufäl­li­ge Par­al­le­le ist – die mora­li­sche Bei­spiel­ge­schich­te, die die päd­ago­gi­sche Kin­der­li­te­ra­tur des 18. Und 19.Jahrhunderts beherrsch­te und die Kin­der von klein an auf die gesell­schaft­li­che Wirk­lich­keit aus­zu­rich­ten ver­such­te. Der inne­re Wider­spruch sol­cher Erzäh­lun­gen liegt dar­in, dass sie die vor­bild­li­chen Wer­te immer nur am nega­ti­ven Gegen­bei­spiel exem­pli­fi­zie­ren kön­nen, den Hans-Guck-in-die-Luft oder den Sup­pen­kas­par brau­chen, um über ihn die gefähr­li­chen Fol­gen sol­chen Ver­hal­tens an die Wand zu malen. Sie brau­chen die dras­ti­sche Ver­let­zung der Ver­hal­tens­re­geln, um deren vor­bild­li­che Befol­gung dar­stel­len zu kön­nen. Die unleug­ba­re Beliebt­heit, die die gelun­ge­nen Exem­pla­re die­ser Art Moral­li­te­ra­tur auf Kin­der aus­übt, ver­dankt sich ver­mut­lich nicht nur der gehei­men Attrak­ti­vi­tät der bösen Hel­den, son­dern dürf­te eben­so sehr damit zusam­men­hän­gen, dass sie mit ihrem bit­te­ren Ende einem Modell fol­gen, das an kind­li­chen Wahr­neh­mun­gen anknüpft und in spon­ta­nen Erzäh­lun­gen von Kin­dern auf­fal­lend lan­ge vorherrscht.

Denn sieht man sich die kind­li­chen Erzäh­lun­gen vor die­sem Hin­ter­grund an, macht man die über­ra­schen­de Fest­stel­lung, dass sie dem Hel­den­sche­ma zunächst über­haupt nicht ent­spre­chen und offen­bar lan­ge Jah­re brau­chen, um sich ihm anzu­nä­hern. Ich habe bis­her den Gesichts­punkt der Kon­flikt­füh­rung hin­ter dem der for­ma­len Gestal­tung zurück­ge­stellt, aber wenn wir uns die zitier­ten Geschich­ten ins Gedächt­nis rufen, wer­den sie fast alle von gefähr­li­chen und bedroh­li­chen Ereig­nis­sen aus­ge­löst, und nur weni­ge Erzäh­ler ver­ste­hen, die­se Gefähr­dun­gen zum Guten zu wenden. .

Das gilt nicht nur für die Phan­ta­sie­ge­schich­ten, die ich hier stär­ker berück­sich­ti­ge, weil sie die inne­ren Vor­stel­lun­gen sicht­ba­rer her­vor­tre­ten las­sen. Auch für die kind­li­chen Erzäh­lun­gen sehe ich kei­nen grund­sätz­li­chen Unter­schied zwi­schen per­so­nal und fic­tion­al sto­ry, und tat­säch­lich bevor­zu­gen auch die All­tags­er­zäh­lun­gen von Kin­dern belas­ten­de und gefähr­li­che Erleb­nis­se. Die meis­ten Erzäh­lun­gen, die Peg­gy Mil­ler von Kin­dern in Arbei­ter­fa­mi­li­en auf­nahm, han­del­ten von unan­ge­neh­men und belas­ten­den Erfah­run­gen. Allein 43 % der Geschich­ten kreis­ten um Unfäl­le wie zum Bei­spiel stol­pern und hin­fal­len, die Trep­pe run­ter­fal­len, vom Fahr­rad fal­len, sich ver­bren­nen, von einem Fahr­zeug erfasst wer­den, um Aggres­sio­nen wie gesto­ßen, geschla­gen, geris­sen oder gezwickt wer­den, oder Krank­hei­ten, Zahn­arzt­be­su­che oder Imp­fun­gen. Die­se Schief­la­ge sei sogar noch auf­fal­len­der bei Erzäh­lun­gen gewe­sen, die die Kin­der unauf­ge­for­dert von sich aus berich­te­ten (Miller/Sperry 1988, S.303).

Es berührt merk­wür­dig, dass die Kon­flik­te, die in kind­li­chen Erzäh­lun­gen aus­ge­tra­gen wer­den, und die Lösun­gen, die sie dafür suchen, ins­be­son­de­re von der lin­gu­is­tisch aus­ge­rich­te­ten Erzähl­for­schung fast voll­stän­dig ver­nach­läs­sigt wer­den. Im Mit­tel­punkt der Dar­stel­lung ste­hen sie nur in dem Modell, nach dem Sut­ton-Smith die Ent­wick­lung von Plot­sto­rys ord­net, und das im deut­schen Sprach­raum mit Modi­fi­ka­tio­nen von Rein­hard Fat­ke über­nom­men wird. Es dürf­te kein Zufall sein, dass bei­de Autoren Samm­lun­gen frei geäu­ßer­ter kind­li­cher Erzäh­lun­gen aus­ge­wer­tet haben. Indem sie einen in der erzähl­ten Hand­lung ange­leg­ten Grund­kon­flikt in sei­nen ver­schie­de­nen Lösungs­wei­sen ver­fol­gen, ver­bin­det ihre Kon­struk­ti­on inhalt­li­che mit struk­tu­rel­len Gesichts­punk­ten. Es sind nun nicht mehr for­ma­le kogni­ti­ve oder sprach­li­che Struk­tu­ren, die die kind­li­chen Erzäh­ler über­neh­men, son­dern es sind Kon­flik­te, die erzäh­lend bear­bei­tet, und Lösungs­we­ge, die über die wach­sen­de Erzähl­fä­hig­keit nach und nach erkun­det werden.

Aber, so könn­te man gegen die­se Sicht­wei­se ein­wen­den, gibt es über­haupt so etwas wie typi­sche Kon­flik­te in den Geschich­ten, die Kin­der erzäh­len? Erzählt nicht viel­mehr jedes Kind von sei­nen eige­nen Pro­ble­men und Ängs­ten, die nach sei­ner per­sön­li­chen Erfah­rung, den Umstän­den sei­nes Auf­wach­sens, sei­ner fami­liä­ren Situa­ti­on usw. sehr unter­schied­lich aus­fal­len müs­sen? Das ist sicher rich­tig, solan­ge man sich auf die Ein­fäl­le und ihre Aus­ge­stal­tung bezieht. Fragt man jedoch nach dem Mus­ter, nach dem Kon­flik­te auf­tre­ten und gelöst wer­den, zei­gen die Erzäh­lun­gen eine über­ra­schen­de Ein­heit­lich­keit. Sie dra­ma­ti­sie­ren in erfin­dungs­rei­chen Varia­tio­nen und mit immer neu­en über­ra­schen­den Ein­fäl­len das glei­che, stets wie­der­keh­ren­de Kon­flikt­mo­dell. Fat­ke fasst die­sen Grund­kon­flikt, den er in 90% der Geschich­ten wirk­sam fin­det, die er von Kin­dern zwi­schen drei und zwölf Jah­ren sam­mel­te, in die For­mel: „Zwei unter­schied­lich star­ke Mäch­te ste­hen ein­an­der gegen­über, und aus der Über­le­gen­heit der einen Macht ergibt sich eine Bedro­hung und eine Gefahr für die ande­re“ (Fat­ke 1994, S.14). Die­se Aus­gangs­la­ge führt von selbst zu der Fra­ge, wie sich der Unter­le­ge­ne dazu stellt, ob er sich ein­fügt, über­wäl­tigt wird, sich zu weh­ren ver­sucht und wie weit ihm das gelingt, und damit sind die Vari­an­ten der Kon­flikt­be­ar­bei­tung vorgegeben.

Es ist auf­schluss­reich, dass Sut­ton-Smith die­ses Modell von den Anthro­po­lo­gen Elli und Pierre Maran­da über­neh­men konn­te, die damit die grund­le­gen­den Bau­for­men von Volks­er­zäh­lun­gen zu erschlie­ßen such­ten: „Ihnen zufol­ge sind in Erzäh­lun­gen, die Kon­flik­te behan­deln, vier For­men der Reak­ti­on (des Hel­den) mög­lich: (I) Erzäh­lun­gen, in denen eine Macht die ande­re über­wäl­tigt und wo es kei­nen Ver­such einer Reak­ti­on gibt; (II) Erzäh­lun­gen, in denen die unter­le­ge­ne Macht eine Reak­ti­on ver­sucht, aber schei­tert; (III) Erzäh­lun­gen, in denen die unter­le­ge­ne Macht die ursprüng­li­che Gefahr außer Kraft setzt; (IV) Erzäh­lun­gen, in denen nicht nur die Bedro­hung besei­tigt wird, son­dern die Aus­gangs­si­tua­ti­on grund­le­gend ver­än­dert wird“ (Sut­ton-Smith 1975, S.87). Erwei­tert man die­ses Modell um den Fall, wo in der Aus­gangs­si­tua­ti­on kei­ne eigent­li­che Bedro­hung statt­fin­det, son­dern vom Hel­den ein bedroh­li­cher Man­gel erfah­ren wird, auf den er irgend­wie zu reagie­ren hat, dann las­sen sich dar­un­ter nahe­zu alle über­lie­fer­ten Volks­er­zäh­lun­gen fas­sen, von den unheil­schwan­ge­ren Sagen, in denen höhe­re Mäch­te vor­wit­zi­ge Men­schen bestra­fen, über die Zau­ber­mär­chen, deren Hel­den den Bei­stand jen­sei­ti­ger Hel­fer genie­ßen, und den Schwän­ken, wo sich der Unter­le­ge­ne mit List und Klug­heit zu weh­ren ver­sucht, bis hin zum Hel­den­epos, des­sen Prot­ago­nist sich durch Mut, Aus­dau­er und Stär­ke bewährt. Es han­delt sich hier offen­sicht­lich um über­grei­fen­de Struk­tu­ren, die zwar dem Sche­ma der Geschich­ten­gram­ma­tik noch sehr nahe ste­hen, aber eine inhalt­li­che Aus­rich­tung bekom­men: Wo das Sto­ry­sche­ma nur abs­trakt Bau­ele­men­te ord­net, wer­den nun die Hand­lungs­wei­sen des Hel­den kate­go­ri­siert. Die ver­schie­de­nen Lösungs­we­ge deu­ten zugleich eine Ent­wick­lungs­li­nie an. „Die­se Stu­fen der Marand­as kön­nen als Ent­wick­lungs­stu­fen hin zur Hel­den­ge­schich­te betrach­tet wer­den“ (Sut­ton-Smith 1975, S.87). Schon Elli und Pierre Maran­da beob­ach­te­ten, dass jün­ge­re Kin­der, denen Hel­den­ge­schich­ten des Typ IV gebo­ten wur­den, sie beim Nach­er­zäh­len bis zu einem gewis­sen Alter auf Erzäh­lun­gen vom Typ III oder II redu­zier­ten. Sie ver­mu­te­ten des­halb, dass „Kin­der inner­halb der ame­ri­ka­ni­schen Kul­tur in ihrer Ent­wick­lung dazu nei­gen, die glei­chen Stu­fen zu durch­lau­fen“ (Sut­ton-Smith 1975, S.87).

Sut­ton-Smith konn­te die­se Ver­mu­tung erhär­ten: Die vier Stu­fen der Kon­flikt­be­wäl­ti­gung lie­ßen sich pro­blem­los auf sei­ne Samm­lung kind­li­cher Erzäh­lun­gen über­tra­gen. Den Über­gang von den „lyri­schen“ Sprach­spie­len zu den ers­ten Plot­sto­rys setzt er um das vier­te Lebens­jahr an, aller­dings zeig­ten die Geschich­ten der jün­ge­ren Kin­der „für einen beträcht­li­chen Zeit­raum eine Mischung der Struk­tur The­ma und Varia­ti­on mit den Struk­tu­ren eigent­li­cher Plots“ (Sut­ton-Smith 1986, S.82). Das als „No Respon­se to con­flict“ bezeich­ne­te ers­te Level reprä­sen­tiert die­se Misch­form und wirkt als Kate­go­rie etwas dif­fus. Fat­ke gewinnt hier einen ein­deu­ti­ge­ren Aus­gangs­punkt, indem er die ers­te „Lösung“ des Grund­kon­flikts fol­gen­der­ma­ßen fasst: „Die über­le­ge­ne Macht siegt über die unter­le­ge­ne Macht, meist ohne dass eine Gegen­wehr erfolgt oder der Ver­such, der über­le­ge­nen Macht zu ent­kom­men, gemacht wird: das Gesche­hen endet sozu­sa­gen in der Kata­stro­phe“ (Fat­ke 1994, S.15). In lapi­da­rer Kür­ze prä­sen­tiert das fol­gen­de Bei­spiel die­sen Aus­gang : Es war ein­mal ein Mäd­chen, das ging durch den Wald. Da kam ein Tiger, der aß das Mäd­chen auf (Fat­ke 1994, s.15). Der knap­pen Dik­ti­on nach dürf­te das erzäh­len­de Kind noch sehr jung gewe­sen sein, sein Alter wird aber nicht ange­ge­ben. Über­haupt sind die gele­gent­lich ange­ge­be­nen Alters­gren­zen mit Vor­sicht zu betrach­ten, sie ste­hen noch zu sehr in der Tra­di­ti­on nor­ma­ti­ver Pha­sen, wie sie die Ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gie fest­zu­schrei­ben sucht. Für die Ent­wick­lung der kind­li­chen Erzähl­fä­hig­keit las­sen sich allen­falls unge­fäh­re Durch­schnitts­wer­te ange­ben. Auch das Kata­stro­phen­sze­na­rio fin­det sich kei­nes­wegs nur in den alter­ers­ten Plot­sto­rys. Genau­so gut kann eine Sechs­jäh­ri­ge noch die­ses hoff­nungs­lo­se Ende aus­ma­len, auch wenn sie die Erzäh­lung nun sprach­lich bewun­derns­wert aus­ge­stal­tet und mit Witz dramatisiert:

„Es leb­te ein­mal ein Baum im Wald. Er lieb­te die Vögel und Spat­zen und die ande­ren Bäu­me und die Blu­men und das wun­der­ba­re küh­le Gras unter ihm.

Aber er hät­te so gern jemand gehabt, der mit ihm rede­te. Er dach­te eini­ge Tage dar­über nach und dach­te, er soll­te sich nicht so blö­de anstel­len, und schloss bald sei­ne schläf­ri­gen Augen (Deird­re lacht) und war bald eingeschlafen.

Am Mor­gen sag­te er: ‚Vögel­chen, Vögel­chen, ich will mit dir spie­len.‘ ‚Wie bit­te, wie soll ein klei­ner Vogel wie ich mit einem gro­ßen häss­li­chen Baum spie­len wie du.‘

‚Ich bin nicht so häss­lich. Ich wer­de dir was sagen, du Dus­sel von einem Vögel­chen. Ich wer­de dir sagen, du kannst genau­so gut abhau­en und allei­ne leben, du bist ja jetzt schon sie­ben Wochen alt.‘

Eine Tages kam ein Mann mit einer gro­ßen Säge und säg­te den ein­sa­men alten Baum ab, um Feu­er­holz zu machen“ (Sut­ton-Smith 1981, S.167).

In der zwei­ten Stu­fe der Kon­flikt­dar­stel­lung, von Sut­ton-Smith als Fail­ure bezeich­net, ret­tet sich der Held durch Flucht oder wird durch Hil­fe von außen geret­tet. Zau­ber­mär­chen lie­ben die­se Lösung, indem sie dem Hel­den jen­sei­ti­ge Hel­fer zur Sei­te stel­len, mit deren Bei­stand er die men­schen­un­mög­li­che Bewäh­rung besteht. Aller­dings ver­trau­en die kind­li­chen Erzäh­ler lie­ber auf recht dies­sei­ti­ge Hil­fen, es sind meist die Eltern oder ande­re Erwach­se­ne, die dem Hel­den aus der Klem­me hel­fen. Allen­falls die Tier­ge­stal­ten erin­nern noch von fer­ne an den geheim­nis­vol­len Bei­stand des Mär­chen­hel­den. In einer Erzäh­lung der sechs­jäh­ri­gen Deni­se steht den ver­irr­ten Bären ein freund­li­cher Wal zur Sei­te, der die mythi­schen Asso­zia­tio­nen des Müt­ter­li­chen wach­ruft, die sich mit die­ser Gestalt ver­bin­den. „Es waren ein­mal zwei Bären. Und sie gin­gen aufs Land und sie hat­ten ein Land­haus und sie gin­gen schwim­men. Ein­mal gin­gen sie schwim­men und ver­irr­ten sich. Und da war ein net­ter Wal, der hol­te sie raus und brach­te sie zu ihrem Haus zurück. Dann sag­te er „Tschüß“ und for­der­te sie auf, zu sei­nem Haus kom­men, wenn sie sich das nächs­te Mal ver­irr­ten. Und als sie sich wie­der ver­irr­ten, gin­gen sie zu sei­nem Haus, und leb­ten von da an glück­lich. Und sie lie­ßen ihr Land­haus sein und leb­ten von da an im Haus des Wals. Ende“ (Sut­ton-Smith 1981, S.169).

Ver­brei­te­ter als die glück­li­che Ret­tung durch mäch­ti­ge Hel­fer ist die Reak­ti­on, sich durch Flucht in Sicher­heit zu brin­gen. „Die unter­le­ge­ne Macht unter­nimmt zwar einen Ver­such der Gegen­wehr oder der Flucht, aber schei­tert den­noch, so dass die über­le­ge­ne Macht sieg­reich bleibt“ (Fat­ke 1994, S.15). Der Flucht­re­flex kann so über­mäch­tig wer­den, dass der Held auch dann noch besin­nungs­los flieht, wenn sei­ne Ver­fol­ger schon längst von ihm abge­las­sen haben, wie sich das ein Sie­ben­jäh­ri­ger in einer nun aller­dings auf­ge­schrie­be­nen Geschich­te ausmalt:

„Eines Tages traf ich eine Maus. Sie hieß Char­lie. Die Maus Char­lie leb­te auf dem Land, ihr bes­ter Freund war ein Sala­man­der, er hieß Herr Kral­le. Ich sag­te noch nicht, dass Char­lie ein Räu­ber war. Psst. Ich möch­te nicht, dass das irgend jemand hören lässt, denn wenn die Poli­zei davon hört, wer­den sie Char­lie ein­sper­ren. Wenn ich ihm sagen wür­de, dass die Poli­zei ihn krie­gen will, wür­de er ver­rückt wer­den. Das ist jetzt die Geschich­te. Char­lie ging ein­mal spa­zie­ren. Er sah die Poli­zei und ver­steck­te sich hin­ter einem Fel­sen. Die Poli­zei lief genau an ihm vor­bei. Er wuss­te, dass er sicher war. Er rülps­te. Der Poli­zist dreh­te sich um. Da war er zu Tode erschro­cken. Die Poli­zei rann­te, aber er war schnell. Die Poli­zei gab bald auf, aber Char­lie dach­te, sie ver­such­ten ihn immer noch zu krie­gen. Er rann­te und rann­te und rann­te und rann­te, bis ihm die Füße weh­ta­ten und er nicht mehr ren­nen konn­te. Bald sah er sein abge­stell­tes Fahr­rad. Er erin­ner­te sich, dass der Schlüs­sel in der lin­ken Man­tel­ta­sche war. Er hol­te ihn raus und schloss die Ket­te auf. Dann fuhr er weg, aber er wuss­te nicht, dass die Poli­zei auf­ge­ge­ben hat­te. Und des­halb fuhr er immer wei­ter. Zuerst sag­te er sich, wenn ich anhal­te und mich umse­he, krie­gen sie mich. Zuerst woll­te er das nicht ris­kie­ren, aber dann dach­te er: Wenn ich ins Gefäng­nis gehe, – er wür­de sich schon wie­der her­aus­schmug­geln. Des­halb blieb er ste­hen. Er konn­te sei­nen Augen nicht glau­ben, die Poli­zei war ver­schwun­den. Ende“ (Sut­ton-Smith 1981, S.204).

Auf der drit­ten Stu­fe der Nul­li­fi­ca­ti­on gelingt es zwar dem Hel­den, sich vor­der­hand zu behaup­ten, die Bedro­hung bleibt aber bestehen und kann jeder­zeit wie­der auf­tre­ten: „Die bedro­hen­de Macht gelangt nicht an ihr Ziel; sie wird ‚aus­ge­schal­tet‘, aber nicht unbe­dingt in der Wei­se besiegt, dass nicht wei­ter­hin Gefahr von ihr aus­gin­ge“ (Fat­ke 1994. s.16).

Offen­bar sind Fat­kes Geschich­ten in einer schul­mä­ßi­ge­ren und weni­ger anre­gen­den Situa­tio­nen erzählt wor­den, zumin­dest deu­tet die knap­pe­re und lust­lo­se­re Dik­ti­on sei­ner Bei­spie­le dar­auf hin. Das drit­te Kon­flikt­mus­ter exem­pli­fi­ziert er mit der fol­gen­den Erzäh­lung: „Da war ein­mal ein Affe, und der hat in den Kauf­la­den müs­sen, weil er nichts zum Essen gehabt hat. Dann hat­te er kein Geld dabei gehabt. Und dann hat er schnell heim­ge­hen müs­sen. Und dann hat die Mut­ter daheim auch kein Geld mehr gehabt. Und dann hat er schnell die Bank über­fal­len. Und dann ist die Poli­zei gekom­men und dann hat sie ihn gefes­selt, und er ist ins Gefäng­nis gekom­men. Dann ist er aus­ge­bro­chen, und dann ist er schnell gerannt, dass sie ihn nicht mehr hat ein­ho­len kön­nen“ (Fat­ke 1994, S.16).

Den unwi­der­ruf­lich guten Aus­gang zu ima­gi­nie­ren, scheint auch für älte­re Kin­der noch lan­ge ein schwie­ri­ges Unter­fan­gen zu blei­ben. Erst die letz­te Stu­fe besie­gelt den voll­stän­di­gen und unwi­der­ruf­li­chen Tri­umph des Hel­den, der nun alle Din­ge durch sein Han­deln zum Guten wen­det: „Die Bedro­hung wird besei­tigt, und zusätz­lich wer­den durch die­sen Sieg die Aus­gangs­be­din­gun­gen ver­än­dert, so dass die Bedro­hung aus­ge­schal­tet bleibt. Nicht immer, aber in den meis­ten Fäl­len wird der Sieg durch eine akti­ve Gegen­wehr der unter­le­ge­nen Macht errun­gen. Dies ent­spricht dem Typus der ‚Hel­den­ge­schich­te'“ (Fat­ke 1994, S.16), eine Lösung, die erst im Alter von zehn bis zwölf Jah­ren erreicht wer­de. Wie aber kommt dann der erst fünf Jah­re zäh­len­de Abe dazu, sich eine Geschich­te aus­zu­den­ken, in der die Bedro­hung nach dem Modell der Hel­den­ge­schich­te durch lis­ti­ge Gegen­wehr ein für alle­mal besei­tigt wird?

„Der Wolf und die drei Kaninchen.

Es leb­ten ein­mal drei Kanin­chen. Sie leb­ten zusam­men in einer Höh­le im Boden. Nachts kamen sie immer aus der Höh­le her­aus. Eines Nachts sahen sie etwas. Sie frag­ten sich, was es war. Es war ein Wolf. Der Wolf begann sie zu jagen. Der Wolf begann schnel­ler zu lau­fen. Er rann­te so schnell, die Kanin­chen blie­ben ste­hen, und der Wolf schlit­ter­te drei Mei­len. Dann prall­te er gegen einen Baum. Er war sehr wütend. Er rann­te in die Kanin­chen­höh­le. Er war so wütend, dass er in die Höh­le krab­bel­te. Die Kanin­chen sag­ten: ‚Was kön­nen wir machen?‘ Ein Kanin­chen sag­te zu den andern bei­den, was zu tun war. ‚Einen Topf hei­ßes Was­ser neben die Tür stel­len!‘ Als der Wolf in die Höh­le hin­un­ter­rutsch­te, öff­ne­ten sie die Tür, und der Wolf rutsch­te in den Topf, der voll war mit hei­ßem Was­ser. Er war so heiß, dass er aus der Höh­le hin­auf­rann­te, und er rann­te nach Afri­ka, und nie­mand sah ihn jemals wie­der“ (Sut­ton-Smith 1981, S.120).

Was Kin­der erzäh­len, bleibt sehr lan­ge von der Situa­ti­on abhän­gig, in der sie erzäh­len, davon, wie sehr ihre Phan­ta­sie davon ange­regt wird und wie weit sie es schaf­fen, im Zusam­men­spiel mit den Zuhö­rern die­se Vor­stel­lun­gen in eine sprach­li­che und ges­ti­sche Form zu brin­gen. Auch wenn sie sie im Augen­blick des Erzäh­lens immer bes­ser zu orga­ni­sie­ren ver­ste­hen, blei­ben ihre Erzäh­lun­gen noch vor­wie­gend Pro­duk­te des gelun­ge­nen Augen­blicks, und die­ses Gelin­gen drückt sich auch in der Lösung des bedroh­li­chen, die Geschich­te aus­lö­sen­den Kon­flikts aus. Es dau­ert aber auf­fal­lend lan­ge, bis sich über das wie­der­hol­te Erzäh­len das kul­tu­rell ver­bind­li­che Modell der Hel­den­sto­ry ver­fes­tigt, nach dem der Held den Kon­flikt aktiv durch sei­ne Stär­ke, List oder Geschick­lich­keit für sich ent­schei­det. Und dass es so erstaun­lich lan­ge dau­ert, spricht wie­der­um dafür, wie wenig die Struk­tu­ren und Kon­flikt­lö­sun­gen, die Kin­der beim Erzäh­len selbst benut­zen, von media­len Vor­la­gen beein­flusst wer­den. Denn die­sel­ben Kin­der, die sich in ihren eige­nen Geschich­ten noch von Unge­heu­ern bedroht und über­wäl­tigt fin­den, sind längst ver­sier­te Medi­en­nut­zer, bekom­men päd­ago­gisch ambi­tio­nier­te Geschich­ten vor­ge­le­sen, in denen die Unter­le­ge­nen sich mit List und Klug­heit gegen die Star­ken zur Wehr set­zen, sehen tri­via­le Fern­seh­se­ri­en, in denen Welt­raum­fah­rer die von frem­den Ster­nen bedroh­te Erde sieg­reich ver­tei­di­gen, das heißt, sie wer­den in den ver­schie­dens­ten For­men mit dem west­li­chen Mythos des unüber­wind­li­chen, auf sei­ne eige­ne Kraft und sei­nen Ver­stand bau­en­den Hel­den und den for­ma­len Mus­tern ver­traut gemacht, in denen sich der Mythos rea­li­siert. Und doch schei­nen die­se Pro­duk­te sich erst dann auf ihre Erzäh­lun­gen aus­zu­wir­ken, sobald sie sich selbst als aktiv han­deln­de, selbst­ver­ant­wort­li­che Per­so­nen erfah­ren kön­nen, und es spricht viel dafür, dass sie die­se Erfah­rung im selbst­tä­ti­gen akti­ven Spiel machen, und kei­ne media­len Pro­duk­te das erset­zen kön­nen, wel­cher päd­ago­gi­schen Ziel­set­zung oder wel­chen wirt­schaft­li­chen Inter­es­sen sie auch immer ver­pflich­tet sein mögen.

Ich deu­te­te bereits an, dass sowohl Sut­ton-Smith wie Fat­ke ver­su­chen, Alters­pha­sen anzu­ge­ben, in denen die ein­zel­nen Stu­fen der Kon­flikt­be­rei­ni­gung erwor­ben wür­den. Die­se Abgren­zun­gen sind aber allen­falls als unge­fäh­re Hin­wei­se auf­zu­fas­sen, in wel­chem Alter sie im all­ge­mei­nen vor­zu­wie­gen begin­nen, auf Ein­zel­fäl­le sind sie in kei­ner Wei­se über­trag­bar. Die ein­zel­ne Erzäh­lung ist in ähn­li­cher Wei­se Ergeb­nis des Zusam­men­spiels aller Betei­lig­ten wie die gelun­ge­ne Sequenz eines Rol­len­spiels. Erzäh­len ist sei­ner Natur nach „inter­ak­tiv“, und wo die Erzäh­ler von ihren Zuhö­rern ange­regt und ange­feu­ert wer­den, kön­nen Geschich­ten ent­ste­hen, die weit über die durch­schnitt­li­chen Pro­duk­tio­nen ihres Alters hinausreichen.

Ein schö­nes Bei­spiel dafür gibt uns die erst sechs­jäh­ri­ge Deni­se, die nicht nur das Struk­tur­sche­ma voll­endet benutzt und ihre Geschich­te bezau­bernd in Sze­ne zu set­zen weiß, son­dern auch eine sehr hin­ter­sin­ni­ge Erzäh­lung zu erfin­den versteht:

„Es war ein­mal ein Hund, und der lieb­te es her­um­zu­sprin­gen und zu spie­len. Eines Tages sprang er so viel her­um und spiel­te, dass er nicht dar­auf ach­te­te, wo er hin­lief, und er prall­te gegen einen Baum. Und es schien, als ob der Baum ‚Au‘ gesagt hät­te, und der Hund sag­te: ‚Ich sag­te nicht Au‘. Und der Baum sag­te: ‚Ich sag­te Au, weil du gegen mich prall­test‘. Und der Hund sag­te: ‚Wer sag­te das?‘ Und der Baum sag­te: ‚Ich sag­te das‘ Und der Hund sag­te immer wei­ter: ‚Wer sag­te das?‘. Er wuss­te nicht, dass Bäu­me natür­lich reden kön­nen. Da kam ein ande­rer klei­ner Hund vor­bei. ‚Was ist los?‘ Und der ers­te Hund sag­te: ‚Ich weiß nicht, wer Au sag­te.‘ Und da sag­te der ande­re klei­ne Hund: ‚Ich wet­te, ich weiß, wer Au sag­te. Der Baum sag­te das!‘ Und der ers­te klei­ne Hund sag­te: ‚Das kann nicht sein. Bäu­me kön­nen nicht reden‘. Und der Baum sag­te (mit tie­fer Stim­me): ‚Kön­nen sie nicht?‘ Und das ers­te klei­ne Hünd­chen sag­te: ‚Wer sag­te das?‘ Und der Baum sag­te: ‚Ich sag­te das‘. Und das ande­re klei­ne Hünd­chen sag­te: ‚Es war doch der Baum‘. Und das ers­te klei­ne Hünd­chen sag­te: ‚Ich kann dir das nicht glau­ben‘, und das ande­re klei­ne Hünd­chen sag­te: ‚Lass uns rauf­stei­gen und sehen, ob es der Baum sag­te.‘ Da klet­ter­ten sie auf den Baum und fie­len durch das Loch einer Eich­hörn­chen­höh­le in den Baum­stamm. Aber sie hat­ten ihren Spaß da drin­nen, denn sie konn­ten dar­in her­um­spie­len, schrei­en und bel­len, so viel sie woll­ten. Und kei­ner sah die­se bei­den Hünd­chen jemals wie­der. Und sie leb­ten von da an glück­lich im Baum drin­nen. Ende“ (Sut­ton-Smith 1981, S.171).

Die Erzäh­le­rin ent­wi­ckelt die Erleb­nis­se der bei­den Hun­de in einem geschickt auf­ge­bau­ten Span­nungs­bo­gen, zugleich setzt sie das Gesche­hen sehr leben­dig in Sze­ne und bringt die Hand­lung zu einem kla­ren und unwi­der­ruf­li­chen Abschluss. Die Auf­lö­sung aber wirkt auf den ers­ten Blick merk­wür­dig zwie­lich­tig: Die bei­den Tie­re toben unge­stört durch den hoh­len Stamm, in den sie doch eigent­lich aus Ver­se­hen hin­ein­ge­ra­ten und in dem sie nun gefan­gen sind. Hält man sich an die Ober­flä­che der Erzäh­lung, mag der „glück­li­che“ Aus­gang fast wie eine iro­ni­sche Par­odie auf das voll­ende­te Struk­tur­mus­ter wir­ken. Der wider­sprüch­li­che Schluss weist aber auf eine zwei­te Bedeu­tungs­ebe­ne hin. Der Baum, der des­halb auch zum fes­ten Bestand der ers­ten Kin­der­zeich­nun­gen gehört oder in den ver­schie­dens­ten Mytho­lo­gien als Wel­ten­baum wie­der­kehrt, reprä­sen­tiert in der Sym­bo­lik der vor­ge­burt­li­chen Erfah­rung die ver­sor­gen­de Pla­zen­ta und macht das Glück der in den Baum­stamm ein­ge­schlos­se­nen Hun­de ver­ständ­lich: Sie durf­ten in den ber­gen­den und ver­sor­gen­den Mut­ter­schoß zurückkehren.

Die­se Erzäh­lung ist noch in ande­rer Hin­sicht auf­fäl­lig, arbei­tet sie doch mit der Wie­der­ho­lung der Epi­so­den: Nach­dem der ers­te Hund das Rät­sel des spre­chen­den Bau­mes nicht auf­zu­lö­sen ver­steht, wie­der­holt sich die Hand­lung mit dem hin­zu­kom­men­den Kame­ra­den, der des Rät­sels Lösung fin­det. Fast alle bis­her zitier­ten Geschich­ten beschränk­ten sich dar­auf, den Grund­kon­flikt ein ein­zi­ges Mal durch­zu­spie­len und zu irgend­ei­nem Ende zu füh­ren. Durch die Rei­hung auf­ein­an­der­fol­gen­der Lösungs­ver­su­che wird die Schwie­rig­keit der Auf­ga­be unter­stri­chen und die außer­or­dent­li­che Leis­tung des Hel­den her­vor­ge­ho­ben. Es sind die Erzäh­lun­gen des drit­ten Level, deren Struk­tur nach rei­hen­der Wie­der­ho­lung rufen, da hier die Bedro­hung zwar vor­über­ge­hend aus­ge­schal­tet wird, aber grund­sätz­lich bestehen bleibt: Die Erneue­rung der Bedro­hung erfor­dert wie­der­hol­te Gegen­wehr. Sicher nicht zufäl­lig taucht in der Alters­grup­pe, in der die­ses Modell nach Sut­ton-Smith vor­zu­herr­schen beginnt, näm­lich um das sieb­te Lebens­jahr her­um, die Fähig­keit auf, „mehr­fa­che Hand­lungs­se­quen­zen mit­ein­an­der in Seri­en von Epi­so­den zu ver­bin­den“ (Botvin/Smith 1977, S.385). Trotz der Vor­be­hal­te gegen Alters­an­ga­ben dürf­te es nicht so ganz zufäl­lig sein, dass die Rei­hung von Epi­so­den die­sem Lebens­ab­schnitt zuge­ord­net wird. Aller­dings lern­ten wir die ein­fa­che Rei­hung bereits im Rol­len­spiel des zwei Jah­re jün­ge­ren, das Feu­er bekämp­fen­den Ehe­manns ken­nen, wo die Bedro­hung zwei Mal unver­än­dert wie­der­holt wur­de, sich dann aber im letz­ten Durch­gang zu einem himm­li­schen Dra­ma stei­ger­te. Der Grund liegt wohl weni­ger in der Alters­ent­wick­lung, son­dern es scheint hier ein Ver­fah­ren, nach dem Rol­len­spiel­hand­lun­gen mit­ein­an­der ver­ket­tet wer­den, mit dem Rück­gang des Rol­len­spiels in das kind­li­che Erzäh­len über­nom­men zu werden.

Schwie­ri­ger wird es, wenn eine Epi­so­de in eine ande­re ein­ge­scho­ben wer­den soll. Die ein­fachs­te Form, bei der „die Haupt­hand­lung der Erzäh­lung durch eine unter­ge­ord­ne­te Hand­lung unter­bro­chen wird“ (Bot­vin/­Sut­ton-Smith 1977, S.381), erscheint daher auch rela­tiv spät, ange­ge­ben wird etwa das elf­te Lebens­jahr, und erst etwa Zwölf­jäh­ri­ge schei­nen nach der Unter­su­chung von Bot­t­vin und Sut­ton-Smith auch mehr als zwei Epi­so­den gleich­zei­tig in einer ein­zi­gen Erzäh­lung ver­fol­gen zu kön­nen. „Die­se Struk­tur­ty­pen sind am schwie­rigs­ten, denn sie erfor­dern eine beträcht­li­che Vor­aus­pla­nung. Kin­der, die ver­schach­tel­te Erzähl­struk­tu­ren benut­zen, müs­sen sich geis­tig die gesam­te Erzäh­lung vor­stel­len kön­nen, bevor sie sie erzäh­len. Sie müs­sen fähig sein, ver­schie­de­ne Hand­lungs­strän­ge gleich­zei­tig zu koor­di­nie­ren und sie in einen Zusam­men­hang zu inte­grie­ren“ (Bot­vin/­Sut­ton-Smith 1977, S.385). Oder anders aus­ge­drückt, sie müs­sen jenen Über­blick über die gesam­te Geschich­te gewin­nen, der sich nur dem erschließt, der vom Ort des Erzäh­lens aus auf die erzähl­ten Ereig­nis­se blickt, der also die Distanz zur eige­nen Erzäh­lung ein­hält, die die Erzähl­hal­tung des in die lau­fen­de Erzähl­hand­lung ver­strick­ten Kin­des so lan­ge ver­mis­sen lässt. Die­se Kon­struk­ti­on ist wohl mit der offe­nen und impro­vi­sie­ren­den Erzähl­wei­se, in der Kin­der eine Geschich­te zustan­de­brin­gen, nicht zu leis­ten. Sie for­dert eine genaue und weit vor­aus­schau­en­de Pla­nung und fin­det sich des­halb kaum in spon­ta­nen Erzäh­lun­gen von Kin­dern, in den Samm­lun­gen kind­li­cher Erzäh­lun­gen taucht sie so gut wie über­haupt nicht auf, wäh­rend sie in schrift­li­chen Erzäh­lun­gen häu­fi­ger benutzt wird.

Auch wenn die Alters­tu­fen, die Psy­cho­lin­gu­is­ten ihren expe­ri­men­tel­len Unter­su­chun­gen zu ent­neh­men ver­su­chen, mit gro­ßer Vor­sicht zu betrach­ten sind, kann man doch, ohne sich auf ver­läss­li­che Alters­gren­zen fest­zu­le­gen, in unse­rem kul­tu­rel­len Umkreis davon aus­ge­hen, dass kind­li­che Erzäh­lun­gen mit anstei­gen­dem Lebens­al­ter ein immer genaue­res Inein­an­der­grei­fen der Hand­lungs­ele­men­te zei­gen, die Abfol­ge der erzähl­ten Hand­lun­gen immer exak­ter im Sin­ne des Ope­ra­ti­ons­sche­mas struk­tu­riert wird und schließ­lich auch meh­re­re Epi­so­den gleich­zei­tig über­blickt wer­den kön­nen. Der Gebrauch nar­ra­ti­ver Bau­for­men und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­wei­sen bleibt lan­ge von den Situa­tio­nen abhän­gig, in denen Kin­der erzäh­len, von den Erleb­nis­sen und Ein­fäl­len, die das Erzäh­len aus­lö­sen, und von der Anre­gung, die ihnen ihre Umge­bung bie­tet. Die phan­ta­sier­ten Hand­lun­gen tau­chen zuerst spon­tan im Akt des Erzäh­lens auf und müs­sen mehr oder weni­ger geschickt in den Gang der lau­fen­den Erzäh­lung ein­ge­fügt wer­den. Zunächst ist der Umgang mit den for­ma­len Mus­tern noch recht unsi­cher und ver­fes­tigt sich erst all­mäh­lich über wie­der­hol­tes Erzäh­len. Um das sieb­te Lebens­jahr her­um, und sicher nicht zufäl­lig in einer Zeit, in der die Rol­len­spie­le zurück­ge­hen, die im Spie­len ent­wi­ckel­ten Rol­len­wech­sel ver­sprach­licht und ins Erzäh­len über­nom­men wer­den, steigt mit der wach­sen­den Erzähl­lust auch die Beherr­schung der nar­ra­ti­ven For­men und ihrer kom­mu­ni­ka­ti­ven Ver­wen­dung. Etwa mit dem 12. Lebens­jahr ist, wie­der sehr pau­schal gese­hen, der „Erzäh­l­er­werb“ end­gül­tig abge­schlos­sen: Bau­for­men, Mus­ter und kom­mu­ni­ka­ti­ves Ver­hal­ten erzäh­len­den Spre­chens sind nun soweit ver­in­ner­licht und ver­füg­bar, dass sie auch abge­löst von der leben­di­gen und reagie­ren­den Zuhö­rer­schaft sicher beherrscht und benutzt wer­den. Das drückt sich unter ande­rem dar­in aus, dass Kin­der regel­ge­rech­te Geschich­ten schrei­ben kön­nen, indem sie den Zuhö­rer nur noch imaginieren.

Die sich ver­bes­sern­den Fähig­kei­ten in der vor­weg­neh­men­den Pla­nung und kom­ple­xe­ren Kon­struk­ti­on von Geschich­ten las­sen sich jedoch kaum als los­ge­lös­te kogni­ti­ve Erwer­bun­gen ver­ste­hen: Zum einen ver­hel­fen sie dazu, die unpas­sen­den Ele­men­te, die phan­tas­ti­schen Ein­fäl­le und außer­ge­wöhn­li­chen Bege­ben­hei­ten, mit der Schicht des Gewöhn­li­chen und All­täg­li­chen zusam­men­zu­füh­ren. Das Geschich­ten­sche­ma ver­langt ja, um Ver­ständ­lich­keit und Merk­bar­keit zu sichern, die geord­ne­te Abfol­ge der Bau­tei­le der Erzäh­lung, zwingt dadurch den Erzäh­ler, das uner­war­te­te Ereig­nis mit dem Ein­stieg und dem Aus­gang der Erzäh­lung zu ver­knüp­fen und zuein­an­der in Bezug zu set­zen. Der Zwang zur zusam­men­hän­gen­den Dar­stel­lung lässt die Hand­lun­gen inein­an­der grei­fen und aus­ein­an­der her­vor­ge­hen, und damit das uner­war­te­te Ereig­nis, die die Erzäh­lung kon­sti­tu­ie­ren­de Hand­lung, in die all­täg­li­che Wahr­schein­lich­keit ein­fü­gen. Die sze­ni­sche Gestal­tung sucht das Gesche­hen so leben­dig zwi­schen die Zuhö­ren­den zu stel­len, als wür­den sie leib­haf­tig dar­an teil­neh­men, als sei die Wirk­lich­keit der Fik­ti­on so gegen­wär­tig wie die geleb­te Gegenwart.

Für das kind­li­che Erzäh­len, das in der Mehr­zahl belas­ten­de Situa­tio­nen gestal­tet, haben Struk­tu­rie­rung, Kohä­renz und sze­ni­sche Dar­stel­lung eine beson­de­re Bedeu­tung: Sie ste­hen im Diens­te der wach­sen­den Bewäl­ti­gung jenes Grund­kon­flikts, dem sich die ver­ängs­tig­ten Hel­den der frü­hen Erzäh­lun­gen hoff­nungs­los aus­ge­lie­fert sehen und der im Lau­fe der Ent­wick­lung durch den mit Stär­ke und List alle Wider­sa­cher besie­gen­den Hel­den abge­löst wird. Der Grund­kon­flikt erwächst aus dem Zusam­men­stoß der sozia­len All­tags­welt mit der bedrän­gen­den, aus dem Unbe­wuss­ten gespeis­ten Innen­welt. Für Kin­der ist der Gegen­satz zwi­schen inne­rer und äuße­rer Wahr­neh­mung, den eige­nen Phan­ta­sien, Wunsch- oder Schreck­bil­dern einer­seits, die nur jedem Ein­zel­nen in sei­ner Abge­schlos­sen­heit zugäng­lich sind, und der fest­ge­füg­ten sozia­len Außen­welt, die sich aus all­ge­mei­nen und ver­bind­li­chen Bedeu­tun­gen zusam­men­setzt, ins­ge­samt bedrü­ckend und schwer zu begrei­fen. Der Zusam­men­stoß der bei­den Lebens­sphä­ren wird immer wie­der als rät­sel­haft und belas­tend erfah­ren, und stellt in sich schon so etwas wie einen Kon­flikt dar. Die wach­sen­de „Kohä­renz“ der Erzäh­lun­gen ver­hilft dazu, die phan­tas­ti­schen Ein­schü­be immer bes­ser in die Welt der sozia­len Erfah­rung zu inte­grie­ren und damit zu einem ein­heit­li­chen Drit­ten zu verschmelzen.

Die hilf­rei­che Fee des Mär­chens wirkt wie ein Über­gang: Noch braucht es die jen­sei­ti­ge Hel­fe­rin, um den Kon­flikt, der aus dem Zusam­men­stoß der bei­den Daseins­be­rei­che ent­steht, zu lösen, um bei­de Lebens­sphä­ren in einer ein­heit­li­chen Gestal­tung mit­ein­an­der zu ver­söh­nen. Sicher kann man die­se „magi­schen“ Hel­fer als Reprä­sen­tan­ten unbe­wuss­ter Per­sön­lich­keits­an­tei­le des Hel­den ver­ste­hen, die „Über­win­dung“ die­ser hel­fen­den Gestalt führt zum glei­chen Ergeb­nis: Über die Bewäl­ti­gung des Kon­flikts auf­grund der Kraft und List des Hel­den wird der aus dem Unbe­wuss­ten auf­stei­gen­de phan­tas­ti­sche Ein­fall in die sozia­le Sphä­re ein­ge­bun­den. Die gelin­gen­de Ver­bin­dung von äuße­rer und inne­rer Welt erzeugt das Ver­gnü­gen und die Befrie­di­gung, die selbst Erzäh­lun­gen noch aus­lö­sen, die das Hap­py End verweigern.

Literatur

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  • Sut­ton-Smith, Brian:The Importance of the Sto­ry­ta­ker: An Inves­ti­ga­ti­on on the Ima­gi­na­ti­ve Life, Urban Review 8 (1975), S. 82-95
  • Sut­ton-Smith, Bri­an: The Folks­to­ries of Child­ren, Phil­adel­phia 1981
  • Sut­ton-Smith, Bri­an: Children`s Fic­tion Making, in: Sar­bin, T.R. (ed.): Nar­ra­ti­ve Psy­cho­lo­gy, New York 1986

(Aus­zug aus: Johan­nes Mer­kel: Spie­len, Erzäh­len, Phan­ta­sie­ren. Die Spra­che der inne­ren Welt, Mün­chen 2000, S. 203-235)