Wie Kinder Geschichten erzählen
Johannes Merkel
Wir haben uns im „Jahrhundert des Kindes“ angewöhnt, Kinder als fremdartige Wesen zu sehen, die durch tiefe Gräben anderen Denkens und Verhaltens von sozialisierten Erwachsenen getrennt seien. Wenn diese Sicht auch die Eigenheiten kindlichen Erlebens und Reagierens herauszustellen und zu beachten erlaubte, trübte sie doch gleichzeitig den Blick dafür, dass Kinder nicht grundsätzlich anders sind als Erwachsene, dass sie nur das sind, was wir alle waren, und jeder Mensch ein Kind in sich trägt. Die überwiegende Mehrzahl der Autoren, die kindliches Leben und kindliche Entwicklung zu beschreiben versuchen, blicken durch diese exotische Brille auf Kindheit und Kinder herunter, als ob es sich um einen eigenartigen Stamm auf einer pazifischen Insel handelte und nicht um einen Teil ihres eigenen Lebens und ihrer eigenen Geschichte. Diese „ethnologische“ Sicht, die Abstand und damit „Objektivität“ zu halten erlaubt, bestimmt auch die Konzepte und Forschungen, die nachzuzeichnen versuchen, wie sich Kinder die formalen und kommunikativen Regeln aneignen und anwenden, die dem Erzählen dienen. Die vorausgesetzte Fremdartigkeit führt dazu, dass man sie nur über „empirische“ Beobachtungen erkunden, über statistisch erfassbare und operationalisierbare Fakten verstehen zu können glaubt. Tatsächlich lassen sich mit diesen Verfahren aufschlussreiche Differenzen benennen, die den kindlichen von dem uns vertrauten Umgang mit Erzählungen und dem Erzählen unterscheidet. Zugleich aber verstellen sie den Blick dafür, dass erzählendes Kommunizieren von Anfang an eine einheitliche Funktion hat und lebenslang behält, und dass die Gesetzmäßigkeiten, die es steuern, für jeden die gleichen sind, der zum Erzählen ansetzt, gleichgültig, ob es sich um ein Kindergartenkind, einen die Gute-Nacht-Geschichte erzählenden Vater, eine Kollegin, die aus ihrem Urlaub berichtet, oder einen Schriftsteller am Schreibtisch handelt.
Ich werde deshalb, wenn es jetzt um die Entwicklung des Erzählens in der Kindheit geht, diese Einheitlichkeit betonen und davon ausgehen, dass Kinder Erzählungen nach den gleichen Prinzipien und Verfahren bilden, die auch Erwachsene leiten, und dass die Schwierigkeiten, die sie beim Konstruieren von Geschichten haben, denen gleichen – oder sich doch mit denen vergleichen lassen -, denen wir alle bei der Ausarbeitung von Geschichten begegnen. Wenn sich kindliche Erzählungen oft so anders und fremdartig anhören, geht das in meiner Sicht darauf zurück, dass sie die Integration der verschiedenen Bewusstseinsebenen, die in einer Erzählung zu einem einheitlichen Gebilde verbunden werden, noch unvollkommen zustande bringen und dass sie die formalen Verfahren, die das ermöglichen, erst teilweise zu handhaben verstehen. Mit anderen Worten gehe ich davon aus, dass die Entwicklung der kindlichen Erzählfähigkeit, sozusagen in Zeitlupe auseinandergezogen, den gleichen Wegen folgt, die wir bei der Bildung einer Geschichte durchlaufen. Die Stufen, über die sich ein Einfall oder ein Erlebnis zu einer Erzählung ausformt, geben auch in etwa die Phasenfolge vor, in der Kinder in einer über Jahre sich erstreckenden Entwicklung ihre Erzählfähigkeit ausbilden und verinnerlichen. Sobald sie erworben sind, stehen sie als Instrumente bereit, mit denen Geschichten nach den kulturüblichen Verfahren ausgedacht und ausgearbeitet werden.
Es ist faszinierend, dass schon die Anfänge kindlichen Erzählens durchsichtig machen, aus welchen Quellen sich Geschichten speisen. Die ersten Erzählungen versprachlichten alltägliche Verrichtungen, in die sich unvermittelt Sätze eingeschnitten fanden, die den Eindruck traumartiger Phantasien machten. Ich sehe in diesem Einbruch innerer Vorstellungsbilder in die Wiedergabe sozialer Verrichtungen den entscheidenden Hinweis darauf, warum das außerordentliche Ereignis Erzählungen überhaupt konstituiert und sie erzählenswert macht: Die Erzählung muss die inneren Gestaltungen in der äußeren sozialen Welt zur Geltung bringen und mitteilbar machen. Es sind Wahrnehmungen der „inneren Welt“, die in die soziale Außenwelt einbrechen, sich Gehör verschaffen und mit ihr in Einklang gebracht werden wollen. Um mitteilbar zu werden, müssen diese widersprüchlichen Ebenen der Erfahrung aufeinander bezogen und miteinander verbunden werden. Das Erzählschema und die planende Voraussicht, die es verlangt, dienen letzten Endes der Mitteilbarkeit der inneren Bilder und Empfindungen, und nur weil sie das leisten, bemühen sich Kinder, die Strukturen, die eine Äußerung zur Erzählung machen, sowie die kommunikativen Verhaltensweisen, die erzählendes Sprechen erfordert, zu übernehmen und zu beherrschen.
Die kurz nach dem Spracherwerb auftauchenden kindlichen Erzählungen machten durchgehend den Eindruck, sich ungeplant und spontan zu ergeben, indem die laufenden inneren Wahrnehmungen, ob Skriptbeschreibungen, Erinnerungen oder Phantasien unkontrolliert wiedergegeben werden. Je genauer die einzelnen Handlungselemente aufeinander bezogen werden, um sich zu einem fortlaufenden Geschehen zusammenzufügen, je mehr auch die phantasierten Einschübe in dieses Geschehen eingegliedert werden sollen, desto mehr muss der Aufbau der Erzählhandlungen strukturiert und vorgeplant werden. Schließlich wird eine komplexere Erzählung nur in dem Maße verständlich und mitteilbar, wie sie geplant und gegliedert ist, denn nur wo sie den vom Hörer vorausgesetzten Aufbau zeigt, kann er seine Erwartungen daran ausrichten und sie beim flüchtigen Hören vollständig aufnehmen.
Die Fähigkeit, Erzählhandlungen „richtig“ zu strukturieren, lässt sich an zwei Fragen abschätzen: Wie weit sind die Kinder erstens in der Lage, die vom Operationschema geforderten Bauelemente zu berücksichtigen, ihre Geschichten also den kulturüblichen Bauweisen anzupassen, und in welchen Stufen lernen sie ihnen zu entsprechen? Und wie gut gelingt es ihnen zweitens, die einzelnen Handlungsteile auseinander hervorgehen zu lassen und zu begründen, ihre Erzählung also „kohärent“ zu gestalten? Beide Fragen lassen sich unter dem Gesichtspunkt zusammenfassen, wie weit es die Kinder schaffen, die Erzählung im Akt des Erzählens zu planen und doch gleichzeitig für die Signale der Zuhörenden offen zu bleiben, also die eigene Bewusstseinstätigkeit sowohl auf den Ablauf der Geschichte wie auf die laufende Kommunikation hin auszurichten. Zwar kann man systematisch Strukturierung, planende Voraussicht und zusammenhängende Gestaltung der Erzählung von den kommunikativen Verständigungen abgrenzen, über die das Erzählen erfolgt. Tatsächlich sind sie beim mündlichen Erzählen jedoch unauflöslich miteinander verquickt: Nur indem die erzählenden Kindern ihre Geschichten immer besser nach dem vorgesehenen Muster ausrichten, können sie sich darüber mitteilen, und nur indem sie die Signale ihrer Zuhörer beachten, lernen sie Erzählungen regelgerecht aufzubauen. Vorausschauendes Planen und spontanes Kommunizieren müssen ständig und gleichzeitig geleistet werden.
Wenn wir diesen Zusammenhang auftrennen und zunächst danach fragen, auf welche Weise Kinder die im Erzählschema vorgesehenen Strukturen zu übernehmen und anzuwenden lernen, erhalten wir von den Geschichtengrammatikern zur Antwort: „Schon vom frühesten Lebensalter an hören wir eine besondere Art von Geschichten mit hochgradig ähnlichen Strukturen und nach und nach bilden wir eine abstrakte Repräsentation dieser Struktur aus“ (Mandler zit. nach Mancuso 1986, S.99). Die statische Ausrichtung ihrer Theorie verleitet sie anzunehmen, dieses Schema werde von Kindern im ganzen erkannt und verinnerlicht, und sie zeigen sich deshalb überzeugt, die meisten Menschen seien in der Lage „vor dem Ende des dritten Lebensjahres die grundlegenden Elemente der Geschichtenstruktur zu gebrauchen“ (Mancuso 1986, S.104).
Wie wir aber gesehen haben, zeigen die frühen kindlichen Erzählungen kaum Spuren der Geschichten, die ihnen erzählt, vorgelesen oder in Medien präsentiert werden. Sie zählen Alltagshandlungen auf oder erinnern sich an Erlebnisse, in die sich unvermittelt „unpassende“ Figuren, Handlungen oder Ereignisse eingereiht finden, Sprachäußerungen, wie sie die Kinder von ihren Bezugspersonen nicht zu hören bekommen. Dennoch enthalten solche Äußerungen prinzipiell zwei entscheidende Strukturelemente der Storygrammar: die „Normalität“ des anfänglichen Zustandes und den Einbruch des „Außergewöhnlichen“. Sobald ein Protagonist dazukommt und die Äußerungen aufeinander bezogen werden, haben wir schon die Minimalforderung der Geschichtengrammatiker erfüllt, nach der eine Geschichte „wenigstens einen belebten Protagonisten und eine Art kausaler Folge einschließt“ (Stein/Policastro, zitiert nach Mancuso 1986, S.93).
Gegen eine Übernahme des vorgegebenen Schemas spricht zweitens, dass zwar auch kindliche Erzählungen schon ein überraschendes Ereignis benennen, in den ersten Erzählversuchen eben in Form der in die Alltäglichkeit einbrechenden Phantasie, dass jedoch vollständige Strukturen, die auf die sichere Anwendung des Operationsschemas schließen lassen, zunächst eher gelegentlich und zufällig auftreten. Es ist nämlich keineswegs so, dass Kinder von einem bestimmten Augenblick an generell vollständigere Geschichten erzählen, wie es doch der Fall sein würde, wenn sie den Bauplan insgesamt zu einem bestimmten Zeitpunkt verinnerlicht hätten. Obwohl die Erzählungen mit steigendem Alter im Durchschnitt vollständiger werden, die Auseinandersetzung ihres Helden mit dem einbrechenden Ereignis genauer entwickeln und dann auch leichter zu einem Schlusspunkt finden, lassen sich dennoch kaum verlässliche Altersangaben oder Phasenfolgen beschreiben, nach denen sich die verbesserte Strukturierung ausrichten würde. Kinder können gelegentlich sehr früh Geschichten präsentieren, die alle wesentlichen Bestandteile berücksichtigen, und sich im nächsten Versuch in der Abfolge verheddern, Teile durcheinanderlaufen lassen und dann allenfalls noch zu einem aufgesetzten Schluss-Satz finden. Ich meine deshalb, dass die Grundbausteine, aus denen sich eine Geschichte aufbaut, nicht gelernt werden müssen: Sie entstehen mit dem wachsenden Bewusstwerden der menschlichen Innenwelt. Sie treten naturwüchsig auf, sobald die inneren Vorstellungen in erzählender Rede versprechlicht werden. Die phantastischen Einschübe in erinnerte soziale Handlungen ergeben so etwas wie eine Vorform des ungewöhnlichen Ereignisses, und damit ist die Dynamik in Gang gesetzt, die das Erzählen antreibt und in Gang hält. Die überraschenden Mischungen von Alltäglichkeit und Phantasie bilden die Kerne, aus denen sich allmählich vollständigere Geschichten entwickeln.
Auch im weiteren Verlauf richten sich die kindlichen Erzählungen kaum an den Vorbildern aus, die ihnen die Umgebung bietet. Es macht vielmehr den Eindruck, als hinge die gelungene Durchstrukturierung und die Beachtung der Erzählregeln von der jeweiligen Erzählsituation ab, von den Anregungen und von der Unterstützung, die die Kinder durch die Zuhörer im Moment des Erzählens erfahren. Es sind ja zunächst vor allem die erwachsenen Bezugspersonen, die das Publikum kindlicher Erzählungen stellen und die, wie wir gesehen haben, die tastende Erzählweise durch Nachfragen präzisieren und durch Zusätze ergänzen, schließlich auch dazu auffordern, die Erzählung zu wiederholen. Aber selbst wo sie nicht eingreifen, verhalten sie sich nach den Regeln des gesprächsweisen Erzählens, das den Zuhörern einen beträchtlichen Einfluss auf Fortgang und Ausgestaltung der Erzählung zugesteht. Über diese Erfahrungen dürften Kinder immer genauer die verbindlichen Strukturen von Geschichten durchschauen, daraus Erwartungen ihrer Zuhörer ableiten und ihnen zu entsprechen versuchen. Und je ausgiebiger ihre Erzählfreude im familiären und sozialen Milieu angeregt wird, desto früher und desto sicherer werden sie lernen, vollständige Geschichten zu konstruieren. Es ist also eher die in der Erzählsituation gegebene Anregung, die die Beachtung des Schemas stimuliert, und es dürfte das Interesse des erzählenden Kindes sein, sich verständlich zu machen, das es dazu führt, den Erwartungen der Zuhörenden zu entsprechen und die Erzählung zu strukturieren und vorauszuplanen, sich die erzählten Handlungen immer genauer vorzustellen und auszuphantasieren. In vergleichbarer Weise werden die ersten Spielakte zufällig von Gegenständen und Handlungen angestoßen, mit wachsender Spielfähigkeit exakter vorgestellt und nach der inneren Vorstellung ausgeführt, bis über die wachsende und komplexere Spieltätigkeit die innere Vorstellung zum ausschließlichen Regisseur des Spiels wird.
Die Elemente des Erzählschemas stellen nur das Raster dar, das durch detailliertere Darstellung ausgefüllt werden muss. Dass eine Erzählung strukturgerecht aufgebaut wird, erfüllt nur eine Bedingung ihrer Erzählbarkeit. Dazu kommt als zweite Bedingung, wie überzeugend der phantastische Einfall oder das überraschende Ereignis mit der alltäglichen Wahrscheinlichkeit verwoben wird, ob und in welcher Genauigkeit es gelingt, die Handlungselemente auseinander hervorgehen zu lassen und damit die innere „Kohärenz“ der Erzählhandlungen zu sichern. Oder wie sich auch formulieren ließe: Nachdem die im Operationsschema vorgesehenen Bauelemente platziert sind, machen sich die Konstrukteure an die Feinarbeit, die die ganze Konstruktion wie aus einem Guss wirken lassen. Auf der Ebene der Handlungsfolge geht es darum, jeden einzelnen Schritt als die unausweichliche Folge des vorhergehenden Schrittes erscheinen zu lassen, die Handlungen als ineinandergreifende Kettenglieder darzustellen. Da das entscheidende, die Erzählung begründende Glied stets ein „Fremdkörper“ sein muss, geht es zugleich darum, das überraschende Ereignis, das unwahrscheinliche Verhalten in den geregelten Lauf der Dinge einzugliedern. Oder wenn ich diesen „Fremdkörper“ als Einbruch psychischer Bilder in den gesellschaftlichen Alltag begreife, kann ich sagen, es gehe darum, sie in die Welt der sozialen Wahrnehmung einzufügen.
Da Kinder situationsbezogen erzählen, Handlungen und Ereignisse noch weitgehend spontan und ungeplant improvisieren, gelingt es ihnen zunächst nur selten, die einzelnen Szenen ihrer Erzählung zu einer konsequenten Handlungsfolge zu verbinden. Sie beweisen jedoch große Geschicklichkeit, auftauchende Widersprüche nachträglich zu glätten oder Lücken spontan auszufüllen, und vermutlich antworten sie damit auf Signale, die ihnen die Zuhörer entgegenbringen, und zeigen zugleich, dass es ihnen bewusster zu werden beginnt, wie eine „richtige“ Geschichte gebaut sein muss.
„Ganz am Anfang geht es erst darum, da war ein großes Schiff. Es war rund und dann lebten da auf ihm fünf Leute. Und dann gingen sie ins Bett und ließen das Fett auf dem Ofen und das Schiff brannte aus. Sie fielen alle ins Wasser und wurden von einem Wal verschluckt“. Erst nachdem seine Matrosen im Maul des Walfisches sitzen, sucht der fast fünfjährige Erzähler nach einer Möglichkeit, sie wieder daraus zu befreien. Und dann hatten sie da, bevor sie ins Wasser sprangen, einen Stock, mit dem Stock schlugen sie dem Wal auf den Rachen. Und weißt du, was dann passierte? Dann waren sie frei und sprangen aus dem Maul des Wales raus“. Die zu kurz greifende Planung hindert ihn daran, ihnen das Instrument ihrer Rettung rechtzeitig in die Hand zu drücken. Den Kauf des Hausbootes überlässt er dann ganz dem Segen des Himmels, statt ihn beispielsweise durch ein vorbeifliegendes Flugzeug zu begründen, dessen Pilot das Geld aus der Tasche fällt, oder mit einer Möwe, die das glitzernde Geldstück im Schnabel hält und verliert. „Und dann kamen sie aus dem Wasser hoch und sie fanden ein neues Boot und sie fanden ein Geldstück am Himmel und sie fingen es, als es runterfiel, und sie bezahlten das Hausboot und sie ließen nie wieder das Fett auf dem Ofen und den Ofen an“ (Pitcher/Prelinger 1962, s.94). Der Erzähler zeigt sich aber dann doch geschickt genug, auch nach diesem Bruch zu einem soliden Schluss zu finden, indem er den Anfang wieder aufnimmt und die Geschichte damit abrundet.
Wo sie nicht einsam vor einem Publikum erzählen, sondern in der ihnen vertrauten Situation des Gesprächs, können Kinder die spontanen Einfälle, die ihnen beim Erzählen kommen, recht problemlos in ihre Geschichten eingliedern, und bemerken Brüche und Widersprüche während des Erzählens an den offenen oder verdeckten Reaktionen des Zuhörers. Die fünfjährige Jenny hatte dem Vater angekündigt, eine Geschichte zu erzählen von Kindern, die an einem Tag ganz böse und am nächsten die liebsten Kinder von der Welt seien. Ihre Bosheit bestand darin, dass sie sich heimlich Süßkram aus der „Naschkiste“ klauten.
„J: ….aber die Mutter wusste das, weißt du woher?
V: Nee.
J: Weil sie in der Nacht dann den Süßkram ausgekotzt hatten, weil sie zu viel gegessen haben.
V: Das war aber doch erst in der Nacht danach. Also die Mutter hat das dann in der Nacht entdeckt, als sie zurückkam, wusste sie es noch nicht, oder doch?
J: Nee, nur in der Nacht.
V: Und was hat sie gemacht, als sie zurückkam?
J: Da hat se’s auch noch gesehen, weil die Naschkiste, nee, am Tage hätte sie’s auch noch gesehen, ja?
V: Ja, mhm.
J: Weil die Naschkiste offen auf’m Tisch war, ja?“ (Parmentier 1989, S.39).
Vorschulkinder machen den Eindruck, als seien sie noch kaum imstande, ihre Aufmerksamkeit auf beide Gesichtspunkte zu richten, die der Erzähler stets gleichzeitig zu berücksichtigen hat: einerseits die übersichtliche Strukturierung der Gesamthandlung und andererseits die genaue Ausgestaltung und Verknüpfung der einzelnen Handlungsteile. Ich nehme an, dass beide Anforderungen auch deshalb so schwer zu koordinieren sind, weil die Strukturierung der Bauelemente von sprachlichen Operationen abhängt, während die Folgerichtigkeit innerhalb der einzelnen Szene über die bildhafte Vorstellung vorgenommen werden dürfte. Es ist jedenfalls auffällig, dass es gerade die knappen, szenisch und sprachlich wenig ausgestalteten Erzählungen sind, die am ehesten vollständig durchstrukturiert werden, wie die Geschichte, die sich der gleichaltrige Nathaniel ausdachte: „Zwei kleine Jungen gingen mit ihrer Mutter und ihrem Vater in den Dschungel. Tiger mit leuchtenden Augen. ‚Ich bin ein guter Tiger und will euch für mein Baby mit nach Hause nehmen, damit es mit euch spielen kann. Wenn ihr Hunger habt, sagt es mir und ich werde euch was zu essen geben.‘ Da sagten sie: ‚Löwe, ich bin hungrig.‘ Da ging er raus und erwischte eine tote Maus. Und sie sagten: ‚Ich mag keine tote Maus.‘ Da brachte er den kleinen Jungen nach Haus. Und Mama sagte: ‚Geh ins Bett!‘ Da gingen der Junge und das Mädchen ins Bett“ (Pitcher/Prelinger 1962, S.86).
Sobald die Handlungen sprachlich detaillierter ausfallen und wohl auch stärker ausagiert werden, worauf die ausführlicheren direkten Reden hindeuten, schaffen es die Erzählenden bis zum Alter von sechs oder sieben Jahren nur in Ausnahmefällen, eine geordnete Abfolge der Bauteile sicherzustellen und zu einem schlüssigen Ende zu finden. Es ist, als ob die Reichweite der Planbarkeit noch begrenzt wäre, die detaillierte Ausgestaltung der Einzelszenen die Aufmerksamkeit vom Planungsprozess abziehen würde, beim Erzählen auftauchende Einfälle von der eingeschlagenen Linie ablenkten und sich die Erzählung auf diese Weise auf Nebenwegen verirrte.
Die Integration von Alltagserfahrung und Phantasie
Wenn Kinder verhältnismäßig lange brauchen, bis ihnen die formalen Muster und Verfahrensweisen, die das Erzählen verlangt, vollständig zur Verfügung stehen, dann liegt das nur vordergründig daran, dass sie noch nicht fähig wären, diese Regelsysteme zu durchschauen und anzuwenden. Solange man nur die sprachlichen Strukturen betrachtet, wird man kaum verstehen können, warum Erzählschema und narratives Kommunikationsverhalten sich über so lange Zeiträume hinweg ausbilden, während doch die gleichfalls hochkomplizierten Sprachstrukturen, die dem alltäglichen „instrumentellen“ Sprechen dienen, recht rasch und recht gut übernommen werden. Sowohl das Erzählschema wie die zusammenhängende und szenisch ausgearbeitete Darstellung sind eben mehr als formale Regelungen: Sie dienen der Integration der beiden Bewusstseinsschichten, die in einer Geschichte aufeinander bezogen und miteinander verbunden werden, und es ist diese Integration, die Schwierigkeiten bereitet.
Die kindlichen Erzähler kämpfen sichtlich immer wieder damit, die in der Erzählung auftauchenden Ebenen ihrer Erfahrung miteinander in Einklang zu bringen, die Alltagswahrnehmungen und erinnerten Erlebnisse mit ihren Phantasiegestaltungen zu einem konsequenten und zusammenhängenden Gebilde zu verbinden. Wir haben gesehen, dass die ersten erzählenden Äußerungen beide Sphären der Erfahrung unvermittelt nebeneinander setzten, und sie zeigen dabei ein recht einheitliches Bild. Die Erzählungen der Vier- oder Fünfjährigen fallen dagegen recht unterschiedlich aus. Gelingen oder Scheitern hängt aber offenbar nicht an einer mehr oder weniger geschulten formalen Erzählfähigkeit, denn Erzählungen desselben Kindes können in einem Fall schon eine vorbildliche Form erreichen und bei der nächsten Gelegenheit wieder in widersprüchliche Äußerungen oder gar in lose Aneinanderreihungen zurückfallen. Alle Erzähler versuchen nun zwar in der einen oder andern Weise, Wunschvorstellungen und Ängste in die gewohnte Umwelt zu verpflanzen, oder umgekehrt Phantasien mit Partikeln der Alltagswahrnehmung zu vergegenständlichen, es gelingt ihnen aber meist nur ansatzweise. Die formgerecht gebauten Geschichten sind fast durchweg auch diejenigen, die Phantasie und soziale Erfahrung am geschicktesten zu integrieren verstehen, und umgekehrt weisen die formalen Brüche und Inkonsequenzen auf die missglückende Verbindung dieser Erfahrungsebenen hin.
Die vierjährige Chloe zum Beispiel verliert den Faden ihrer Geschichte, indem sie sich nicht zwischen einer fiktionalen Geschichte und einer Erinnerung an einen Restaurantbesuch entscheiden kann. Mit dem Einstieg: „Es war einmal ein kleines Mädchen, das zu einem Restaurant spazierte“, dürfte die Erzählerin vorgehabt haben, den eigenen Restaurantbesuch an ihrer Protagonistin nachzuerleben, aber dann bricht sich schon mit dem zweiten Satz ihr Erlebnis Bahn und verdrängt die fiktive Heldin. „Und ich wusste schon, was ich zum Essen haben wollte. Ich setzte mich hin und wusste nicht, was ich tun sollte, deswegen ging ich und ging und ich wusste es nicht. Deswegen nahm mich meine Mutter aus dem Restaurant raus und ging mit mir ins Auto und ließ mich da, sie wusste auch nichts zu tun und holte mich raus und ging wieder rein, dann kam die Bedienung und fragte: ‚Was wünschen Sie zu essen?'“ Mit dem Wechsel in die dritte Person, die sich für Kinder mit Fiktivität verbindet – fiktive Erzählungen erscheinen so gut wie nie in der ersten Person – , kündigt die Erzählerin an, dass sie sich auf ihre ursprüngliche Absicht zurückbesinnt, die dann im letzten Abschnitt zu einer frei phantasierten Episode führt. „Dann gingen sie und aßen das Essen. Sie gingen mit dem kleinen Mädchen nach Hause, so dass wir alle Essen gehabt hatten und nach Hause gingen. Eines Tages wachte das kleine Mädchen auf und ging vorsichtig aus dem Bett und zog ihre Jacke an. Sie ging ganz früh in der Nacht aus dem Zimmer, als niemand sie sah. Dann ging sie nach draußen und nahm ein kleines Fahrrad und fuhr weit weg in die Wüste. Als sie einen Araber sah, rannte sie weg“ (Pitcher/Prelinger 1962, S.95).
Eine Erzählung des fünfjährigen Alan setzt mit einem phantastischen Paukenschlag ein: „Als ich zu Hause war, schaute ich ins Klosett und sah einen riesig großen Bären“. Es ist der Einbruch von Phantasiefiguren in die Alltagswelt, wie ihn schon so viele Erzählungen der Zwei- und Dreijährigen vorführten, ohne eine Verbindung mit ihrer alltäglichen Lebenswelt herzustellen. Alan sucht nun aber die gefährliche Entdeckung in seinen Alltag hereinzuholen, repräsentiert der Bär doch auch ein alter Ego, das ihn selbst mächtiger und gefährlicher macht. Dazu müsste er aber auf der vordergründigen Handlungsebene die Konflikte ausphantasieren, die das bedrohliche Tier in seiner Umgebung auslösen würde, und auf der psychischen Ebene sich mit seiner eigenen gefährlichen Natur konfrontieren. Er scheut beides, degradiert seinen gefürchteten Freund zu einem Kuscheltier und muss deshalb, wiederum ganz in der Art der ersten Erzählungen, in eine bloße Aufzählung von Alltagsverrichtungen abgleiten. „Ich behandelte ihn wie einen netten kleinen Bären. Wir gingen oft zusammen in den Park. Wir schliefen zusammen und wir aßen zusammen. Am nächsten Morgen schauten wir zusammen ein Buch an, und dann halfen wir meinem Vater, das Haus anzustreichen. Im nächsten Winter war Weihnachten, und ich bekam eine neue Jacke. Mein Teddybär bekam einen Babyteddybären, und sie lebten glücklich zusammen. Ende“ (Sutton-Smith 1981, S.126).
Es ist offensichtlich für Kinder dieses Alters nicht einfach, einen phantastischen Einfall kompromisslos mit der sozialen Erfahrung zu konfrontieren, diese Konfrontation konsequent durchzuspielen und zu einem klaren Abschluss zu bringen. Wiederum scheint die Verschmelzung von Phantasie und Alltagswahrnehmung am ehesten dort zu glücken, wo die Erzählung knapp und übersichtlich gehalten werden kann, wie in der Geschichte der fast sechsjährigen Tracy: „Da war ein Junge, der hieß Jonny Hongkong, und als er größer wurde und zur Schule ging, da machte er nichts mehr, hockte nur den ganzen Tag herum und dachte nach. Er ging kaum einmal ins Badezimmer. Und er dachte jeden Tag nach, und bei jedem Gedanken, den er dachte, wurde sein Kopf größer und größer. Eines Tages wurde er so groß, dass er mit Koffern und Winterkleidern im Hof leben musste. Deswegen kaufte seine Mutter einige Goldfische und ließ sie in seinem Kopf leben – er verschluckte sie -, und jedes Mal, wenn er nachdachte, würde der Fisch es auffressen, bis er gerade wieder so war, dass er nicht wieder nachdachte, und er fühlte sich viel besser“ (Pitcher/Prelinger 1962, S.133).
Die Erzählerin spart sich ablenkende Details oder ausschmückende Erweiterungen, wir erfahren nichts über die Gedanken, die den misshandelten Kopf des Helden anschwellen lassen, noch werden die Reaktionen der besorgten Mutter ausgemalt, überhaupt enthält sich die Erzählerin jeder direkten Rede. Sie schafft es wohl auch deshalb, ihre Erzählung geschlossen und konsequent zum Abschluss zu bringen, muss dazu aber auf ein Gestaltungsmittel verzichten, das ihren Einfall noch plastischer und überzeugender in die Welt der gewohnten Handlungsmuster einzupassen erlaubt hätte. Ich rede von der „szenischen Darstellung“, die das Geschehen „aus der Erlebensperspektive einer der an der Geschichte Beteiligten versprachlicht“ (Hausendorf/ Quasthoff 1996, S.23).
Die szenische Ausführung der Erzählung
Uta Quasthoff unterscheidet zwischen dem „Diskursmuster“ des beschreibenden Berichtens auf dem einen Ende einer Skala von Darstellungsformen, an dessen anderem Ende die teilnehmende Ausgestaltung liegt. Der Erzähler wähle bei der Wortwahl seines Erzähltextes auf dieser Skala aus, welche Form sprachlicher Darstellung seinen Kommunikationszielen am besten gerecht werde (Quasthoff 1977, S.320). Sie siedelt auf dieser sogenannten „Informationspyramide“ nur sprachliche Alternativen an, wie etwa die indirekte oder die direkte Rede einer beteiligten Figur. Die im Wortsinn „szenischen“ Mittel gestischer und schauspielerischer Darstellung werden übergangen. Das Konzept ruft nach dieser Erweiterung, und wir können dann sagen, der Erzähler müsse in jedem Moment der laufenden Erzählung den Grad an sprachlicher und gestischer Detailliertheit auswählen, der ihm im Zusammenhang der Erzählung wie von den Reaktionen seines Publikums her angemessen erscheint.
In einer mit Heiko Hausendorf durchgeführten Untersuchung wurde ein Vorfall gestellt, den sich die Untersucher dann von beteiligten Kindern wiedergeben ließen, den Wortlaut festhielten und auswerteten. Ein Ergebnis scheint mir hier von Interesse: Sie stellten fest, dass die szenische Ausarbeitung der Erzähltexte in der Gruppe der Siebenjährigen plötzlich deutlich gegenüber den Fünfjährigen anstieg und dass gleichzeitig die erwachsenen Untersucher, die den Kindern gegenüber als Unbeteiligte auftraten, ihre Erwartungen an eine detaillierte „Elaborierung“ steigerten. Dieses Ergebnis ist wiederum mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten, da der Erzählanlass – ein heruntergefallener Kassettenrecorder und eine daran anschließende Auseinandersetzung der beiden Hilfskräfte, ob man das Missgeschick dem Untersuchungsleiter verraten solle – die Erzähllust der beteiligten Kinder nicht gerade herausforderte. Sie erzählten dann auch kaum von sich aus, sondern auf Nachfragen der Untersucher, die gesamte Situation entfernt sich damit weit vom spontanen Erzählen, bei dem Kinder vor einer anregenden Zuhörerschaft gelegentlich schon längst vor dem siebten Lebensjahr ihre Erzählungen szenisch ausführen können. Dennoch dürfte es zutreffen, dass etwa ab dieser Altersstufe die szenisch-dramatische Ausgestaltung zunimmt, bewusster gesucht und wahrgenommen wird. Ich möchte diese Beobachtung aber darauf zurückführen, dass die gemeinsamen Rollenspiele der Vorschulzeit an Beliebtheit verlieren und das sprachlich-gestische Erzählen an Bedeutung gewinnt. Mit der „szenischen Elaborierung“ wird die im Rollenspiel ausgebildete Fähigkeit darstellenden Spielens in die Erzählung eingegliedert, die sprachliche Darstellung übernimmt nun die Führung gegenüber dem Spiel, die ausgespielte Rolle verkürzt sich auf direkte Reden und gestisch-mimische Zeichen.
Die Erzählerin der folgenden Geschichte dürfte in ihrer Sprachgewandtheit vielen Gleichaltrigen voraus sein, zumal sie ihre Erzählungen auf ein Kassettengerät sprach und deshalb auf die lebendige Rückmeldung und Anregung durch Zuhörer verzichten musste. Sie schafft aber eigentlich nur, was weniger Sprachbegabte ein oder zwei Jahre später meistern, indem sie ihre Spielfähigkeit in die sprachliche Inszenierung überführen.
„Geheimadlerchen ging einmal durch den Urwald, und dann wollte er nach Afrika, jaja, dann flog er auch wirklich dahin, da kam ein Löwe und jagte ihn, und Geheimadlerchen rannte so schnell er konnte. ‚Ich wusste ja nicht‘, sagte er, ‚dass der Löwe so schnell laufen konnte, so schnell laufen kann‘, und er rannte und rannte so schnell er konnte, dann huschte er auf eine Palme. Der Löwe rannte um die Palme rum, weil er dachte, er jagt noch den Adler. Und dann wurde ihm klar, er war auf die Palme gehuscht. Brrrr, der Löwe brüllte mit Kraft und sprang auf die Palme, Geheimadlerchen war unten. Dann wurde dem Löwen klar, dass Geheimadlerchen unten war, und dann ging es immer zick zack, zick zack, nach oben und unten, oben-unten, oben-unten, oben-unten und immer an derselben Stelle. Einmal der Löwe drauf, einmal Geheimadlerchen, weil dem Löwen das immer klar wurde, dass Geheimadlerchen nicht da war, wo der Löwe war. Und dann wurden sie Freunde, weil der Löwe so aus der Puste war. Dann hat Geheimadlerchen den Löwen mitgenommen.“
Offenbar konzentriert sich die Erzählerin in dieser Passage auf die Inszenierung der Verfolgungsjagd, die ihr mit erstaunlicher sprachlicher Geschicklichkeit und einem genauen Sinn für die dramatische Spannung gelingt, und die sie zugleich mit Lautgesten illustriert. Sie versäumt im Eifer des Gefechts aber, die Kontrahenten in nachvollziehbaren Schritten miteinander zu versöhnen. Erst beim Erzählen wird ihr klar, dass sie die Verfolgungsjagd zu einem Abschluss zu bringen hat, und sie zaubert kurzerhand eine Freundschaft aus dem Hut, ohne sie in der vorangehenden Handlung anzulegen. Um die aufeinander folgenden Handlungsteile genau zu motivieren, müsste die Erzählerin den gesamten Handlungsablauf überblicken, und den verliert sie über der sprachlichen Detaillierung offenbar immer wieder aus den Augen.
Wenn sie in der nächsten Episode dann die unerwartete Freundschaft zwischen Adlerchen und Löwe ausphantasiert, beschäftigt sie sich so sehr mit Rede und Gegenrede der beiden, dass ihr auch hier kaum Raum mehr bleibt, die strukturellen Anforderungen der Erzählung zu berücksichtigen.
„Nach so vielen Tagen und Nächten plötzlich war der Löwe eines Nachts weg. Er saß im Gefängnis, das wusste natürlich keiner. Geheimadlerchen machte das Gefängnis auf, und der Löwe sprang raus mit ihm zusammen.
‚Vorsicht! Nicht so, du tust dir weh! Du wirst schwindelig, dir wird schlecht.‘.
‚Aha‘, sagte der Löwe.
‚Komm, wir nehmen diese lange Leiter, hopp hopp. Nein, wir fliegen zusammen. Warte, ich hab noch ein Netz.‘
‚Wofür?‘
‚Um dich zu tragen, hab ich Seile.‘ Und er nahm die Seile fest in die Krallen und sie flogen nach unten. Dann gingen sie weiter“ (Das Beispiel wurde mit freundlicher Genehmigung von Helga Böving zur Verfügung gestellt).
Die ganze Passage wirkt nicht zufällig wie eine Rollenspielsequenz, die, vom darstellenden Spielen abgelöst, nur noch die Wechselreden der Spieler wiedergibt. Auch in dieser zweiten Episode weicht die Erzählerin dem in ihrer Geschichte angelegten Konflikt aus: Während sie vorher das Umschlagen der Verfolgung in die Freundschaft übergeht, wird jetzt die Frage, warum der Löwe ins Gefängnis geriet und wer ihn einsperrte, kurzerhand ausgeblendet.
Konfliktführung kindlicher Erzählungen
Ich habe das die Erzählung auslösende überraschende Ereignis darauf zurückgeführt, dass Wahrnehmungen der psychischen Innenwelt in die soziale Welt einbrechen und es gerade die Strukturmuster und die Regeln zwischenmenschlichen Erzählens sind, die zur Verknüpfung dieser beiden Erfahrungsebenen verpflichten. Das Erzählschema, das die strukturelle Verbindung der beiden Bewusstseinssphären ermöglicht, schließt nicht mit ein, dass die den geregelten Alltag störenden Troubles sich gegen die sozialen Erwartungen durchsetzen, oder anders gesagt, dass die Geschichte zu einem glücklichen Ende gebracht wird. Das Operationsschema der Geschichtengrammatik fordert wohl ein klares Ergebnis, lässt aber offen, ob die Erzählung ihren Helden zum Erfolg führt oder scheitern lässt. Gleichwohl ist das in unserem Kulturkreis vorherrschende Modell auf die in Kampf und List siegreiche Bewährung des Helden angelegt. Schon unter den Erzählungen, die uns die mündliche Tradition überliefert, überwiegen bei weitem die erfolgreichen Helden, die an das Ziel ihrer Wünsche gelangen, insbesondere bestehen die Märchen auf diesem glücklichen Ausgang, und selbst der tragisch scheiternde Held vieler Heldenepen hat sich dennoch einen Ruhm erworben, der ihn im Gedächtnis der Nachwelt lebendig erhalten wird, weil er die Macht der höheren Werte bewies, denen er folgte und die seinen Untergang schließlich in einen Sieg verwandeln. Auch die meisten im Alltag erzählten Geschichten, insbesondere jene Storys, mit denen sich der Erzähler seines Mutes, seiner Voraussicht oder seiner Klugheit versichert, gipfeln gleichfalls im kühn erkämpften oder im listig erschlichenen Erfolg des heroischen Erzählers. Noch ungebrochener und oft jeder nachvollziehbaren Wahrscheinlichkeit spottend, behauptet sich das Happy End in den trivialen Produktionen der Massenmedien oder der Bestsellerliteratur. Nicht zuletzt bestehen auch die für Kinder vorgesehenen Medien auf einem glücklichen Ausgang, selbst die pädagogisch ambitionierte Kinderliteratur kann darauf kaum verzichten und riskiert, wo sie es in kritischer Absicht tut, ihre Leserschaft zu verlieren. Erzählen scheint demnach so etwas wie eine „natürliche“ Tendenz zum guten Ausgang zu kennen. Die aktive Überwindung des Gegenspielers und der unwiderrufliche Sieg des Helden stellen das verbindliche Modell dar, nach dem „echte“ Geschichten in unseren kulturellen Breiten geschneidert sein müssen und das in Bezug zum Ideal einer unabhängigen, selbstbewussten, aktiven und individuellen Persönlichkeit zu sehen ist.
Unter dem Gesichtspunkt, unter dem ich hier Erzählungen betrachte, macht diese Übermacht der Erfolgsstory in Literatur und Medien durchaus Sinn, lässt sie sich doch als die endgültige und unwiderrufliche Integration der in das soziale Umfeld einbrechenden inneren Gestaltungen begreifen, als gelungene Realisierung von Einfällen, die aus dem Unbewussten aufsteigen, von tief verankerten ununterdrückbaren Strebungen oder von Gefühlen, die alle sozialen Schranken sprengen und überwinden. Nur in einem vergleichsweise schmalen Bereich der „gehobenen“ Schriftliteratur kann sich die gesellschaftliche Welt gegen die innere Landschaft des Protagonisten durchsetzen, wird das tragische Scheitern an den gesellschaftlichen Verhältnissen thematisiert oder der Einzelne als Produkt dieser Verhältnisse geschildert. Ähnlich verfährt – was vielleicht mehr als eine zufällige Parallele ist – die moralische Beispielgeschichte, die die pädagogische Kinderliteratur des 18. Und 19.Jahrhunderts beherrschte und die Kinder von klein an auf die gesellschaftliche Wirklichkeit auszurichten versuchte. Der innere Widerspruch solcher Erzählungen liegt darin, dass sie die vorbildlichen Werte immer nur am negativen Gegenbeispiel exemplifizieren können, den Hans-Guck-in-die-Luft oder den Suppenkaspar brauchen, um über ihn die gefährlichen Folgen solchen Verhaltens an die Wand zu malen. Sie brauchen die drastische Verletzung der Verhaltensregeln, um deren vorbildliche Befolgung darstellen zu können. Die unleugbare Beliebtheit, die die gelungenen Exemplare dieser Art Moralliteratur auf Kinder ausübt, verdankt sich vermutlich nicht nur der geheimen Attraktivität der bösen Helden, sondern dürfte ebenso sehr damit zusammenhängen, dass sie mit ihrem bitteren Ende einem Modell folgen, das an kindlichen Wahrnehmungen anknüpft und in spontanen Erzählungen von Kindern auffallend lange vorherrscht.
Denn sieht man sich die kindlichen Erzählungen vor diesem Hintergrund an, macht man die überraschende Feststellung, dass sie dem Heldenschema zunächst überhaupt nicht entsprechen und offenbar lange Jahre brauchen, um sich ihm anzunähern. Ich habe bisher den Gesichtspunkt der Konfliktführung hinter dem der formalen Gestaltung zurückgestellt, aber wenn wir uns die zitierten Geschichten ins Gedächtnis rufen, werden sie fast alle von gefährlichen und bedrohlichen Ereignissen ausgelöst, und nur wenige Erzähler verstehen, diese Gefährdungen zum Guten zu wenden. .
Das gilt nicht nur für die Phantasiegeschichten, die ich hier stärker berücksichtige, weil sie die inneren Vorstellungen sichtbarer hervortreten lassen. Auch für die kindlichen Erzählungen sehe ich keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen personal und fictional story, und tatsächlich bevorzugen auch die Alltagserzählungen von Kindern belastende und gefährliche Erlebnisse. Die meisten Erzählungen, die Peggy Miller von Kindern in Arbeiterfamilien aufnahm, handelten von unangenehmen und belastenden Erfahrungen. Allein 43 % der Geschichten kreisten um Unfälle wie zum Beispiel stolpern und hinfallen, die Treppe runterfallen, vom Fahrrad fallen, sich verbrennen, von einem Fahrzeug erfasst werden, um Aggressionen wie gestoßen, geschlagen, gerissen oder gezwickt werden, oder Krankheiten, Zahnarztbesuche oder Impfungen. Diese Schieflage sei sogar noch auffallender bei Erzählungen gewesen, die die Kinder unaufgefordert von sich aus berichteten (Miller/Sperry 1988, S.303).
Es berührt merkwürdig, dass die Konflikte, die in kindlichen Erzählungen ausgetragen werden, und die Lösungen, die sie dafür suchen, insbesondere von der linguistisch ausgerichteten Erzählforschung fast vollständig vernachlässigt werden. Im Mittelpunkt der Darstellung stehen sie nur in dem Modell, nach dem Sutton-Smith die Entwicklung von Plotstorys ordnet, und das im deutschen Sprachraum mit Modifikationen von Reinhard Fatke übernommen wird. Es dürfte kein Zufall sein, dass beide Autoren Sammlungen frei geäußerter kindlicher Erzählungen ausgewertet haben. Indem sie einen in der erzählten Handlung angelegten Grundkonflikt in seinen verschiedenen Lösungsweisen verfolgen, verbindet ihre Konstruktion inhaltliche mit strukturellen Gesichtspunkten. Es sind nun nicht mehr formale kognitive oder sprachliche Strukturen, die die kindlichen Erzähler übernehmen, sondern es sind Konflikte, die erzählend bearbeitet, und Lösungswege, die über die wachsende Erzählfähigkeit nach und nach erkundet werden.
Aber, so könnte man gegen diese Sichtweise einwenden, gibt es überhaupt so etwas wie typische Konflikte in den Geschichten, die Kinder erzählen? Erzählt nicht vielmehr jedes Kind von seinen eigenen Problemen und Ängsten, die nach seiner persönlichen Erfahrung, den Umständen seines Aufwachsens, seiner familiären Situation usw. sehr unterschiedlich ausfallen müssen? Das ist sicher richtig, solange man sich auf die Einfälle und ihre Ausgestaltung bezieht. Fragt man jedoch nach dem Muster, nach dem Konflikte auftreten und gelöst werden, zeigen die Erzählungen eine überraschende Einheitlichkeit. Sie dramatisieren in erfindungsreichen Variationen und mit immer neuen überraschenden Einfällen das gleiche, stets wiederkehrende Konfliktmodell. Fatke fasst diesen Grundkonflikt, den er in 90% der Geschichten wirksam findet, die er von Kindern zwischen drei und zwölf Jahren sammelte, in die Formel: „Zwei unterschiedlich starke Mächte stehen einander gegenüber, und aus der Überlegenheit der einen Macht ergibt sich eine Bedrohung und eine Gefahr für die andere“ (Fatke 1994, S.14). Diese Ausgangslage führt von selbst zu der Frage, wie sich der Unterlegene dazu stellt, ob er sich einfügt, überwältigt wird, sich zu wehren versucht und wie weit ihm das gelingt, und damit sind die Varianten der Konfliktbearbeitung vorgegeben.
Es ist aufschlussreich, dass Sutton-Smith dieses Modell von den Anthropologen Elli und Pierre Maranda übernehmen konnte, die damit die grundlegenden Bauformen von Volkserzählungen zu erschließen suchten: „Ihnen zufolge sind in Erzählungen, die Konflikte behandeln, vier Formen der Reaktion (des Helden) möglich: (I) Erzählungen, in denen eine Macht die andere überwältigt und wo es keinen Versuch einer Reaktion gibt; (II) Erzählungen, in denen die unterlegene Macht eine Reaktion versucht, aber scheitert; (III) Erzählungen, in denen die unterlegene Macht die ursprüngliche Gefahr außer Kraft setzt; (IV) Erzählungen, in denen nicht nur die Bedrohung beseitigt wird, sondern die Ausgangssituation grundlegend verändert wird“ (Sutton-Smith 1975, S.87). Erweitert man dieses Modell um den Fall, wo in der Ausgangssituation keine eigentliche Bedrohung stattfindet, sondern vom Helden ein bedrohlicher Mangel erfahren wird, auf den er irgendwie zu reagieren hat, dann lassen sich darunter nahezu alle überlieferten Volkserzählungen fassen, von den unheilschwangeren Sagen, in denen höhere Mächte vorwitzige Menschen bestrafen, über die Zaubermärchen, deren Helden den Beistand jenseitiger Helfer genießen, und den Schwänken, wo sich der Unterlegene mit List und Klugheit zu wehren versucht, bis hin zum Heldenepos, dessen Protagonist sich durch Mut, Ausdauer und Stärke bewährt. Es handelt sich hier offensichtlich um übergreifende Strukturen, die zwar dem Schema der Geschichtengrammatik noch sehr nahe stehen, aber eine inhaltliche Ausrichtung bekommen: Wo das Storyschema nur abstrakt Bauelemente ordnet, werden nun die Handlungsweisen des Helden kategorisiert. Die verschiedenen Lösungswege deuten zugleich eine Entwicklungslinie an. „Diese Stufen der Marandas können als Entwicklungsstufen hin zur Heldengeschichte betrachtet werden“ (Sutton-Smith 1975, S.87). Schon Elli und Pierre Maranda beobachteten, dass jüngere Kinder, denen Heldengeschichten des Typ IV geboten wurden, sie beim Nacherzählen bis zu einem gewissen Alter auf Erzählungen vom Typ III oder II reduzierten. Sie vermuteten deshalb, dass „Kinder innerhalb der amerikanischen Kultur in ihrer Entwicklung dazu neigen, die gleichen Stufen zu durchlaufen“ (Sutton-Smith 1975, S.87).
Sutton-Smith konnte diese Vermutung erhärten: Die vier Stufen der Konfliktbewältigung ließen sich problemlos auf seine Sammlung kindlicher Erzählungen übertragen. Den Übergang von den „lyrischen“ Sprachspielen zu den ersten Plotstorys setzt er um das vierte Lebensjahr an, allerdings zeigten die Geschichten der jüngeren Kinder „für einen beträchtlichen Zeitraum eine Mischung der Struktur Thema und Variation mit den Strukturen eigentlicher Plots“ (Sutton-Smith 1986, S.82). Das als „No Response to conflict“ bezeichnete erste Level repräsentiert diese Mischform und wirkt als Kategorie etwas diffus. Fatke gewinnt hier einen eindeutigeren Ausgangspunkt, indem er die erste „Lösung“ des Grundkonflikts folgendermaßen fasst: „Die überlegene Macht siegt über die unterlegene Macht, meist ohne dass eine Gegenwehr erfolgt oder der Versuch, der überlegenen Macht zu entkommen, gemacht wird: das Geschehen endet sozusagen in der Katastrophe“ (Fatke 1994, S.15). In lapidarer Kürze präsentiert das folgende Beispiel diesen Ausgang : Es war einmal ein Mädchen, das ging durch den Wald. Da kam ein Tiger, der aß das Mädchen auf (Fatke 1994, s.15). Der knappen Diktion nach dürfte das erzählende Kind noch sehr jung gewesen sein, sein Alter wird aber nicht angegeben. Überhaupt sind die gelegentlich angegebenen Altersgrenzen mit Vorsicht zu betrachten, sie stehen noch zu sehr in der Tradition normativer Phasen, wie sie die Entwicklungspsychologie festzuschreiben sucht. Für die Entwicklung der kindlichen Erzählfähigkeit lassen sich allenfalls ungefähre Durchschnittswerte angeben. Auch das Katastrophenszenario findet sich keineswegs nur in den alterersten Plotstorys. Genauso gut kann eine Sechsjährige noch dieses hoffnungslose Ende ausmalen, auch wenn sie die Erzählung nun sprachlich bewundernswert ausgestaltet und mit Witz dramatisiert:
„Es lebte einmal ein Baum im Wald. Er liebte die Vögel und Spatzen und die anderen Bäume und die Blumen und das wunderbare kühle Gras unter ihm.
Aber er hätte so gern jemand gehabt, der mit ihm redete. Er dachte einige Tage darüber nach und dachte, er sollte sich nicht so blöde anstellen, und schloss bald seine schläfrigen Augen (Deirdre lacht) und war bald eingeschlafen.
Am Morgen sagte er: ‚Vögelchen, Vögelchen, ich will mit dir spielen.‘ ‚Wie bitte, wie soll ein kleiner Vogel wie ich mit einem großen hässlichen Baum spielen wie du.‘
‚Ich bin nicht so hässlich. Ich werde dir was sagen, du Dussel von einem Vögelchen. Ich werde dir sagen, du kannst genauso gut abhauen und alleine leben, du bist ja jetzt schon sieben Wochen alt.‘
Eine Tages kam ein Mann mit einer großen Säge und sägte den einsamen alten Baum ab, um Feuerholz zu machen“ (Sutton-Smith 1981, S.167).
In der zweiten Stufe der Konfliktdarstellung, von Sutton-Smith als Failure bezeichnet, rettet sich der Held durch Flucht oder wird durch Hilfe von außen gerettet. Zaubermärchen lieben diese Lösung, indem sie dem Helden jenseitige Helfer zur Seite stellen, mit deren Beistand er die menschenunmögliche Bewährung besteht. Allerdings vertrauen die kindlichen Erzähler lieber auf recht diesseitige Hilfen, es sind meist die Eltern oder andere Erwachsene, die dem Helden aus der Klemme helfen. Allenfalls die Tiergestalten erinnern noch von ferne an den geheimnisvollen Beistand des Märchenhelden. In einer Erzählung der sechsjährigen Denise steht den verirrten Bären ein freundlicher Wal zur Seite, der die mythischen Assoziationen des Mütterlichen wachruft, die sich mit dieser Gestalt verbinden. „Es waren einmal zwei Bären. Und sie gingen aufs Land und sie hatten ein Landhaus und sie gingen schwimmen. Einmal gingen sie schwimmen und verirrten sich. Und da war ein netter Wal, der holte sie raus und brachte sie zu ihrem Haus zurück. Dann sagte er „Tschüß“ und forderte sie auf, zu seinem Haus kommen, wenn sie sich das nächste Mal verirrten. Und als sie sich wieder verirrten, gingen sie zu seinem Haus, und lebten von da an glücklich. Und sie ließen ihr Landhaus sein und lebten von da an im Haus des Wals. Ende“ (Sutton-Smith 1981, S.169).
Verbreiteter als die glückliche Rettung durch mächtige Helfer ist die Reaktion, sich durch Flucht in Sicherheit zu bringen. „Die unterlegene Macht unternimmt zwar einen Versuch der Gegenwehr oder der Flucht, aber scheitert dennoch, so dass die überlegene Macht siegreich bleibt“ (Fatke 1994, S.15). Der Fluchtreflex kann so übermächtig werden, dass der Held auch dann noch besinnungslos flieht, wenn seine Verfolger schon längst von ihm abgelassen haben, wie sich das ein Siebenjähriger in einer nun allerdings aufgeschriebenen Geschichte ausmalt:
„Eines Tages traf ich eine Maus. Sie hieß Charlie. Die Maus Charlie lebte auf dem Land, ihr bester Freund war ein Salamander, er hieß Herr Kralle. Ich sagte noch nicht, dass Charlie ein Räuber war. Psst. Ich möchte nicht, dass das irgend jemand hören lässt, denn wenn die Polizei davon hört, werden sie Charlie einsperren. Wenn ich ihm sagen würde, dass die Polizei ihn kriegen will, würde er verrückt werden. Das ist jetzt die Geschichte. Charlie ging einmal spazieren. Er sah die Polizei und versteckte sich hinter einem Felsen. Die Polizei lief genau an ihm vorbei. Er wusste, dass er sicher war. Er rülpste. Der Polizist drehte sich um. Da war er zu Tode erschrocken. Die Polizei rannte, aber er war schnell. Die Polizei gab bald auf, aber Charlie dachte, sie versuchten ihn immer noch zu kriegen. Er rannte und rannte und rannte und rannte, bis ihm die Füße wehtaten und er nicht mehr rennen konnte. Bald sah er sein abgestelltes Fahrrad. Er erinnerte sich, dass der Schlüssel in der linken Manteltasche war. Er holte ihn raus und schloss die Kette auf. Dann fuhr er weg, aber er wusste nicht, dass die Polizei aufgegeben hatte. Und deshalb fuhr er immer weiter. Zuerst sagte er sich, wenn ich anhalte und mich umsehe, kriegen sie mich. Zuerst wollte er das nicht riskieren, aber dann dachte er: Wenn ich ins Gefängnis gehe, – er würde sich schon wieder herausschmuggeln. Deshalb blieb er stehen. Er konnte seinen Augen nicht glauben, die Polizei war verschwunden. Ende“ (Sutton-Smith 1981, S.204).
Auf der dritten Stufe der Nullification gelingt es zwar dem Helden, sich vorderhand zu behaupten, die Bedrohung bleibt aber bestehen und kann jederzeit wieder auftreten: „Die bedrohende Macht gelangt nicht an ihr Ziel; sie wird ‚ausgeschaltet‘, aber nicht unbedingt in der Weise besiegt, dass nicht weiterhin Gefahr von ihr ausginge“ (Fatke 1994. s.16).
Offenbar sind Fatkes Geschichten in einer schulmäßigeren und weniger anregenden Situationen erzählt worden, zumindest deutet die knappere und lustlosere Diktion seiner Beispiele darauf hin. Das dritte Konfliktmuster exemplifiziert er mit der folgenden Erzählung: „Da war einmal ein Affe, und der hat in den Kaufladen müssen, weil er nichts zum Essen gehabt hat. Dann hatte er kein Geld dabei gehabt. Und dann hat er schnell heimgehen müssen. Und dann hat die Mutter daheim auch kein Geld mehr gehabt. Und dann hat er schnell die Bank überfallen. Und dann ist die Polizei gekommen und dann hat sie ihn gefesselt, und er ist ins Gefängnis gekommen. Dann ist er ausgebrochen, und dann ist er schnell gerannt, dass sie ihn nicht mehr hat einholen können“ (Fatke 1994, S.16).
Den unwiderruflich guten Ausgang zu imaginieren, scheint auch für ältere Kinder noch lange ein schwieriges Unterfangen zu bleiben. Erst die letzte Stufe besiegelt den vollständigen und unwiderruflichen Triumph des Helden, der nun alle Dinge durch sein Handeln zum Guten wendet: „Die Bedrohung wird beseitigt, und zusätzlich werden durch diesen Sieg die Ausgangsbedingungen verändert, so dass die Bedrohung ausgeschaltet bleibt. Nicht immer, aber in den meisten Fällen wird der Sieg durch eine aktive Gegenwehr der unterlegenen Macht errungen. Dies entspricht dem Typus der ‚Heldengeschichte'“ (Fatke 1994, S.16), eine Lösung, die erst im Alter von zehn bis zwölf Jahren erreicht werde. Wie aber kommt dann der erst fünf Jahre zählende Abe dazu, sich eine Geschichte auszudenken, in der die Bedrohung nach dem Modell der Heldengeschichte durch listige Gegenwehr ein für allemal beseitigt wird?
„Der Wolf und die drei Kaninchen.
Es lebten einmal drei Kaninchen. Sie lebten zusammen in einer Höhle im Boden. Nachts kamen sie immer aus der Höhle heraus. Eines Nachts sahen sie etwas. Sie fragten sich, was es war. Es war ein Wolf. Der Wolf begann sie zu jagen. Der Wolf begann schneller zu laufen. Er rannte so schnell, die Kaninchen blieben stehen, und der Wolf schlitterte drei Meilen. Dann prallte er gegen einen Baum. Er war sehr wütend. Er rannte in die Kaninchenhöhle. Er war so wütend, dass er in die Höhle krabbelte. Die Kaninchen sagten: ‚Was können wir machen?‘ Ein Kaninchen sagte zu den andern beiden, was zu tun war. ‚Einen Topf heißes Wasser neben die Tür stellen!‘ Als der Wolf in die Höhle hinunterrutschte, öffneten sie die Tür, und der Wolf rutschte in den Topf, der voll war mit heißem Wasser. Er war so heiß, dass er aus der Höhle hinaufrannte, und er rannte nach Afrika, und niemand sah ihn jemals wieder“ (Sutton-Smith 1981, S.120).
Was Kinder erzählen, bleibt sehr lange von der Situation abhängig, in der sie erzählen, davon, wie sehr ihre Phantasie davon angeregt wird und wie weit sie es schaffen, im Zusammenspiel mit den Zuhörern diese Vorstellungen in eine sprachliche und gestische Form zu bringen. Auch wenn sie sie im Augenblick des Erzählens immer besser zu organisieren verstehen, bleiben ihre Erzählungen noch vorwiegend Produkte des gelungenen Augenblicks, und dieses Gelingen drückt sich auch in der Lösung des bedrohlichen, die Geschichte auslösenden Konflikts aus. Es dauert aber auffallend lange, bis sich über das wiederholte Erzählen das kulturell verbindliche Modell der Heldenstory verfestigt, nach dem der Held den Konflikt aktiv durch seine Stärke, List oder Geschicklichkeit für sich entscheidet. Und dass es so erstaunlich lange dauert, spricht wiederum dafür, wie wenig die Strukturen und Konfliktlösungen, die Kinder beim Erzählen selbst benutzen, von medialen Vorlagen beeinflusst werden. Denn dieselben Kinder, die sich in ihren eigenen Geschichten noch von Ungeheuern bedroht und überwältigt finden, sind längst versierte Mediennutzer, bekommen pädagogisch ambitionierte Geschichten vorgelesen, in denen die Unterlegenen sich mit List und Klugheit gegen die Starken zur Wehr setzen, sehen triviale Fernsehserien, in denen Weltraumfahrer die von fremden Sternen bedrohte Erde siegreich verteidigen, das heißt, sie werden in den verschiedensten Formen mit dem westlichen Mythos des unüberwindlichen, auf seine eigene Kraft und seinen Verstand bauenden Helden und den formalen Mustern vertraut gemacht, in denen sich der Mythos realisiert. Und doch scheinen diese Produkte sich erst dann auf ihre Erzählungen auszuwirken, sobald sie sich selbst als aktiv handelnde, selbstverantwortliche Personen erfahren können, und es spricht viel dafür, dass sie diese Erfahrung im selbsttätigen aktiven Spiel machen, und keine medialen Produkte das ersetzen können, welcher pädagogischen Zielsetzung oder welchen wirtschaftlichen Interessen sie auch immer verpflichtet sein mögen.
Ich deutete bereits an, dass sowohl Sutton-Smith wie Fatke versuchen, Altersphasen anzugeben, in denen die einzelnen Stufen der Konfliktbereinigung erworben würden. Diese Abgrenzungen sind aber allenfalls als ungefähre Hinweise aufzufassen, in welchem Alter sie im allgemeinen vorzuwiegen beginnen, auf Einzelfälle sind sie in keiner Weise übertragbar. Die einzelne Erzählung ist in ähnlicher Weise Ergebnis des Zusammenspiels aller Beteiligten wie die gelungene Sequenz eines Rollenspiels. Erzählen ist seiner Natur nach „interaktiv“, und wo die Erzähler von ihren Zuhörern angeregt und angefeuert werden, können Geschichten entstehen, die weit über die durchschnittlichen Produktionen ihres Alters hinausreichen.
Ein schönes Beispiel dafür gibt uns die erst sechsjährige Denise, die nicht nur das Strukturschema vollendet benutzt und ihre Geschichte bezaubernd in Szene zu setzen weiß, sondern auch eine sehr hintersinnige Erzählung zu erfinden versteht:
„Es war einmal ein Hund, und der liebte es herumzuspringen und zu spielen. Eines Tages sprang er so viel herum und spielte, dass er nicht darauf achtete, wo er hinlief, und er prallte gegen einen Baum. Und es schien, als ob der Baum ‚Au‘ gesagt hätte, und der Hund sagte: ‚Ich sagte nicht Au‘. Und der Baum sagte: ‚Ich sagte Au, weil du gegen mich pralltest‘. Und der Hund sagte: ‚Wer sagte das?‘ Und der Baum sagte: ‚Ich sagte das‘ Und der Hund sagte immer weiter: ‚Wer sagte das?‘. Er wusste nicht, dass Bäume natürlich reden können. Da kam ein anderer kleiner Hund vorbei. ‚Was ist los?‘ Und der erste Hund sagte: ‚Ich weiß nicht, wer Au sagte.‘ Und da sagte der andere kleine Hund: ‚Ich wette, ich weiß, wer Au sagte. Der Baum sagte das!‘ Und der erste kleine Hund sagte: ‚Das kann nicht sein. Bäume können nicht reden‘. Und der Baum sagte (mit tiefer Stimme): ‚Können sie nicht?‘ Und das erste kleine Hündchen sagte: ‚Wer sagte das?‘ Und der Baum sagte: ‚Ich sagte das‘. Und das andere kleine Hündchen sagte: ‚Es war doch der Baum‘. Und das erste kleine Hündchen sagte: ‚Ich kann dir das nicht glauben‘, und das andere kleine Hündchen sagte: ‚Lass uns raufsteigen und sehen, ob es der Baum sagte.‘ Da kletterten sie auf den Baum und fielen durch das Loch einer Eichhörnchenhöhle in den Baumstamm. Aber sie hatten ihren Spaß da drinnen, denn sie konnten darin herumspielen, schreien und bellen, so viel sie wollten. Und keiner sah diese beiden Hündchen jemals wieder. Und sie lebten von da an glücklich im Baum drinnen. Ende“ (Sutton-Smith 1981, S.171).
Die Erzählerin entwickelt die Erlebnisse der beiden Hunde in einem geschickt aufgebauten Spannungsbogen, zugleich setzt sie das Geschehen sehr lebendig in Szene und bringt die Handlung zu einem klaren und unwiderruflichen Abschluss. Die Auflösung aber wirkt auf den ersten Blick merkwürdig zwielichtig: Die beiden Tiere toben ungestört durch den hohlen Stamm, in den sie doch eigentlich aus Versehen hineingeraten und in dem sie nun gefangen sind. Hält man sich an die Oberfläche der Erzählung, mag der „glückliche“ Ausgang fast wie eine ironische Parodie auf das vollendete Strukturmuster wirken. Der widersprüchliche Schluss weist aber auf eine zweite Bedeutungsebene hin. Der Baum, der deshalb auch zum festen Bestand der ersten Kinderzeichnungen gehört oder in den verschiedensten Mythologien als Weltenbaum wiederkehrt, repräsentiert in der Symbolik der vorgeburtlichen Erfahrung die versorgende Plazenta und macht das Glück der in den Baumstamm eingeschlossenen Hunde verständlich: Sie durften in den bergenden und versorgenden Mutterschoß zurückkehren.
Diese Erzählung ist noch in anderer Hinsicht auffällig, arbeitet sie doch mit der Wiederholung der Episoden: Nachdem der erste Hund das Rätsel des sprechenden Baumes nicht aufzulösen versteht, wiederholt sich die Handlung mit dem hinzukommenden Kameraden, der des Rätsels Lösung findet. Fast alle bisher zitierten Geschichten beschränkten sich darauf, den Grundkonflikt ein einziges Mal durchzuspielen und zu irgendeinem Ende zu führen. Durch die Reihung aufeinanderfolgender Lösungsversuche wird die Schwierigkeit der Aufgabe unterstrichen und die außerordentliche Leistung des Helden hervorgehoben. Es sind die Erzählungen des dritten Level, deren Struktur nach reihender Wiederholung rufen, da hier die Bedrohung zwar vorübergehend ausgeschaltet wird, aber grundsätzlich bestehen bleibt: Die Erneuerung der Bedrohung erfordert wiederholte Gegenwehr. Sicher nicht zufällig taucht in der Altersgruppe, in der dieses Modell nach Sutton-Smith vorzuherrschen beginnt, nämlich um das siebte Lebensjahr herum, die Fähigkeit auf, „mehrfache Handlungssequenzen miteinander in Serien von Episoden zu verbinden“ (Botvin/Smith 1977, S.385). Trotz der Vorbehalte gegen Altersangaben dürfte es nicht so ganz zufällig sein, dass die Reihung von Episoden diesem Lebensabschnitt zugeordnet wird. Allerdings lernten wir die einfache Reihung bereits im Rollenspiel des zwei Jahre jüngeren, das Feuer bekämpfenden Ehemanns kennen, wo die Bedrohung zwei Mal unverändert wiederholt wurde, sich dann aber im letzten Durchgang zu einem himmlischen Drama steigerte. Der Grund liegt wohl weniger in der Altersentwicklung, sondern es scheint hier ein Verfahren, nach dem Rollenspielhandlungen miteinander verkettet werden, mit dem Rückgang des Rollenspiels in das kindliche Erzählen übernommen zu werden.
Schwieriger wird es, wenn eine Episode in eine andere eingeschoben werden soll. Die einfachste Form, bei der „die Haupthandlung der Erzählung durch eine untergeordnete Handlung unterbrochen wird“ (Botvin/Sutton-Smith 1977, S.381), erscheint daher auch relativ spät, angegeben wird etwa das elfte Lebensjahr, und erst etwa Zwölfjährige scheinen nach der Untersuchung von Bottvin und Sutton-Smith auch mehr als zwei Episoden gleichzeitig in einer einzigen Erzählung verfolgen zu können. „Diese Strukturtypen sind am schwierigsten, denn sie erfordern eine beträchtliche Vorausplanung. Kinder, die verschachtelte Erzählstrukturen benutzen, müssen sich geistig die gesamte Erzählung vorstellen können, bevor sie sie erzählen. Sie müssen fähig sein, verschiedene Handlungsstränge gleichzeitig zu koordinieren und sie in einen Zusammenhang zu integrieren“ (Botvin/Sutton-Smith 1977, S.385). Oder anders ausgedrückt, sie müssen jenen Überblick über die gesamte Geschichte gewinnen, der sich nur dem erschließt, der vom Ort des Erzählens aus auf die erzählten Ereignisse blickt, der also die Distanz zur eigenen Erzählung einhält, die die Erzählhaltung des in die laufende Erzählhandlung verstrickten Kindes so lange vermissen lässt. Diese Konstruktion ist wohl mit der offenen und improvisierenden Erzählweise, in der Kinder eine Geschichte zustandebringen, nicht zu leisten. Sie fordert eine genaue und weit vorausschauende Planung und findet sich deshalb kaum in spontanen Erzählungen von Kindern, in den Sammlungen kindlicher Erzählungen taucht sie so gut wie überhaupt nicht auf, während sie in schriftlichen Erzählungen häufiger benutzt wird.
Auch wenn die Alterstufen, die Psycholinguisten ihren experimentellen Untersuchungen zu entnehmen versuchen, mit großer Vorsicht zu betrachten sind, kann man doch, ohne sich auf verlässliche Altersgrenzen festzulegen, in unserem kulturellen Umkreis davon ausgehen, dass kindliche Erzählungen mit ansteigendem Lebensalter ein immer genaueres Ineinandergreifen der Handlungselemente zeigen, die Abfolge der erzählten Handlungen immer exakter im Sinne des Operationsschemas strukturiert wird und schließlich auch mehrere Episoden gleichzeitig überblickt werden können. Der Gebrauch narrativer Bauformen und Kommunikationsweisen bleibt lange von den Situationen abhängig, in denen Kinder erzählen, von den Erlebnissen und Einfällen, die das Erzählen auslösen, und von der Anregung, die ihnen ihre Umgebung bietet. Die phantasierten Handlungen tauchen zuerst spontan im Akt des Erzählens auf und müssen mehr oder weniger geschickt in den Gang der laufenden Erzählung eingefügt werden. Zunächst ist der Umgang mit den formalen Mustern noch recht unsicher und verfestigt sich erst allmählich über wiederholtes Erzählen. Um das siebte Lebensjahr herum, und sicher nicht zufällig in einer Zeit, in der die Rollenspiele zurückgehen, die im Spielen entwickelten Rollenwechsel versprachlicht und ins Erzählen übernommen werden, steigt mit der wachsenden Erzähllust auch die Beherrschung der narrativen Formen und ihrer kommunikativen Verwendung. Etwa mit dem 12. Lebensjahr ist, wieder sehr pauschal gesehen, der „Erzählerwerb“ endgültig abgeschlossen: Bauformen, Muster und kommunikatives Verhalten erzählenden Sprechens sind nun soweit verinnerlicht und verfügbar, dass sie auch abgelöst von der lebendigen und reagierenden Zuhörerschaft sicher beherrscht und benutzt werden. Das drückt sich unter anderem darin aus, dass Kinder regelgerechte Geschichten schreiben können, indem sie den Zuhörer nur noch imaginieren.
Die sich verbessernden Fähigkeiten in der vorwegnehmenden Planung und komplexeren Konstruktion von Geschichten lassen sich jedoch kaum als losgelöste kognitive Erwerbungen verstehen: Zum einen verhelfen sie dazu, die unpassenden Elemente, die phantastischen Einfälle und außergewöhnlichen Begebenheiten, mit der Schicht des Gewöhnlichen und Alltäglichen zusammenzuführen. Das Geschichtenschema verlangt ja, um Verständlichkeit und Merkbarkeit zu sichern, die geordnete Abfolge der Bauteile der Erzählung, zwingt dadurch den Erzähler, das unerwartete Ereignis mit dem Einstieg und dem Ausgang der Erzählung zu verknüpfen und zueinander in Bezug zu setzen. Der Zwang zur zusammenhängenden Darstellung lässt die Handlungen ineinander greifen und auseinander hervorgehen, und damit das unerwartete Ereignis, die die Erzählung konstituierende Handlung, in die alltägliche Wahrscheinlichkeit einfügen. Die szenische Gestaltung sucht das Geschehen so lebendig zwischen die Zuhörenden zu stellen, als würden sie leibhaftig daran teilnehmen, als sei die Wirklichkeit der Fiktion so gegenwärtig wie die gelebte Gegenwart.
Für das kindliche Erzählen, das in der Mehrzahl belastende Situationen gestaltet, haben Strukturierung, Kohärenz und szenische Darstellung eine besondere Bedeutung: Sie stehen im Dienste der wachsenden Bewältigung jenes Grundkonflikts, dem sich die verängstigten Helden der frühen Erzählungen hoffnungslos ausgeliefert sehen und der im Laufe der Entwicklung durch den mit Stärke und List alle Widersacher besiegenden Helden abgelöst wird. Der Grundkonflikt erwächst aus dem Zusammenstoß der sozialen Alltagswelt mit der bedrängenden, aus dem Unbewussten gespeisten Innenwelt. Für Kinder ist der Gegensatz zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung, den eigenen Phantasien, Wunsch- oder Schreckbildern einerseits, die nur jedem Einzelnen in seiner Abgeschlossenheit zugänglich sind, und der festgefügten sozialen Außenwelt, die sich aus allgemeinen und verbindlichen Bedeutungen zusammensetzt, insgesamt bedrückend und schwer zu begreifen. Der Zusammenstoß der beiden Lebenssphären wird immer wieder als rätselhaft und belastend erfahren, und stellt in sich schon so etwas wie einen Konflikt dar. Die wachsende „Kohärenz“ der Erzählungen verhilft dazu, die phantastischen Einschübe immer besser in die Welt der sozialen Erfahrung zu integrieren und damit zu einem einheitlichen Dritten zu verschmelzen.
Die hilfreiche Fee des Märchens wirkt wie ein Übergang: Noch braucht es die jenseitige Helferin, um den Konflikt, der aus dem Zusammenstoß der beiden Daseinsbereiche entsteht, zu lösen, um beide Lebenssphären in einer einheitlichen Gestaltung miteinander zu versöhnen. Sicher kann man diese „magischen“ Helfer als Repräsentanten unbewusster Persönlichkeitsanteile des Helden verstehen, die „Überwindung“ dieser helfenden Gestalt führt zum gleichen Ergebnis: Über die Bewältigung des Konflikts aufgrund der Kraft und List des Helden wird der aus dem Unbewussten aufsteigende phantastische Einfall in die soziale Sphäre eingebunden. Die gelingende Verbindung von äußerer und innerer Welt erzeugt das Vergnügen und die Befriedigung, die selbst Erzählungen noch auslösen, die das Happy End verweigern.
Literatur
- Botvin, Gilbert J./ Sutton-Smith, Brian: The Development of Structural Complexity in Children´s , Fantasy Narratives, Developmental Psychology 13 (1977), S.377- 388
- Fatke, Reinhard: Kinder erfinden Geschichten, in: Duncker, L./ Maurer, F./ Schäfer, G.E. (Hg.): Kindliche Phantasie und ästhetische Erfahrung, Ulm 1993
- Fatke, Reinhard: Phantasiegeschichten, in: Fatke, R. (Hg.) : Ausdrucksformen des Kinderlebens, Bad Heilbrunn 1994
- Hausendorf, Heiko/ Quasthoff, Uta M.: Ein Modell zur Beschreibung von Erzählungen bei Kindern, in: Ehlich, Konrad (Hg.): Erzählerwerb, Bern 1989
- Mancuso: The Acquisition and Use of Narrative Grammar Story, in: Sarbin, T.R. (ed.): Narrative Psychology , New York 1986
- Miller, Peggy/ Sperry, Linda L.: Early Talk about the Past: The Origins of Conversational Stories about Personal Experience, Child language 15 (1988), s.293- 315
- Parmentier, Michael: Strukturen der kindlichen Vorstellungswelt, Frankfurt 1989
- Pitcher, Evelyn Goodenough /Prelinger, Ernst : Children tell Stories: An Analysis of Fantasy, New York 1963
- Sutton-Smith, Brian:The Importance of the Storytaker: An Investigation on the Imaginative Life, Urban Review 8 (1975), S. 82-95
- Sutton-Smith, Brian: The Folkstories of Children, Philadelphia 1981
- Sutton-Smith, Brian: Children`s Fiction Making, in: Sarbin, T.R. (ed.): Narrative Psychology, New York 1986
(Auszug aus: Johannes Merkel: Spielen, Erzählen, Phantasieren. Die Sprache der inneren Welt, München 2000, S. 203-235)