Zu neuen Formen des spielenden Identifikationsverhaltens
Johannes Merkel
1.
Seit im 19. Jahrhundert Jugend als eigener Lebensabschnitt „erfunden“ wurde, formulierte jede Jugendgeneration eigenständige Lebensentwürfe, die sich radikal von der Erwachsenenwelt absetzten und die das individuelle und kollektive Handeln und Denken der folgenden Generation bestimmte. Hinter dieser Erscheinung (die frühere Jahrhunderte in dieser Form nicht kannten), steht die Dynamik einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, die die Lebenswelt in jeder Generation radikal veränderte, dadurch die Werte und Verhaltensweisen der älteren Generation als lebenswertes Vorbild entwertete und die Jugend zwang, sich Vorbilder zu suchen, die den veränderten Lebensbedingungen besser entsprachen als diejenigen, die ihnen Elternhaus und unmittelbare Umwelt anboten. Es ist diese Dynamik, die die sich im Laufe des 20.Jhs. wiederholenden Jugendrevolten und Jugendsubkulturen hervorgebracht hat.
Fiktive Vorbilder für die Jugendlichen spielten dabei deshalb eine wichtige Rolle, weil sie erlauben, sich am weitesten aus der vorgefundenen Gesellschaft zu entfernen. Jugendliche Identität stiftende Fiktionen beherrschten die Jugendkultur (vom „Wertherfieber“ bis zu den Rockidolen). Die Medien haben diese Fiktionen stets aufgegriffen, verbreitet und verharmlost. (Das Theater spielte diese Rolle für die aufsässige bürgerliche Jugend zwischen 1900 und den 20er Jahren).
2.
In den letzten beiden Jahrzehnten scheint sich eine (noch nicht vollständig absehbare) Veränderung ergeben zu haben: Während die Jugendrevolten (zumindest in ihren radikalen Vertretern) auch immer mit einem neuen Lebens- und Gesellschaftsentwurf verbunden waren, ist die gegenwärtige Jugend „ideologiefrei“ und „illusionslos“. Sie versucht sich kaum mehr durch radikale Neuentwürfe von der Elterngeneration zu unterscheiden (und kennt wohl deswegen weniger Konflikte und arrangiert sich leichter als ihre Vorgänger), sondern findet ihre Identität und ihr Anderssein vor allem in Stilen des Konsums und der Mediennutzung. Dem entspricht auf der anderen Seite, daß veränderte Verhaltensstile oder Kulturen der Jugendlichen sofort von den Modeproduzenten und Medienmachern aufgegriffen und vermarktet werden. Eine wichtigen Platz in dieser Form der Selbstfindung nimmt inzwischen die „Computerkultur“ ein.
3.
Die „virtuelle Welt“ , die als das entscheidende Merkmal der Computerkultur verstanden wird, ist nicht so radikal neu, wie sie gehandelt wird.
Sie existiert in gewisser Weise in jedem Menschen als innere und individuelle Vorstellungswelt, die im Jugendalter von besonderer Bedeutung ist: Jugendliche verbringen einen großen Teil ihrer Zeit in einsamen oder gemeinsam ausphantasierten Tagträumen, die darauf abzielen, in der Phantasie individuelle und kollektive Lebensmöglichkeiten durchzuspielen. Die modernen Massenmedien (einschließlich des Unterhaltunstheaters und der Trivialliteratur) nehmen diese Tagtraumtätigkeit auf und gestalten sie in medialen Produktionen, bringen sie dabei in eine gesellschaftlich akzeptierte Form und beeinflussen darüber wiederum die Tagträume ihrer Benutzer. Neu am Computer ist, daß er die unterschiedlichen Mediensprachen in einem einzigen Gerät zu bündeln und zusammenzufassen erlaubt. Für Jugendliche ist die Computertechnik deshalb von hoher Attraktivität, weil sie erlaubt, Phantasien umfassender zu vergegenständlichen und diese medialen Gestaltungen zugleich nach Wunsch zu beeinflussen und zu steuern.
4.
Darüberhinaus unterstützen Computer das Selbstbewußtsein und die Selbstfindung von Jugendlichen, weil
– sie die Computertechnik und die damit zusammenhängenden Denkweisen schneller verstehen und besser beherrschen als viele Erwachsene,
– der Computer zweitens ein Forum darstellt, auf dem man Gleichaltrigen begegnet, sich mit ihnen unterhalten und Freunde treffen kann,
– man drittens über das Netz mit Gleichgesinnten in Kontakt tritt, z. B. beim Chatten, bei dem häufig auch die Telefonnummern ausgetauscht und übers Telefon kommuniziert wird (was eben doch mehr darstellt, weil ich eine lebendige Stimme höre, statt kurze Sätzchen zu lesen),
– in den über das Netz laufenden fiktiven Rollenspielen Verhaltensmöglichkeiten und Identitäten spielerisch angenommen und ähnlich wie beim kindlichen Rollenspiel auf ihre Brauchbarkeit getestet werden können
– und schließlich, weil in Computerspielen die Handlungen fiktiver Figuren über die eigene Fingerfertigkeit gelenkt werden, und eben nicht nur in der Vorstellung, wie das beim Film oder bei der Lektüre geschieht.
5.
Die Untersuchungen zur Computernutzung von Jugendlichen zeigen, daß er vor allem als Spielgerät benutzt wird: Nur wenige gebrauchen ihn auch als Arbeitsmittel (z. B. für Schulaufgaben) oder versuchen selbst zu programmieren.
Gespielt werden kann und wird am und mit dem Computer:
– anhand vorprogrammierter Rollenspiele,
– als wahlloses Surfen im Internet (vgl dazu das Zappen vor dem Fernseher),
– als elektronisches Rollenspiel (Chatten)
– als spielerisches Eindringen in fremde Datensammlungen und Netze (Hacken),
– als Entwickeln von Programmen (die oft Spielprogramme darstellen).
Die Verwendung des Computers als Spielgerät steht wohl nur oberflächlich im Gegensatz zur strengen Funktionalität dieser Rechenmaschine: Jedes komplexe System von Regeln oder Verordnungen läßt sich nur noch bedingt über die rationale rechnerische Erfassung beherrschen. Das menschliche Denken geht in diesen Fällen zu Verarbeitungsweisen über, die kreativ und intuitiv vorgehen und bei komplizierten Problemstellungen rascher zu einer brauchbaren Lösung gelangen als die systematische Berechnung aller Lösungsansätze (wie sie wiederum die Computersimulation leisten kann). So gesehen würde spielerischer Gebrauch von der Machart der Computerprogramme geradezu herausgefordert.
6.
Legt man die Ergebnisse der inzwischen zahlreichen Erhebungen zum jugendlichen Computergebrauch an, werden die Warnungen kaum bestätigt, dabei drohe die Gefahr der körperlichen und seelischen Verkümmerung. Sogenannte „Vielspieler“ ( die täglich und stundenlang spielen) machen nur wenige Prozent der Spielenden aus. Die überwiegende Mehrzahl
– sieht im Computer eine Freizeitbeschäftigung unter anderen, die vorzugsweise dazu dient, Einsamkeit und Langeweile zu überbrücken,
– spielt, wo es geht, auch vor dem Bildschirm lieber gemeinsam (wie bei den guten alten Brettspielen),
– nutzt das Internet, um darüber mit andern Jugendlichen in Kontakt zu treten.
Sämtliche Erhebungen zeigen geschlechtsspezifische Unterschiede der Computerbegeisterung: Jungen beschäftigen sich sehr viel mehr mit dem Computer, spielen länger und ziehen Wettbewerb und Kampfspiele gegenüber den Simulationen und Funny Games vor, die von Mädchen bevorzugt werden. Bei den Allerjüngsten scheinen allerdings diese Unterscheide abzuflachen.
7.
Die ersten Computerspiele entstanden als Adaptationen einfacher Regelspiele und bis heute lassen sie sich als komplexe Regelspiele verstehen.
Die Spielregeln von Brett- und Gesellschaftsspielen enthalten regelhaft „eingefrorene“ Erzählungen (z.B. stellt das Schachspiel den Kampf zweier Königreiche nach, den auch viele Heldenepen thematisieren). Umgekehrt kann man Erzählungen als Ausfaltung immanenter Regeln beschreiben.
Indem über die wachsenden Speicherkapazitäten immer kompliziertere Regelwerke einsetzbar werden und zugleich die fast filmartige graphische Darstellung des Spielgeschehens möglich machen, treten die erzählenden Komponenten wieder stärker in Erscheinung. Insgesamt geht die Tendenz der Spiele in Richtung eines „interaktiven“ Films oder Fernsehens.
Allerdings hatte bereits die New-Games-Bewegung der 70er Jahre komplexere Regelspiele hervorgebracht, über die ausdifferenzierte Erzählungen in die Spiele eingebaut wurden (zum Beispiel die Rollenspiele vom Typ „Schwarzes Auge“ oder die Fantasy-Spielbücher, in denen sich der Leser nach seinen eigenen Entscheidungen orientiert), die dann die direkt umsetzbaren Vorlagen für Adventure-Spiele lieferten. Auch die erfolgreichen Brettspiele der letzten Jahrzehnte arbeiten mit umfangreicheren Regelwerken und Symboldarstellungen (z.B. das Erfolgsspiel „Die Siedler“).
8.
Im Gegensatz zu den „alten“ Unterhaltungsmedien, die auf „Einwegkommunikation“ beschränkt sind (und dazu gehört auch das Theater, in dem ein stummes Publikum auf das Zuschauen beschränkt ist und sich nur über Lachen, Klatschen oder Buhen artikuliert), ermöglicht die Computerunterhaltung „Interaktivität“.
Auch hier ist vorweg festzustellen, daß schon jede zwischenmenschliche Kommunikation per Definition „interaktiv“ verläuft, und das gilt eben auch für die gemeinschaftlich gespielten Spiele vom Rollenspiel bis zum Brettspiel. In jeder Phase der Kommunikation (oder des Spiels) muß der Sprecher (oder Spieler) die Reaktionen des Partners (die Züge des Mitspielers) vorausdenken und einbeziehen.
Gegenüber zwischenmenschlicher Kommunikation bleibt allerdings die Interaktivität des Computernutzers begrenzt: Erstens durch die Entscheidungswege, die ihm das Programm bietet, zweitens durch die Mitteilungswege, die vom System vorgegeben werden. Und anders als im zwischenmenschlichen Umgang ist die Einwirkung auf den Finger beschränkt, die natürliche körperliche Darstellung, die die Hälfte des Kommunikations- oder des Rollenspiels ausmacht, bleibt ausgeklammert.
Dennoch hat der Benutzer über den Fingerdruck Möglichkeiten der Einwirkung und Entscheidung, die ihm kein anderes Medium bieten kann. Sie erlaubt ihm die Illusion, seine Unterhaltung selbst zu erzeugen, er erfährt sich als aktive und steuernde Persönlichkeit, oder eben, wenn er die gestellten Aufgaben nicht erreicht, als Versager.
Die Einwirkung des Spielers kann dabei auf zwei Wegen erfolgen: Schon bei den Brettspielen lassen sich strategische Spiele (wie Schach) unterscheiden von Spielen, in denen die Mitspieler als Teilnehmer auftreten (wie „Mensch ärgere dich nicht“). Auch im Computerspiel lassen sich diese Varianten wiederfinden: Einerseits kann die Perspektive des Helden eingenommen und die Handlung über sie nachvollzogen werden, indem seine Handlungen gesteuert werden (z.B. bei den Kampfspielen). Andererseits kann der Spieler die distanziertere Position des übergeordneten Strategen und Lenkers einnehmen (wie bei den Simulationsspielen).
9.
Jugendliche suchen die Identifizierung mit fiktiven Figuren und ihren Handlungsweisen, um sie als Bausteine ihrer Selbstfindung zu benutzen. Welche Identifizierung erlaubt das Computerspiel dem Spielenden?
Computerspiele erreichen zwar inzwischen eine dem Film vergleichbare graphische Darstellung und der Nutzer sitzt so dicht davor, daß der Bildschirm sein Sichtfeld fast ausfüllt, außerdem muß er sich vollkommen auf das Spielgeschehen konzentrieren, um die geforderten raschen Reaktionen zustande zu bringen. Beides zwingt ihn, den Handlungen seiner Spielfiguren konzentriert zu folgen, mit seinem ganzen Bewußtsein sich in die Spielfiguren zu versetzen. Auch hat der Spieler in vielen Fällen die Möglichkeit, zwischen Eigenschaften seiner Spielfiguren zu wählen und den Schwierigkeitsgrad der Aufgaben zu bestimmen, die sich ihnen und damit ihm selbst stellen, Auch das sind Elemente, die die Identifizierung eher fördern dürften.
Auf der anderen Seite wird er gerade über die interaktiven Aktivitäten wieder auf seine Gegenwart zurückverwiesen. Der Computerspieler weiß deshalb, daß er „nur“ spielt, und wird sich nicht in der gleichen Weise mit den Spielfiguren identifizieren wie der Kinobesucher, der im abgedunkelten Raum sein Gegenwartsbewußtsein fast völlig ausblendet. In gewisser Hinsicht bleiben die Spielfiguren auch im Computerspiel, trotz aller Animation, doch nichts weiter als „Spielsteine“. Das wird auch daran ersichtlich, daß sie (anders als in der literarischen oder gefilmten Erzählung) nach ihrem „Tod“ über einen bloßen Knopfdruck wieder zu einem neuen Spielleben auferstehen können.
Die Frage der Identifikation stellt sich besonders bei der pädagogisch heftig diskutierten Frage der Gewaltdarstellung. Die Antwort der jugendlichen Spieler lautet fast durchweg: „Das ist doch nur ein Spiel!“ Die Antwort macht Sinn, sagt sie doch aus, man folge damit nur einer beliebigen Spielregel. Auch ein Schachspieler wird ja kaum Mitleid fühlen, wenn seine Bauern oder auch die Königin aus dem Spiel geschlagen wird bzw wenn er seinen Spielgegner ausschaltet. Allerdings bleiben die Spielsteine abstrakte Zeichen, während die animierte Darstellung des Computerspiels durchaus auch sinnlich nachvollziehbar ist und damit, anders als bei den herkömmlichen Spielsteinen, die Frage nach dem Grad der Identifizierung aufwirft.
Diese Frage zeigt sich aber als überaus kompliziert und ist kaum eindeutig zu beantworten. Dem Spielenden stehen sozusagen alle Möglichkeiten offen, und ich vermute, daß der Grad der Identifikation vor allem davon abhängt, wie sehr ihn die zugrundeliegende Geschichte überzeugt. Eine Rolle dürfte dabei auch die Weise der graphischen Gestaltung spielen, wie weit zum Beispiel Identifikationstechniken des Films angewendet werden (etwa die subjektive Kamera, die den Blickwinkel des Zuschauers auf den Blickwinkel der Figur begrenzt).
10.
Auffallend und auf den ersten Blick überraschend ist, daß Computerspiele in großer Breite überlieferte Mythologien, Stoffe der Literatur und insbesondere der Trivialliteratur, des Massenkinos und der Comics adaptieren. Die Grundmuster sind dabei wie schon bei Trivialliteratur und Kino dem Mythos und dem Märchen verpflichtet.
Thematisch neu sind Spiele, mit denen dokumentierte Ereignisse nachgestellt und in sie eingegriffen werden kann, z. B. die Sportspiele, die gelaufene Wettbewerbe zur Vorlage haben, die man aber zu einem neuem Ergebnis bringen und in die man sogar selbstgeschaffene Spieler oder Mannschaften einführen kann. Hier findet eine Vermischung von Nachricht und Unterhaltung statt, die das Fernsehen noch aufrecht erhält, obwohl es unter der Oberfläche der journalistischen Sorgfaltspflicht sich längst vermischt. Das heißt, der Spieler kann seinen Stellvertreter in die Dokumentation einführen und den Wettkampf zu dem von ihm gewünschten Ergebnis führen.
Es ist ein gängiges Tagtraummotiv, sich als Held in öffentliche Ereignisse einzuschmuggeln und sich allgemeine Anerkennung und Bewunderung zu erträumen. Der Computerspieler kann diesen Traum, sofern er geschickt genug spielt, auf den Bildschirm zaubern. Anders als im Film, in dem die Handlung dramatischen Gesetzen folgt und deshalb immer wieder von den Vorstellungen des Zuschauers abweichen wird, kann der Computerspieler das Tagtraumbild über die interaktive Steuerung sehr viel besser an seine eigenen Vorstellungen anpassen und damit einen maßgeschneiderten Tagtraum medial „verwirklichen“. Andererseits bleibt er aber an die Wahlmöglichkeiten gebunden, die ihm die Programmierer zur Verfügung stellen, wird also den vorgegebenen Mustern folgen müssen. Seine Tagtraumtätigkeit wird also einerseits gegenüber den klassichen audiovisuellen Medien individueller und „hautnaher“ ausfallen, andererseits wird seine spontane Traumtätigkeit auf die im Programm realisierbaren Handlungsweisen und Normen hin beschränkt werden. Computerspiele erlauben zwar eine genauere Repräsentation der individuellen Vorstellungswelt, greifen darüber gleichzeitig in diese Vorstellungswelt ein und richten sie an allgemeinen gesellschaftlichen Normen aus (was ja auch insgesamt für die gesamte Medienproduktion zutrifft). Auch in dieser Hinsicht ist das Computerspiel „interaktiv“: So sehr der Spieler das Spiel steuern kann, so sehr wird er spielend auch selbst gesteuert.
11.
Auch die Theateraufführung erlaubt nur eine eingeschränkte Identifizierung mit den dargestellten Figuren: Trotz der meist üblichen Verdunkelung des Zuschauuerraums bleibt sich der Zuschauer im allgemeinen bewußt, daß ihm etwas vorgespielt wird. Es ist das durchschaubare körperliche Spiel der Darsteller, das dem Zuschauer unmißverständlich anzeigt, daß ihm hier etwas vorgemacht wird, das aber auf die Handlungen verweist, die eigentlich gemeint sind. Oder anders gesagt: Theater muß Geschichten erzählen und die Identifikation hängt mehr als von der Schauspielkunst davon ab, ob Zuschauer mit der Geschichte mitgehen können. Die Schauspielkunst besteht letzten Endes gerade darin, die Wahrnehmung des Publikums auf die erzählte Geschichte zu lenken.
Entgegen einem landläufigen Eindruck hängt auch im Film oder im Computerspiel die Identifikation nicht von der Fähigkeit ab, die eigene Lebenswelt wiederzuerkennen. Sonst würden ja die gängigen Genres vom Krimi bis zum Science Fiction kaum Zuspruch finden. Schon Filme bieten hoch artifizielle Umwelten an, die sich sogar möglichst weit von der Alltagswelt des Betrachters entfernen müssen, um als phantasierbare Gegenwelten attraktiv zu sein. Das gilt trotz der rasanten Verbesserung der graphischen Darstellung sogar noch mehr für die Computerspiele, die komplexe künstliche Umwelten von Zeichen aufrichten, die erst über das zeichenhafte Verweisen auf die Erlebniswelt des Spielers zurückwirken, nicht anders als das Requisiten und Kulissen im Theater tun. (Nicht zufällig steht die graphische Darstellung der Spiele dem Comic und der Filmanimation am nächsten, aus denen sie eigentlich hervorgegangen ist).
Die Identifikation kann also kaum auf der Reproduktion der eigenen Lebenswelt beruhen. Sie beruht vielmehr auf der Handlungsführung, auf den Aktionen und Reaktionen der handelnden Figuren, oder anders gesagt: Identifikation stellt sich ein, wo die ästhetischen Handlungen an tatsächliche oder gewünschte Handlungen erinnern, sich an sie angleichen. Das heißt, entscheidend dafür ist letzten Endes die erzählte Geschichte.
Auch im Computerspiel sind es die Handlungen der Spielfiguren, die das Spiel spannend machen und in das Spielgeschehen hineinziehen. Im Unterschied zu den medial erzählten Geschichten treten zu den vorgeführten die vom Spieler beeinflußten steuerbaren Handlungen.
12.
Jugendliche stellen heute ein „schwieriges“ Theaterpublikum dar. Würden sie nicht als Schulklassen und über ähnliche Einrichtungen kommen, würden die meisten von sich aus kaum Theateraufführungen besuchen, während sie doch gerne mit Freunden ins Kino gehen und sich zum gemeinsamen Computerspielen treffen. Sicher gibt es auch Jugendliche, die sich ihre Spielbegeisterung erhalten, im Schultheater mitspielen und dann auch gerne eine Aufführung besuchen, aber sie sind eine Minderheit. Für die Mehrheit ist die Theateraufführung eine Kulturveranstaltung, ins Kino geht man zum Spaß. Einen wesentlichen Einfluß auf die Entwicklung ihres Selbstbildes, ihre Gefühle, ihre Lebenseinstellungen kann man dem Jugendtheater, von Ausnahmen abgesehen, kaum nachsagen.
Das Theater leidet insgesamt noch immer daran, daß es Illusionen zu erzeugen versucht, die die massenmediale Darstellung sehr viel umfassender bieten kann. Gegenüber einem jugendlichen Publikum, das von klein auf von Medienerfahrungen geprägt ist, hat es nur eine Chance, wo es sich auf seine eigentliche Fähigkeit besinnt, das durchschaubare Spiel, und zugleich eine faszinierende Geschichte zu bieten hat.
Die Interaktivität des Computerspiels könnte durchaus Anregungen liefern, Formen des Jugendtheaters zu entwickeln, die jugendliche Träume und Phantasien offener und hautnäher darstellbar machen. Ich meine damit nicht, daß man die Bühne als Bildschirm ausstaffiert oder Bildschirme im Zuschauerraum aufstellt und dergleichen Regieeinfälle. Vielmehr wäre das Verhältnis zum Zuschauer zu verändern, der nicht mehr nur als Adressat auftreten würde, sondern zum Mitgestalter werden müßte. Das riecht nach den Versuchen des Mitspieltheaters, die vor allem daran scheiterten, daß von einem harmlosen Zuschauer, der auch noch seinen Eintritt bezahlte, plötzlich das Mitspiel gefordert wurde, worauf er im allgemeinen pikiert bis sauer reagiert. Die Interaktivität der Computerspiele führt aber eine andere Möglichkeit vor: Der Spieler erhält nur an bestimmten Stellen die Möglichkeit, eine Entscheidung zu treffen und damit auf das Spielgeschehen einzuwirken. Es lohnt die Überlegung, ob sich diese Form des interaktiven Mitspiels nicht aufs Jugendtheater übertragen läßt. Das Unterhaltungsbedürfnis des Zuschauers bliebe beachtet, er erhielte aber zugleich die Möglichkeit, auf die Vorführung Einfluß zu nehmen, sie nach seinen Phantasien zu verändern. Zugleich würde jede Aufführung etwas anders ablaufen und würde sich von allen anderen Aufführungen unterscheiden.
Wie lassen sich solche Überlegungen realisieren?
Eine Anregung dazu bieten die Fanatsy-Rollenspielbücher, die an den Handlungsknoten die Entscheidung über den nächsten Schritt freistellen, dann aber nach einem festgelegten System die Handlung weitertreiben. Eine „interaktive“ Inszenierung würde statt einer „linearen“, in ihrem Ablauf unverrückbaren Handlungsfolge sozusagen mit auswechselbaren „Modulen“ arbeiten, die allesamt geprobt und abrufbar wären. An einigen wichtigen Handlungsknoten würde in irgendeiner Form in Absprache mit den Zuschauern entschieden, wie die Erzählung weiterzuführen ist, und dann die beschlossene Variante weitergespielt. In einer Theateraufführung könnten das sicher nur wenige Handlungsknoten sein. Dennoch würde dieses Verfahren den Zuschauer interaktiv einbeziehen, ohne ihn zum überrumpelten Mitspieler zu machen. Für diese Form des Theaterspiels wäre eine andere Erzählweise zu entwickeln, also die hergebrachte „lineare“ Dramaturgie zu verlassen.
Eine weitere Möglichkeit wäre, Elemente des offenen Improvisationstheaters an einzelnen Punkten der Handlung einzuführen, ohne daß die Struktur der erzählten Geschichte zerstört wird. Dafür könnten die Kreisgeschichten, wie sie im Orient erzählt wurden, Anregungen liefern, in denen die Handlung immer wieder zu einem Ausgangspunkt zurückkehrt, von dem aus sie in die nächste Runde startet. Nach wenigen Durchläufen ist die Grundregel bekannt, auf die das Spiel hinausläuft und es geht um die Relaisierung dieser Regel in immer neuen Handlungssituationen. Die Zwischenbemerkungen, die sich an den „Nullpunkten“ mit den Zuhörern ergeben, beinhalten auch immer Anregungen, was der Held der Geschichte denn jetzt unternehmen solle. Die Erzählung startet dann mit den gegebenen Antworten in die nächste Episode.
Die Einbeziehung solcher „interaktiver“ Elemente in Aufführungen des Jugendtheaters würde einerseits an die am Computer eingeübten Verhaltensweisen anknüpfen, andererseits die Zuschauer in eine bestimmte Spannung versetzen, die aus der Beobachtung resultiert, ob und wie weit die Schauspieler sich fähig zeigen, die Publikumseingriffe in lebendiges Spiel umzusetzen. Über dieser Spannung (die übrigens auch den Reiz so vieler absurder Talk-shows und Fernsehunterhaltungen ausmacht) könnte auch die Beteiligung und das Interesse der Zuschauer steigen und darüber die Identifikation mit den vorgeführten Verhaltensweisen verstärken, und damit dem Jugendtheater eine Lebendigkeit zurückgeben, die es so oft entbehrt. Auch wäre diese „Interaktivität“ eigentlich auch in der Theaterlandschaft nichts Neues, sie würde auf einer neuen Stufe nur das wiederbeleben, was schon das gute alte Improvisationstheater (etwa in der Tradition des Wiener Volkstheaters) auszeichnete.
(Vortrag gehalten in Stuttgart)