Johannes Merkel
1.
Kinder (und damit meine ich hier vor allem Kinder vor dem Schuleintritt und in den ersten Schuljahren) sind geübte und erfahrene Spieler. Sie spielen aber anders, als im Theater gespielt wird.
Ihre Rollenspiele starten ohne festen Plan und ohne Spielvorlage und erreichen doch meist ihr Ziel: Sich durch eine vorgestellte Welt zu bewegen und dabei spielend eine Geschichte zu erzählen.
Gespielt wird in ständiger gegenseitiger Abstimmung der Spielweisen, der Spielgegenstände und der Spielhandlung. Die Spielenden stimmen sich ab, indem ein Spieler in eine Rolle geht und die Mitspieler darauf reagieren, oder indem man aus der Fiktion heraustritt und über die Rollenzuweisung und den Fortgang der Handlung verhandelt.
Durch die ständig wechselnde Festlegung von Spielräumen, Spielgegenständen und Spielhandlung lassen sich Wünsche und Phantasien aller Mitspieler integrieren, und sofern es nicht im Streit abbricht, eine gemeinsame Spielfiktion ausbilden.
Die Spielfiktionen nehmen dabei immer mehr die Form von Erzählungen an. Während in den ersten Jahren noch vorwiegend die erlebte Umwelt nachgestellt wird, werden die Spiele älterer Kinder phantastischer und nähern sich in ihrem Ablauf an Geschichten an, zugleich dienen (gehörte, vorgelesene oder mediale) Geschichten zunehmend als Spielvorlagen.
2.
Auch Erzählen (und ich meine damit im Folgenden ein lebendiges, mit Darstellungen durchsetztes mündliches Erzählen) braucht wechselseitige Abstimmung.
Zwar folgt der Erzähler dem vorgegebenen Ablauf seiner Geschichte und er ist es, der während der Erzählung das Rederecht hält, doch improvisiert er seinen Text und seine Darstellung, indem er laufend die (nonverbalen und verbalen) Äußerungen seiner Zuhörer berücksichtigt. Nicht nur daß er den Erzähltext auf ihr Verständnis ausrichtet, selbst der Handlungsbogen wird nach den Reaktionen des Publikums variiert. Die Anpassung an Verständnis und Phantasien der Zuhörer macht Erzählen (auch wenn es ihnen zu wenig geboten wird) für Kinder dieses Alters so attraktiv, und sie erinnern erzählte Geschichten genauer als jede andere Präsentation.
Auch die Spielelemente werden an die Wahrnehmung der Zuhörer angepaßt (die ja in Wahrheit Zuschauer sind). Erzähler spielen anders als Schauspieler. In den Spielszenen werden handelnde Personen nur kurz angespielt, ähnlich wie Kinder rasch in Rollen schlüpfen und sie gleich wieder verlassen. Im erzählenden Text wird die Erzählung über darstellende Gesten illustriert. In beiden Fällen werden stellvertretende Zeichen gesetzt, die sich auf eine fast magische Weise in der Vorstellung des Publikums in Bilder verwandeln, die den Text illustrieren. Die Verbindung von sprachlicher Aussage und gestischen Zeichen erlaubt über Zeiten und Räume zu springen und eröffnet eine Freiheit der Darstellung, die selbst von technischen Medien nicht erreicht wird.
Trotz (oder vielleicht gerade wegen) seiner Beweglichkeit und grenzenlosen Spielbarkeit kann Erzählen im Handumdrehen nachgemacht werden. Daß Erzählungen Kinder so selbstverständlich anregen, selbst zu erzählen, mag auch mit der Nähe zum Rollenspiel zu tun haben. Entscheidend ist, daß sie übers Erzählen ihre eigenen Erfahrungen, Phantasien und Ängste zum Ausdruck bringen lernen.
3.
Die überkommenen Erzählweisen des Theaters arbeiten demgegenüber mit Festlegungen von Rollen, Spielräumen und Spielgegenständen, die die schier grenzenlose Beweglichkeit von Rollenspiel und Erzählen einschränken, während mediale Darstellungen durchaus diese durch Raum und Zeit springende Wiedergabe technisch herzustellen und dabei jede phantastische Vorstellung ins Bild zu rücken verstehen.
Aber alle technischen Medien haben einen großen Nachteil, der für Kinder dieses Alters schwer wiegt: Sie können nicht antworten (selbst die „Interaktivität“ des Computerspiels reicht nur so weit, wie es das Programm vorsieht): Die Kindern so geläufige gegenseitige Abstimmung, die sich an die vertraute Form des Gesprächs annähert, wird unterbunden. Zumindest die herkömmliche Aufführung des Kindertheaters unterscheidet sich darin nur wenig von Medienangeboten: Zwar hat die Aufführung den Vorteil, daß sie (anders als die undurchsichtigen Herstellungsweisen der Medien) als Spiel anwesender und greifbarer Personen durchschaut werden kann, das eine andere damit gemeinte Handlung bezeichnet, aber die Spieler einer Aufführung können nur bedingt auf ihr Publikum reagieren, das Spiel ist durch die Inszenierung vorab festgelegt.
4.
Je jünger Kinder sind, desto mehr weichen die ihnen vertrauten Weisen der Wahrnehmung und der spielerischen Verarbeitung von den Spielkonventionen ab, auf die sie im Kindertheater stoßen. Kinder, die doch in diesem Alter den größten Teil des Tages mit Spielen verbringen und versierte Meister der improvisierenden stellvertretenden Darstellung sind, erweisen sich bezeichnenderweise als schlechte „Schauspieler“: Bei den für die Erwachsenen inszenierten Aufführungen fragen sie hilflos: Was soll ich tun? Was soll ich sagen?
Natürlich kann es nicht darum gehen, die Spielweisen von Kindern nachzuäffen. Als ein allgemeiner Grundsatz kann gelten: Angebote an Kinder sind dann immer am folgenreichsten und regen sie am nachhaltigsten an, wenn sie den kindlichen Horizont übersteigen und sie herausfordern, neue Möglichkeiten zu erkunden. Um das tun zu können, müssen sie sich ihnen aber andererseits auch verständlich machen, dürfen nicht zu weit von ihren Weisen der Wahrnehmung und ihren Kenntnissen abweichen.
Das an den tradierten Spielkonventionen orientierte Kindertheater scheint mir jedoch die Spiel- und Wahrnehmungsweisen jüngerer Kinder nicht genügend zu berücksichtigten, ja auch kaum zu kennen. Es lohnt sich deshalb zu fragen, wie ein Kindertheater aussehen könnte, das Kindern dieses Alters genauer entsprechen würde?
Einige wesentliche Punkte lassen sich skizzieren (und werden annäherungsweise von manchen, insbesondere freien Gruppen auch praktiziert).
5.
Da ist einmal die Spielanregung für die zuschauenden Kinder.
Es ist ein falscher Gemeinplatz, Kinder würden von sich aus phantasievoll spielen. Auch Spielen will gelernt sein, und Kinder lernen spielen, indem sie sich (wie vieles andere auch) Spielweisen anderer Kinder anschauen und sie übernehmen. Sie lassen sich mit Begeisterung auch von Erwachsenen anregen, die sich dazu herablassen, mit ihnen zu spielen. Nur haben sie dazu zu selten Gelegenheit.
Hier kann die Theateraufführung sehr anregend wirken. Es geht allerdings nicht darum, Kinder so nachzuhampeln, wie man sich Kinder vorstellt. Es geht eher darum komplexere Spielweisen vorzuführen, auf die Kinder selbst nicht so leicht geraten würden. Die stellvertretende gestische Darstellung (die Schauspieler selten beherrschen) dürfte am anregendsten wirken, weil sie sich am weitesten von der blanken Nachahmung entfernt und damit die Phantasie am nachhaltigsten zum Tanzen bringt.
6.
Da ist zweitens die Beteiligung der Zuschauer am vorgeführten Spiel. Sie wird meist mit Hinweis auf die mißglückten Versuche des Mitspieltheaters abgetan. Der entscheidende Vorteil des Theaters gegenüber den audiovisuellen Medien liegt darin, daß es mit seinen Zuschauern in Kontakt treten und in Kontakt bleiben kann. Kinder vor dem Schulalter brauchen diese Nähe zur dialogischen Verständigung, um die Bilder und Erzählungen aufzunehmen und zu verarbeiten. (Darum unterhält man sich beim Vorlesen eines Bilderbuchs über Text und Bilder.)
Im privaten Umgang oder vor einer kleinen Kindergruppe stellt es kein Problem dar, die Phantasien einzelner Kinder in eine Erzählung einzubringen und sie dennoch zu einem klaren Ende zu führen. Im Falle einer Aufführung vor einem größeren Publikum ist jede Beteiligung dagegen in überlegter und angemessener Weise vorzusehen: Sie darf die Vorführung nicht sprengen, sondern hat sie zu bereichern und sie muß dennoch zu einem befriedigenden Abschluß gebracht werden.
Es wäre durchaus denkbar, Handlungsstränge zu entwickeln, die nach der Baumstruktur von Computerspielen angelegt sind. An entscheidenden Handlungsknoten wäre dann eine Publikumsbefragung durchzuführen und nach deren Entscheidung weiterzuspielen. Das würde allerdings voraussetzen, daß alle Entscheidungswege inszeniert sind, aber jeweils nur die gespielt werden, für die sich die Zuschauer entschieden.
Eine offenere Form, und wohl auch eine, die dem Theater gemäßer wäre, könnte aus strukturiertem Improvisieren entstehen. Beim gestischen Erzählen ist es sehr einfach, Kinder zum Miterzählen zu bringen, sofern sie den Rhythmus der Erzählung vorgeführt bekommen. Komplexere Geschichten bestehen aus variierenden Episoden, die alle nach einer einsehbaren Spielregel gebaut sind. Ein simples Beispiel bieten die häufigen Brüdermärchen: Sobald von drei Brüdern die Rede ist, weiß jedes Kind, wer scheitert und wer die Prinzessin kriegt. Dieses Verfahren kann man mit offeneren Kettengeschichten anwenden: Der Held, der in die Welt zieht um zu erreichen, was er sich vorgenommen hat, kann auf seinen Stationen immer neue und unerwartete Erfahrungen machen, und wird doch am Ende ans Ziel gelangen. Ich kann die Zwischenstationen also durchaus nach den Vorschlägen von Kindern improvisieren oder sie gar selbst mitspielen lassen. Man kann davon ausgehen, daß sie sich an die Struktur der ersten vorgeführten Stationen halten werden. Jede einzelne Aufführung würde sich dadurch anders entwickeln und doch zu einem klaren Ende kommen. Es gibt eine ganze Reihe von rhythmischen Strukturen, die sich für eine solche Erzählweise eignen und die gerade in tradierten Erzählungen immer wieder zu finden sind.
7.
Solche Formen des Theaterspielens für Kinder sind wohl nur zu entwickeln, wenn man nicht nur für, sondern auch mit Kindern spielt.
Für Schauspieler, aber auch für Autoren ist das Spielen mit Kindern ausgesprochen lehrreich: Es fordert und fördert die Fähigkeit einer beweglichen und offenen Improvisation, das spontane Realisieren von Einfällen in symbolischer Darstellung. Dabei kann sich ein intuitives Verständnis entwickeln, was Geschichten für Kinder (und nicht nur für Kinder) bedeuten und wie sie konstruiert werden. Wer durch diese „Lehre“ gegangen ist, wird Geschichten und Spielweisen entwickeln können, die Kindern dieses Alters angemessen sind.
Aus der Perspektive der Kinder sieht die Sache noch etwas anders aus: Es ist eigentlich die sinnvollste Form von Kindertheater, dorthin zu gehen, wo sich Kinder dieses Alters aufhalten und mit ihnen Spiele auszudenken und durchzuspielen. Es wird sie sicher mehr anregen, ihre Phantasien genauer zum Ausdruck bringen und ihre Spielfähigkeit nachhaltiger fördern als Aufführungen in einem gesonderten Theaterraum. Wobei das eine das andere nicht ausschließt, im Gegenteil: Aus den Kindern, die in Kindergarten und Schule zu begeisterten und versierten Spielern wurden, dürften am ehesten später passionierte Zuschauer werden.
Leider fehlt uns für diese Form von Kindertheater ein institutioneller Rahmen. Denjenigen, die als Pädagogen in den Einrichtungen Spielaktivitäten anbieten, haben oft nicht die nötige Ausbildung und darstellerische Beweglichkeit. Auch sie folgen viel zu konventionellen Mustern des „darstellenden Spiels“. Es scheint mir eine Überlegung wert zu sein, ob man nicht das professionelle Spielen für und vor Kindern zu einem guten Teil umwandeln könnte in ein Spielen mit Kindern. Das würde, wenigstens zum Teil, auch ein verändertes Bild des Schauspielers bedeuten: Aus dem kunstreichen Vorspieler würde ein anregender und artistisch versierter Mitspieler werden. Gerade für jüngere Kinder wäre das sicher folgen- und lehrreicher als viele geschickt inszenierte Aufführungen. Ich nehme aber auch an, daß es für Theaterschaffende und Schauspieler zu einer Quelle der Inspiration werden könnte.
(Vortrag gehalten am 5.12.2006 in Frankfurt)