Über die veränderte Wahrnehmung unserer Kinder und was das für Kindertheater und darstellendes Spiel bedeuten könnte
Johannes Merkel
Wahrnehmung ist ein sehr fein und individuell gewebter Stoff. Selbst die Wahrnehmung uns nahestehender Menschen ist nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Wir können nicht mit ihren Augen sehen, nicht mit ihren Ohren hören und noch weniger das Gesehene oder Gehörte mit ihren Gehirnen verarbeiten. Zwar lassen sich Wahrnehmungen mitteilen, aber Sprache ist bekanntlich nur bedingt in der Lage, solche sehr individuellen und spezifischen Eindrücke wiederzugeben. Stets lauert die Gefahr, daß wir die eigenen Wahrnehmungen dem Gegenüber als selbstverständlich unterstellen und daraus Mißverständnisse, ja unauflösbare Konflikte erwachsen.
Wenn es schon überhaupt Mühe macht, sich über den Gehalt von Wahrnehmungen zu verständigen, wie viel schwieriger muß es dann fallen, über die Wahrnehmungen einer nachfolgenden Generation zu sprechen. Immerhin hatten Menschen, die in etwa zur gleichen Zeit und in der gleichen Gesellschaft groß geworden sind, auch in etwa eine ähnliche, jedenfalls vergleichbare Anschauung vor sich, aus der sie Wahrnehmungen geschöpft und Schlußfolgerungen gezogen haben. Weil sich die Lebenswelt aber mit jeder Generation verändert, werden damit auch jeweils veränderte Wahrnehmungsweisen ausgebildet. Zwar lebt auch noch die frühere Generation in dieser neuen Umgebung, betrachtet und bewertet sie aber mit den Kategorien, die sie aus ihrer prägenden Erfahrung Jahrzehnte früher gebildet hat. Ist es also nicht zu verwegen, Aussagen über die veränderte Wahrnehmung heutiger Kinder zu machen? Oder gar Schlußfolgerungen daraus abzuleiten, über ihre Weise des Spielens und ihrer ästhetischen Wahrnehmungen?
Wahrnehmung und Sprache
Versuchen wir uns diesem transparenten Stoff mit den Kategorien zu nähern, die sich aus der wissenschaftliche Diskussion ableiten lassen. Sie erlauben zwei grundlegende Aussagen zu machen.
Zweifellos bilden die Sinneseindrücke, die die Umgebung liefert, den Rohstoff jeder Wahrnehmung. Diese Aussage scheint unsere naive Vorstellung zu bestätigen, unsere Wahrnehmungen würden die Umwelt mehr oder weniger zutreffend abbilden. Dagegen spricht aber schon die alltägliche Erfahrung, daß Menschen, die das Gleiche gesehen haben, darüber recht widerstreitende Aussagen machen können. Nicht erst die Gehirnforschung, die das mit der Funktionsweise unseres Denkorgans belegen kann, schon das genauere Nachdenken spricht dafür, daß in jede Wahrnehmung die Verarbeitung mit eingeht. Sie aber ist abhängig von den Strukturen und Kategorien, die aufgrund früherer Wahrnehmungen gebildet wurden. Neu ankommende sinnliche Informationen werden nach den vorhandenen Kategorien eingegliedert und bewertet. Sinneseindruck und Verarbeitung bilden eine Einheit, die kaum aufzutrennen ist. Alle Wahrnehmung ist demnach von den Strukturen geprägt, mit denen wir uns angewöhnt haben, die Welt zu betrachten.
Man darf allerdings davon ausgehen, daß die Kategorien, die Wahrnehmung steuern, in früher Kindheit noch recht beweglich sind. Zwar werden vom ersten Lebenstag an Erfahrungen gemacht, die sich zu Mustern verfestigen und wohl auch auf der Ebene der Gehirnorganisation Schaltwege anlegen. Aber die Vernetzung ist noch in vollem Gange, die ersten Eindrücke sind prägender, die Wege offener und wohl auch leichter zu revidieren und neu zu organisieren.
Vor diesem Hintergrund läßt sich eine weitere Unterscheidung treffen: Kinder leben vor dem Spracherwerb in einer Welt, die von ihren körperlichen Sensationen und Fähigkeiten bestimmt wird. Alles, was sie erkennen und verarbeiten, verbindet sich mit Tätigkeit und körperlichem Ausdruck. Alle Sensationen erfolgen über Aktivitäten und führen zu aktivem Handeln. Diese Wahrnehmungen sind je nach der körperlichen Sensation und der emotionalen Tönung differenziert und individuell.
Mit dem Spracherwerb aber verändert sich auch die Wahrnehmung. Sprache arbeitet mit generellen Bezeichnungen, die die individuellen Empfindungen in übergreifende Kategorien einordnen. Laufen bezeichnet die Fortbewegung durch das Betätigen der Füße, ohne zu unterscheiden, ob die Füße ausgeruht oder geschwollen sind, was für die Körperwahrnehmung einen entscheidenden Unterschied macht. Über die sprachlichen Bezeichnungen nimmt das Kind an den überpersönlichen kulturellen und gesellschaftlichen Strukturen teil. Kinder treten darüber in eine umfassendere Gemeinschaft ein, werden überhaupt erst fähig in der Gesellschaft zu leben. Allerdings um den Preis, daß ihre ganz spezifischen individuellen Wahrnehmungen im übergeordneten sprachlichen Ausdruck subsumiert, oder, wo er sie nicht fassen kann, unterdrückt werden. Nur noch im nonverbalen sprachbegleitenden Ausdruck können sie sich weiter Geltung verschaffen. Spielen, Erzählen und eben auch darstellende Spiel, zeichnen sich dadurch aus, daß körperliche und nonverbale Ausdrucksformen das gleiche Gewicht wie die generalisierenden sprachlichen Aussagen haben, daß sich beide Elemente zu einer einheitlichen Bedeutung zusammenfügen, sich ergänzen, ineinander oder gegeneinander spielen.
Das ‚Ende der Kindheit‘ und die Medien
Kindheit als eigene vom Erwachsenendasein unterschiedene Lebensphase, wie sie sich im 19 Jhd. ausbildete und deren Verschwinden heute von Pädagogen oft beklagt wird, war im Wesentlichen die Lebensperiode, in der die umfassende sprachliche Steuerung angelegt, befestigt und abgesichert wurde. Wir können das exemplarisch an den Vorgängen ablesen, die Freud für den sogenannten “Ödipuskomlex” beschrieb und die nach dieser Konzeption mit der Verinnerlichung sprachlicher Regeln zum Abschluß kommen. Sie bereitete den Boden für eine lange Phase der Ausbildung, die wiederum vor allem über sprachliches Training Kognition und Denken beförderte. Die Strebungen, die in diese Kategorien nicht eingingen, in ihnen nicht einlösbar waren, blieben als individuelle Traumwelten virulent, wenn sie nicht ganz verdrängt wurden. Nur in Form von künstlerischen Gestaltungen, als Werke der Dichtung oder der Kunst, konnten sie gesellschaftliche Anerkennung finden. In diesen Gestaltungen mochte der einzelne die abgespalteten Sensationen wieder erkennen und sie damit am Leben erhalten. Für die Kinder wurde deshalb eine eigene Form des Theaters geschaffen, die diese Eindrücke aufnahm und zugleich kanalisierte und damit gesellschaftsfähig machte. Das Gleiche gilt für die gesamte Spielkultur, die sich um die bürgerliche Kinderstube herum gruppierte, oder die Erzählungen der Kinderliteratur. Sie alle suchen die sinnlichen Wahrnehmungen in gesellschaftskonforme Bahnen zu lenken.
Der beklagte Verlust der Kindheit wird daran festgemacht, daß Kinder immer mehr und immer früher in die Konsumgesellschaft eingefügt und dort als voll berechtigte Adressaten anerkannt werden. Verbunden und vorangetrieben wurde diese Entwicklung durch ein umfassendes Angebot an Medien, die eigens für Kinder konzipiert und vertrieben werden. Die Massenmedien haben Kinder als Adressaten dabei allerdings relativ spät erreicht verglichen mit den Angeboten, die sie längst für Erwachsene bereit hielten. Hier wirkte noch lange das Bild bürgerlicher Kindheit nach und erst mit der endgültigen Durchsetzung einer auf massenhaften Konsum angewiesenen Wirtschaft haben ihre Produkte gleich einem Dammbruch die Kinderstuben überschwemmt. Und man darf davon ausgehen, daß sie die kindliche Wahrnehmungswelt tiefgreifend verändert haben.
Zur gesellschaftlichen Rolle der Massenmedien
Massenmedien haben in den aus widersprüchlichen Gruppierungen zusammengesetzten und individualisierten Industriegesellschaften letzten Endes die Aufgabe, gemeinsame und allgemein akzeptierte Bezüge herzustellen und so den Zusammenhalt der Gesellschaft zu sichern. In der vorindustriellen Gesellschaft leistete das die Kirche mit ihrer einheitlichen christlichen Weltsicht, die keine Abweichung duldete. Die klassische bürgerliche Gesellschaft wurde durch eine verbindliche Moral zusammengehalten, die eben in der frühen Kindheit verinnerlicht wurde und damit lebenslang gültig blieb. Massenmedien greifen demgegenüber sehr viel tiefer in das Bewußtsein aller Mitglieder der Gesellschaft ein, indem sie nun auch innere Bilder und Vorstellungen vorzugeben und zu befestigen suchen, und dafür eine ausgeklügelte und ständig auf ihre Wirksamkeit hin überprüfte Technologie ausgebildet haben. Neben die sprachlichen Ordnungsstrukturen, die die Wahrnehmung in der überkommenen Gesellschaft steuerten, treten sinnliche Muster, die wegen ihrer suggestiven Überzeugungskraft sehr viel tiefer und nachhaltiger wirken. Sie können deshalb auf die starken Sanktionen verzichten, die auf die Verletzung moralischer Regeln folgten. Die Gesellschaft kann sich liberalisieren, dem Einzelnen einen zuvor ungeahnten individuellen Spielraum zugestehen, weil Kategorien und Muster, die seine Wahrnehmung beeinflussen, so tief verankert sind, daß sie kaum mehr als einschränkend bemerkt werden.
Die Wirkung massenmedialer Beeinflussung hängt eng mit den technischen Verfahren ihrer Vermittlung zusammen. Medien liefern „Einwegkommunikation“. Die Geschichten, die sie erzählen, die Bilder und Töne, die sie senden, treffen auf einen Empfänger, der sich nicht dazu äußern kann. Das ändert sich auch nicht grundsätzlich durch die viel beschriebene „Interaktivität“, die der Computer ermöglicht, die ja nur so weit reichen kann, wie es das Programm vorsieht.
Auch die Mythen und Erzählungen einfacher Gesellschaften hatten stets die Aufgabe, ihre Hörer auf verbindliche und gemeinsame Bilder und Werte einzustimmen. Aber die personale und quasi handwerkliche Weise der Vermittlung erforderte die ständige Rückkopplung und Abstimmung mit dem Publikum, dem darüber ein unmittelbarer Einfluß zugestanden wurde. Denn personales Erzählen erfordert das Zusammenspiel von Hörern und Erzähler, es ist das, was in der älteren Volkskunde geheimnisvoll als „Erzählgemeinschaft“ gepriesen wurde. Noch deutlicher tritt das Zusammenwirken auf Festen hervor, die der gemeinsamen Repräsentation dieser Mythen dienten und dem einzelnen Mitspieler erlaubte sich mit seinen Neigungen und Impulsen einzubringen.
Die gemeinsame Abstimmung im Spiel
Es ist zu einfach und bleibt zudem folgenlos, den Einfluß der Massenmedien auf Kinder zu beklagen. In einer Gesellschaft, in der Erwachsene täglich mit Medien umgehen, werden Kinder daran teilhaben können und müssen. Und man unterschätze nicht, wie viel sie darüber an Informationen über Bereiche und Zusammenhänge frei Haus geliefert bekommen, die weit über die Grenzen ihrer eigenen Erfahrung hinausreichen. Medien bieten Kindern durchaus ein „Fenster zur Welt“.
Mediale Kommunikation aber bleibt immer einseitig. Entscheidend ist die Frage, ob und in welcher Intensität Kinder Gelegenheit haben, ihre Erfahrungen und Phantasien in gemeinsamen Kreationen zu gestalten. Und das heißt, die Muster ihrer Wahrnehmung nicht einfach zu übernehmen, sondern in Abstimmung mit den Personen ihrer Umgebung auszuarbeiten.
Gerade am Spielen, das ja nach wie vor die wichtigste Betätigung von Kindern ausmacht, ihre Entwicklung überhaupt und insbesondere auch ihre Wahrnehmung am nachhaltigsten prägt, läßt sich zeigen, welche Rolle die gemeinsame und wechselseitige Abstimmung innehat. Das Rollenspiel, das Kinder im Vorschulalter bis weit in das Schulalter hinein unermüdlich spielen, kann nur solange funktionieren, wie sich die Teilnehmer ständig über die Spielgegenstände, die Spielweise und die Spielhandlungen abstimmen. Sofern die Absprache mißlingt, bricht auch das Spiel zusammen. Das gemeinsame Spielinteresse läßt die Teilnehmer immer wieder nach gangbaren Wegen suchen, die Spielfiktion aufrecht zu erhalten.
In und mit den Spielen werden Bedeutungen gemeinsam ausgehandelt und damit Muster angelegt, mit denen die Spielenden sich und ihre Umwelt wahrnehmen. Anders als in den massenmedialen Bildern und Geschichten werden im gemeinsamen Spiel die eigenen mit Erfahrungen und Wünschen anderer abgeglichen und zu eigenständigen Bildern gestaltet, so trivial sie uns als Außenstehenden auch immer erscheinen mögen. Denn selbstverständlich werden in ihnen auch die Medienvorlagen benutzt, aber sie werden über die spielerische Gestaltung verwandelt und mit der eigenen Erfahrung versetzt.
Das Kindertheater in der Mediengesellschaft
Was können diese Überlegungen für ein Kindertheater aussagen, das den veränderten Lebensbedingungen und den daraus resultierenden Wahrnehmungsweisen angemessen wäre?
Einen brauchbaren Gesichtspunkt ergibt schon ein kurzer Blick auf die Ursprünge des Kindertheaters. Als Märchentheater am Ende des 19.Jh.s hatte es die Aufgabe kindliche Träume und Phantasien zu wecken, es arbeitete mit prächtigen Bildern und überwältigenden Kulissen und regte damit die Ausbildung phantasierter Gegenwelten an, die die einschränkende Moral zu ertragen und zu akzeptieren halfen. Nicht anders als in der Kinderliteratur ingesamt waren die moralischen Prinzipien in den präsentierten Geschichten selbst enthalten und erstrahlten in der prächtigen Präsentation in goldenem Licht. Zwar haben sich seither die verbindlichen Prinzipien verändert, ihrer Machart und Vermittlung nach aber arbeiten die Botschaften der Massenmedien nach dem gleichen Prinzip. Sie tun das aber nachhaltiger und beeindruckender, als es selbst die aufwendigste Theateraufführung bewerkstelligen könnte. Das Weihnachtsmärchen, das noch immer als klassischer Kassenfüller überlebt, hat unter diesem Gesichtspunkt mehr als ausgedient, auch wo es neuere und aktualisierte Geschichten zu erzählen versucht.
Für ein Theater, das den Wahrnehmungsweisen heutiger Kinder gemäßer sein möchte, möchte ich zwei Gesichtspunkte anführen: einmal die Durchschaubarkeit des Spiels, zum andern die Form theatralischen Erzählens.
Daß Kinder schon von selbst kreativ und phantasievoll spielen würden, ist eine unter Pädagogen gängige Ansicht. Kinder müssen jedoch, wie alle andern Lebensverrichtungen, auch das Spielen lernen, brauchen dazu allerdings keinen Schulungskurs, sondern Anregung. Angeregt werden sie vor allem von den Kindern, mit denen sie spielen. Da Erwachsene, und leider auch Pädagogen, es oft nicht mit ihrer Erwachsenenrolle vereinbaren können mitzuspielen, andererseits Kinderspielzeug und Medien sehr stereotype Vorlagen liefern, kann immer wieder beobachtet werden, daß Kinder nach recht starren Mustern spielen. Das Vorführtheater für Kinder erhält hier eine Chance, die viel zu wenig genutzt wird, nämlich Anregung zur Spielweise der Zuschauer zu liefern. Gegenüber den Medien hat das Theater den Vorzug, daß es als symbolisches Spiel sichtbarer und greifbarer Personen durchschaubar ist. Das klassische Vorführtheater versuchte die Machart gerade zu verwischen und noch immer zählt die raffinierte Darstellung bei Theatermachern oft mehr als das durchschaubare Spiel. Eine Spielweise, die von den Formen kindlichen Spielens ausgeht, sie ausdifferenziert, sich überraschende Spielweisen ausdenkt, würde Kinder sicher mehr fesseln als beeindruckende Inszenierungen und würde zugleich die Spielphantasie der Kinder beflügeln.
Im Kindertheater werden Geschichten erzählt, seine Wirkung hängt entscheidend von der Qualität des Erzählens. Beim Erzählen gehen wir davon aus, daß einer spricht, die andern zuhören. Der Zuhörer, der aber eigentlich wie im Theater ein Zuschauer ist und die Aktivität des Erzählers genau beobachtet, erzählt immer mit. Denn die Erfahrung zeigt ebenso wie detaillierte Analysen, daß der Zuhörer tatsächlich immer beteiligt ist, die Erzählweise und die Ausrichtung der Geschichte durch seine offenen und unterschwelligen Reaktionen steuert. Darum lassen sich Kinder auch so leicht zum Miterzählen verführen und werden nach einer Erzählung angeregt, selbst zu erzählen.
Ein Vorführtheater für Kinder, das ähnliche Formen der kontrollierten Beteiligung erlauben würde, dessen Inszenierungen offene Improvisationen der Spieler vorsähe, an Knotenpunkten der Handlung dem Publikum Mitwirkung zugestände, ähnlich wie das die Interaktivität der Computerspiele vorsieht, würde den Bedürfnissen und Wahrnehmungen unserer Kinder wohl näher kommen als die insgesamt nach wie vor starren Weisen des Inszenierens. Sie würde an die ständigen Abstimmungen anknüpfen, die Kinder im Rollenspiel vornehmen. Insofern unterschätzen und unterfordern Theatermacher wohl häufig ihr kindliches Publikum.
Das Vorführtheater für Kinder erhält hier eine Chance, die viel zu wenig genutzt wird. Gegenüber den Medien hat das Theater den Vorzug, daß es als symbolisches Spiel sichtbarer und greifbarer Personen durchschaubar ist. Das klassische Vorführtheater versuchte seine Machart gerade zu verwischen, und noch immer zählt die raffinierte Darstellung bei Theatermachern oft mehr als das durchschaubare Spiel. Ich denke, eine Spielweise, die die Ausdrucksweisen gestischer Darstellung einbezieht, die Geschichte in einem Gewebe aus Spiel, gestischer Vorführung und Sprache präsentiert, würde von Kindern besser durchschaut und verstanden als die Darstellungsweisen des überkommenen Theaters. Sie würde zugleich Spielanregungen bieten und die Spielphantasie der Kinder beflügeln.
In solchen theatralischen Formen wäre auch das Mitererzählen der Zuschauer denkbar, ohne daß die Vorführung zerfleddert, wie das bei den Versuchen des Mitspieltheaters passierte. Man benötigt dazu aber Vorlagen, die Zuschauerbeiträge aushalten.
Im Prinzip gibt es dazu zwei Wege. Es lassen sich Spielvorlagen entwickeln, die auf einer Reihung von Episoden beruhen und deren Struktur rasch klar wird. Die Spieler könnten dann nach den Vorschlägen aus dem Publikum weitere Episoden improvisieren und die Aufführung mit der inszenierten Lösung zu Ende bringen. Das setzt natürlich voraus, daß die Spielen zu improvisieren verstehen.
Eine zweite Möglichkeit bietet eine „Baumstruktur“ der Handlung, die an bestimmten Knotenpunkten Entscheidungen zuläßt, wie es weitergehen soll, ähnlich wie das die Interaktivität der Computerspiele vorsieht. In diesem Fall müßten alle denkbaren Wege inszeniert sein, aber nur die gespielt werden, für die sich die Zuschauer entscheiden. Auch dafür gibt es übrigens Vorlagen bei Erzählungen.
Improvisieren statt inszenieren
Theater wird nicht nur im Theater gespielt, darstellendes Spiel wird mehr oder weniger in allen pädagogischen Einrichtungen gepflegt, ist allerdings oft noch zu sehr von den überkommenen theatralischen Spielformen geprägt.
Exemplarisch kann man das an den Vorführungen beobachten, die in Kindergärten oder Horten vor elterlichem Publikum geboten werden. Dafür wird lange vorher „geprobt“, oft sogar nach einer als Theaterstück ausgeschriebenen Vorlage. Kinder, die selbstverständlich in ihren Spielen Rollen und Spielhandlungen aufeinander abzustimmen und danach zu improvisieren verstehen, fragen plötzlich unsicher: „Was soll ich tun? Was muß ich sagen?“
Ein angemesseneres Verfahren wäre, die Geschichte zu erzählen, die Rollen zu verteilen und die Kinder improvisierend spielen zu lassen. Wo sie stecken bleiben, fügt man kurz einige erzählende Sätze ein, die das Spiel wieder in Gang bringen. Hat man die Geschichte dafür selbst schon mit den Kindern ausgearbeitet, werden sie noch sicherer und kreativer damit umgehen können. Dabei werden sich meist Abweichungen und Variationen ergeben, aber wenn die Geschichte mehrmals durchgespielt wurde, schaffen es Kinder ohne weiteres auch vor einem Publikum die Linie ihrer Geschichte improvisierend zu Ende führen. Dabei ergibt sich für die Zuschauer eine zusätzliche Spannung bei der Beobachtung, wie die Spieler aufeinander zu reagieren verstehen.
Von den unbegrenzten Möglichkeiten des Spielens
Daß Kinder im Vorschulalter schwer tun, geprobte Szenen wiederzugeben, gleichzeitig aber über eine bewundernswerte spontane Improvisationsfähigkeit verfügen, hat die gleiche Ursache: Sie erfahren sich selbst agierend als Mittelpunkt ihres Spiels, können aber noch kaum aus sich heraustreten, um ihr Spiel mit den Augen des Zuschauers zu betrachten. Sie spielen also vor allem für sich selbst, nicht für ein Publikum. Deshalb brauchen ihre Rollenspiele auch keine Zuschauer, und eben darum können sie auch noch schlicht alles spielen, den Briefträger ebensogut wie eine Ameise, eine Nudel oder ein Fahrrad.
Die spontane Spielfähigkeit der Kinder zu bewußtem darstellenden Spiel weiter zu entwicklen, empfiehlt sich auch deswegen, weil es diesen „fremden“ Blick auf das eigene Verhalten schult und die Fähigkeit fördert, die Perspektiven der anderen wahrzunehmen und in Rechnung zu stellen. Aber dieser Blick durch die fremde Brille wird wohl um so besser geschärft je umfassender die Vorführung die kindlichen Spielfähigkeiten berücksichtigt. Leider bleiben die in Einrichtungen gepflegten Spielweisen häufig unter dem Niveau der kindlichen Spielfähigkeit, weil sie sich zu sehr an den Konventionen tradierten Theaterspielens orientieren.
Wiederum kann man sehr gut vom Erzählen ausgehen: Der Erzähler besitzt eine Beweglichkeit, von der selbst eine ausgefeilte Theatertechnik nur träumen kann. Mit einem Sätzchen kann er Schauplätze wechseln, einen Tisch zum Laufen bringen oder ein Krokodil aus dem Ärmel zaubern. Im Rollenspiel geübte Kinder schlagen ähnlich überraschende Purzelbäume. Erzählen läßt sich ja in vieler Hinsicht als Fortsetzung des Rollenspiels begreifen: Die Spielaktionen werden zu gestischen Darstellungen verkürzt, die Absprachen zwischen den Spielenden zu sprachlichen Erzähltexten ausgeweitet. Weil es ihren eigenen Spielerfahrungen so nahe kommt, können Kinder von Erzählungen in allen Variationen (eben auch als Hörkassette oder Fernsehfilm) kaum genug bekommen.
Umgekehrt lassen sich die unwahrscheinlichsten Gestalten und Handlungen auch spielen. Dazu muß sich kein Anleiter oder Regisseur den Kopf zerbrechen. Es genügt, die Geschichte mit ausgeprägter Gestik und gelegentlichen Spieleinlagen zu erzählen, die Rollen zu verteilen und die Kinder erst einmal spielen zu lassen. Zu beachten ist dabei lediglich, die Spielweise gegenüber der Vorlage zu wechseln. Wenn ich den laufenden Tisch vorgemacht habe, indem ich mit vorgestreckten Armen auf der Stelle gelaufen bin, wird ein einzelnes den Tisch mimendes Kind wohl versuchen, mir nachzuhampeln. Sobald zwei Kinder den Tisch zum Laufen bringen und tatsächlich im Raum laufen, wird ein neuer Tisch entstehen. Erfahrungsgemäß werden dann auch Abweichungen von der erzählten Vorlage gefunden, die oft sehr anregende Einfälle bringen. In derselben Weise können sich sechs Kinder zu einem echten Krokodil zusammenfügen oder eine ganze Kindergruppe einen Teller Spaghetti darstellen.
Solche Spielaktionen wirken sichtbar auf das alltägliche Spielen der Kinder zurück. Man kann dann oft beobachten, daß sie die gefundenen Spielfiguren noch tagelang in das Repertoire ihrer Rollenspiele einfügen ähnlich wie sie Medienvorbilder, oft zum Verdruß der Erziehenden, immer wieder ausagieren. In beiden Fällen bearbeiten sie darüber Erfahrungen und Eindrücke, eignen sie sich an und entwickeln dabei Muster, die ihre Wahrnehmungen prägen. Die Offenheit und Beweglichkeit ihrer Spiele besitzt deshalb wohl beträchtlichen Einfluß auf die Unvoreingenommenheit und Beweglichkeit ihrer späteren Wahrnehmung.
(Zuerst erschienen in: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik )