Johannes Merkel
Vom erzählenden Sprechen
Wenn wir Kinder zum Sprechen – und damit zur Sprache – bringen wollen, heißt das nicht zuletzt, daß wir sie zum Erzählen bringen. Was aber heißt erzählen gegenüber anderen Sprechweisen, dem Erklären etwa, dem Berichten, dem Beschreiben? Wir können uns den Sinn erzählenden Sprechens klarmachen, indem wir nachvollziehen, wie die Fähigkeit zu erzählen in der Kindheit erworben wird.
Wenn Kinder im zweiten Lebensjahr ihre ersten ”Einwortsätze” benutzen, lernen sie Sprechen als Instrument zu benutzen, und sie bemerken schon bald, daß sich damit mehr erreichen läßt als mit körperlichen Handlungen, über die sich sie sich bisher ausdrückten. Statt nach einer Tasse zu greifen, bewirken sie nun mit dem Wörtchen ”tinken”, daß ihnen die Tasse gebracht wird. Worte sind Zauberhände, die auch dann nach dem Gewünschten zu greifen erlauben, wenn es sich weit außerhalb der Reichweite der eigenen Hände befindet. Das Kind kann nun mit und über Sprache handelnd auf seine Umgebung einwirken. Es kann ”sprachhandeln”, und hat damit einen ”operativen Sprachgebrauch” gelernt.
Im dritten Lebensjahr erweitert sich seine Weise, Sprache zu benutzen: Es mag sich nun beispielsweise erinnern, daß am Vortag die Tasse umgestoßen wurde und die Milch über den Tisch lief. Es wird dann vielleicht seine leere Tasse umstoßen und sagen: ”Mich weg”. Der Erwachsene, der die verschüttete Tasse miterlebte, wird verstehen, daß sich die Äußerung auf den Vortag bezieht, und die kindliche Äußerung vervollständigt wiederholen: ”Ja, gestern hast du deine Tasse umgestoßen und die Milch ist über den Tisch gelaufen”. Bald wird das Kind dann in der Lage sein, dieses Ereignis mit seinen wachsenden sprachlichen Ausdrucksmitteln mehr oder weniger vollständig nachzustellen, so daß es auch Nichtbeteiligte verstehen können. Damit hat es im Ansatz gelernt, zu erzählen. Diesen Sprachgebrauch können wir als ”narrativ” bezeichnen.
Worin liegt der Unterschied zwischen beiden Äußerungen? Statt in einer gegebenen Situation mit Hilfe sprachlicher Äußerungen auf diese Situation einzuwirken, wird die Handlung von gestern, die heute nur noch in der Vorstellung des Sprechenden existiert, mit sprachlichen Mitteln nachgestellt. Ich möchte gleich hier darauf hinweisen, daß diese Beschreibung eigentlich keine Unterscheidung zwischen Ereignissen zuläßt, die ”wirklich” passiert sind, und solchen, die sich der Erzählende ausdachte: In beiden Fällen existiert das Ereignis nur in der Vorstellung, hat weder für den Erzählenden noch für die Hörer die Qualität einer sinnlich greifbaren Wirklichkeit. Die Grenze zwischen ”echt” und ”ausgedacht” macht von der mentalen Tätigkeit her gesehen, die das Erzählen begleitet, keinen Sinn. Vorschulkinder übernehmen diese Unterscheidung erst allmählich und für jüngere Kinder bleibt sie lange ziemlich unverständlich. Was in ihnen vorgeht, hat für sie noch die gleiche, und oft sogar eine größere Macht über ihre Wahrnehmung als die mit Sinnen greifbare Außenwelt. Deshalb ertappen wir Kinder dieses Alters immer wieder dabei, daß sie uns ihre Phantasien als Tatsachen verkaufen. Werfen wir ihnen dann vor, sie würden doch nur lügen, beschneiden wir damit ihre Vorstellungswelt und hindern sie am Erzählen.
Erzählen heißt nicht nur reden
Erzählen fällt Kindern sichtbar schwerer als das Sprechen in alltäglichen Handlungskontexten. Aus einem einfachen Grund: eben weil dieser Handlungskontext fehlt. Im operativen Sprechen beziehen sie sich zunächst auf Menschen und Dinge, die gegenwärtig wahrnehmbar sind. Erzählend müssen sowohl die Handlungen wie die Situationen, in denen sie erfolgen, nachgestellt und damit für die Hörer vorstellbar gemacht werden. Zumindest ein Erzählen, das auch für den unbeteiligten Zuhörer verständlich ist, verlangt eine bessere Sprachbeherrschung als die alltägliche Verständigung. Narratives Sprechen erscheint deshalb später als operatives Sprechen. Es setzt erst ein, sobald komplexere grammatische Bezüge beherrscht werden, insbesondere die Vergangenheitsformen, das heißt im dritten und vierten Lebensjahr.
Das gilt allerdings nur für das ausgeführte sprachliche Mitteilen. Schon ehe sie die ersten Sprachäußerungen zustande bringen, verstehen sich Kinder längst über Gesten verständlich zu machen: Auch wo die Tasse zu weit entfernt steht, wird ein Kind danach zu greifen versuchen, und dieses Greifen zu einem gestischen Zeichen verkürzen, das sich dann in anderen Situationen wieder einsetzen läßt. Auch später werden alle Sprachäußerungen von solchen Gesten durchsetzt und ergänzt werden und in den körperlichen Ausdruck eingebettet sein. Erst in der Schule werden Schüler dann aufgefordert werden, vollständige Sätze zu bilden und sich damit ausschließlich der sprachlichen Mitteilung zu bedienen, um darüber die Grundlagen für das Schreiben zu legen. Zwar wird die Aufmerksamkeit dadurch nun vor allem auf die sprachliche Botschaft gerichtet, aber im Gespräch werden weiterhin auch körperliche und gestische Ausdrucksmittel genutzt.
Auch das Erzählen setzt mit gestischen Mitteilungen ein, bevor es in ausgeführten sprachlichen Sätzen erfolgt. Es spielen sich dabei aber etwas andere Gesten in den Vordergrund. Schon die umgestoßene leere Tasse hat eine andere Qualität als das Greifen nach der fernen Tasse. Es ist eine Art Spielgeste, die das Ereignis der verschütteten Milch nachbildet. Man kann auch sagen, es handele sich um eine verkürzte Spielhandlung, die ähnlich wie das ausgeführte Spielen die damit gemeinte Handlung in der Vorstellung wachruft. Es ist kein Zufall, daß diese Art gestischer Darstellung auch bei verbesserter Sprachbeherrschung alle Erzählungen durchsetzt: Erzählend versuchen wir ja den Hörer aus dem Hier und Jetzt des Erzählens in das Dort und Damals der Erzählung zu entführen, und damit seine Aufmerksamkeit aus der gegebenen sinnlich wahrnehmbaren Situation in die Welt der erzählten Fiktion zu lenken. Die Spielgesten regen die Vorstellungsfähigkeit an und helfen, das Erzählte anschaulich nachzuvollziehen.
Wenn wir vor Kindern erzählen, sollten wir uns nicht auf den sprachlichen Ausdruck beschränken. Zunächst einmal, weil wir uns damit besser verständlich machen: Gestische und spielerische Darstellungen knüpfen an die alltägliche Kommunikation an, wo wir uns stets auf beiden Kanälen äußern, dem hörbaren der Sprache und dem sichtbaren der körperlichen Zeichen. Je unvollkommener die Sprachbeherrschung der Kinder noch ist, desto größere Aufmerksamkeit richten sie auf die nonverbalen Mitteilungen. Diese sinnlichen Zeichen helfen ihnen, die Geschichten rascher und nachhaltiger aufzunehmen. Die sprachliche Ebene wird ergänzt durch eine spielerische, die wie alles Spielen Bilder dieser Handlungen hervorruft. Andere Formen der sinnlichen Verkörperung regen die Vorstellung in ähnlicher Weise an: Das Erzählen mit Gegenständen, die man nach Bedarf aus einer Kiste holt, das Erzählen mit Puppen oder auch das improvisierende, die Geschichte begleitende Zeichnen (das dann aber auf einem senkrechten Plakat erfolgen sollte, damit es alle mitbekommen). Gestik hat den Vorteil, daß sie ohne große Vorbereitung immer und überall zur Verfügung steht.
Je anschaulicher die Geschichte vorgestellt und je besser sie deshalb verstanden wird, desto eher regt sie dazu an, darüber zu sprechen oder gar selbst eine Geschichte zu erzählen. Die immer noch verbreitete Befürchtung, die Kinder würden durch eine lebendige Darstellung abgelenkt und davon abgehalten, sich sprachlich auszudrücken, ist recht unbegründet. Für Vorschulkinder ist Sprache immer noch fast ausschließlich gesprochene Sprache und die Förderung sprachlicher Fähigkeiten wird sich an ihr entwickeln müssen.
Die Nähe, die lebendiges Erzählen zu den Formen alltäglicher Unterhaltungen hat, macht die Begeisterung, die erzählte Geschichten vor allem bei jüngeren Kindern auslösen, noch einmal von einer ganz anderen Seite verständlich. Es ist deshalb gar nicht empfehlenswert, mit erhobenem Tonfall und einem geheimnisvollen ”Es war einmal….” zu beginnen. Gerade, wo man im Stil alltäglichen Sprechens beginnt, treten die außergewöhnlichen Ereignisse der Geschichte umso schärfer hervor.
„Bildschirm der inneren Welt“
Was Kinder im Kindergartenalter selbst erzählen, empfinden wir häufig noch gar nicht als „echte“ Geschichten. Wir finden solche Erzählungen vielleicht belustigend und putzig, aber es fehlt ihnen doch sichtbar etwas, was zu einer Geschichte zu gehören scheint.
Die ”Textsorte Geschichte” folgt einem ziemlich festen Bauplan, der beim mündlichen Erzählen eingehalten werden muß, damit Menschen und ihre Handlungen beim flüchtigen Hören aufgenommen und wiedergegeben werden können. Auf das Nötigste verkürzt, erwarten wir folgende Informationen: Zum Einstieg wollen wir wissen, wem die Geschichte passierte, wo und zu welcher Zeit. Danach muß ein Ereignis in das Leben dieses Helden eingreifen, das die alltägliche Erwartung sprengt. Schließlich ist zu berichten, wie der Held mit dieser Herausforderung umging und zu welchem Ergebnis das führte, sei es, daß er damit zu Rande kam oder daran scheiterte. Damit ist der Schlußpunkt gesetzt, der allenfalls noch einige wertende Anmerkungen von Seiten des Erzählenden erlaubt, wie sie auch sonst in die Erzählung eingestreut werden dürfen.
Dieses „Geschichtenschema“ aber beherrschen jüngere Kinder noch nicht und es dauert ziemlich lange, bis sie es alle seine Anforderungen zu erfüllen verstehen. Vollständig beachtet wird es meist erst etwa um das zehnte bis zwölfte Lebensjahr.
Im Alltagsverständnis erzählen wir um wiederzugeben, was uns irgendwann einmal widerfahren ist. Dem steht jedoch die Feststellung gegenüber, daß Geschichten einem Strukturschema folgen müssen, um als Geschichten anerkannt zu werden. Aus unseren laufenden alltäglichen Handlungen und Wahrnehmungen lassen sich allenfalls Beschreibungen bauen, die die meisten Hörer mit Langeweile quittieren würden. Und nur selten erleben wir so außergewöhnliche Ereignisse, daß sie sich für eine gute Erzählung anbieten. Deshalb dramatisieren wir als Erzähler unsere Vorlagen, passen sie den Anforderungen an eine echte Geschichte an, und tun das um so ungenierter je besser wir damit ankommen.
Daß wir ”wirkliche“ Erfahrungen verbiegen müssen, um zu erzählbaren Geschichten zu kommen, mag eine etwas unangenehme Feststellung sein, die unserem Selbstverständnis widerspricht, zumindest wenn wir Erlebnisse erzählen, die wiederzugeben scheinen, was wirklich passiert ist. Gerade weil sie die Anforderungen an Geschichten noch unvollständig erfüllen, werfen die Erzählungen sehr junger Kinder ein bezeichnendes Licht auf das, was Geschichten ausmacht. Sie erzählen entweder reine Alltagssequenzen oder setzen Phantasien unverbunden nebeneinander. Meist mixen sie sogar beide Elemente ohne einen erkennbaren Zusammenhang wie die folgende Erzählung eines dreijährigen Jungen: .
„Papa arbeitet auf der Bank. Und Mama macht das Frühstück. Dann stehen wir auf und werden angezogen. Und das Baby ißt Frühstück und Honig. Wir gehen in die Schule und werden dafür angezogen. Ich ziehe den Mantel an und gehe ins Auto. Und der Löwe im Käfig. Der Bär lief so schnell, und er rennt, um den Bären zurückzubringen in den Käfig.“ (Pitcher/ Prelinger, zit. nach Johannes Merkel: Spielen, Erzählen, Phantasieren – Sprache der inneren Welt, München 2000, s.84)
Offenbar versprachlichen solche Äußerungen, was den Kindern gerade durch den Kopf schießt. Ich könnte auch sagen: Sie veräußerlichen, was auf dem Bildschirm ihrer inneren Wahrnehmung erscheint. Allmählich lernen sie, diese beiden Elemente, die Alltagswahrnehmung und die Phantasievorstellung, aufeinander zu beziehen, sie irgendwie auseinander hervorgehen zu lassen. Schließlich werden die die Alltagswahrnehmung sprengenden Phantasien in diese Alltagswelt integriert, ihr Auftauchen wird motiviert, das Außergewöhnliche und Phantastische greift in die gewöhnliche Lebenswelt ein und wird mit ihr verbunden. Die beste Geschichte ist die, in der das Unwahrscheinlichste passiert und doch so selbstverständlich erscheint, als könnte es gar nicht anders sein.
Geschichten, kann ich nun sagen, versetzen die alltägliche soziale Lebenswelt mit den oft durchaus unsozialen Phantasien, Wünschen und Ängsten, die wir in unserer Vorstellungswelt ausbilden. Indem wir sie aufeinander beziehen und eng miteinander verbinden, versöhnen sie diese beiden Seiten unserer persönlichen Welt, die oft genug in einem unversöhnlichen Gegensatz stehen. Diese Verbindung wird als lustvoll und befriedigend empfunden, selbst dann noch, wenn der Held am phantastischen Ereignis scheitert. Es ist diese Versöhnung von Innen und Außen, die das Hören von Geschichten so faszinierend macht, für uns Erwachsene nicht anders als für unsere Kinder.
Im eigentlichen ”Erzählalter” (das man so etwa vom vierten bis achten oder zehnten Lebensjahr ansetzen könnte) erfahren Kinder die Welt vor allem über vorgestellte symbolische Handlungen und spielen sie symbolisch in ihren Rollenspielen nach. Als Babys konnten sie ihre Umwelt nur handelnd erschließen, als Jugendliche werden sie sie auch über das Nachdenken begreifen. Kinder im Vorschulalter bis weit ins Schulalter verarbeiten ihre Wahrnehmungen und ihre Umwelt über erzählende Spiele und spielerische Erzählungen.
Es geht dabei aber nicht allein um das Nachstellen der wahrgenommenen Welt. Zwar hat das Kind gelernt sich die Welt in seinem Kopf nachzubilden, aber es baut die Welt eben auch nach seinem Kopf um. Nehmen wir zum Beispiel die Träume, die nach dem Verständnis der meisten Traumdeutungen mit den Elementen des äußeren Erlebens (”Tagesresten”) die tieferen inneren Strebungen zum Ausdruck bringen. Es sind zunächst sehr individuelle Erfahrungen, die kein Anderer nachvollziehen kann. Ich kann sie wohl erzählen, habe aber das Gefühl, daß sie sich dabei verändern und nicht mehr der Traumerfahrung entsprechen. Warum? Weil ich sie erzählend veräußerlichen und in die Formen pressen muß, die ihre Kommunizierbarkeit sichern, weil sie anders für den Zuhörer nicht nachvollziehbar sind. (Übrigens fällt es Vorschulkindern noch schwer, zwischen Träumen und Geschichten zu unterscheiden. Viele Geschichten, die sie spontan erzählen, gehen auf Traumerfahrungen zurück.)
Jede Art von Erzählungen übt auf Kinder im Vorschul- und Grundschulalter eine eigenartige Faszination aus: Sie bekommen Stoff für die Ausgestaltung und Bereicherung ihrer inneren Vorstellungswelt geliefert, und wo sie selbst erzählen, können sie diese Innenwelt nach außen kehren und mitteilen. Das trifft natürlich gleichermaßen auf Erwachsene zu. Aber während Erwachsene gelernt haben innere Zustände auch sachlich beschreibend wiederzugeben, können Kinder innere Wahrnehmungen kaum anders als erzählend mitteilen. Diese Redeweise ermöglicht, Vorstellungen und Phantasien zusammen mit den Erfahrungen und Gefühlen, die sie hervorgebracht haben, zum Ausdruck zu bringen und mitzuteilen.
Aus Geschichten lernen
Über die Sprachförderung hinaus bieten Geschichten aber auch eine Menge an Information und Weltverständnis. Ich will nur einige Punkte andeuten:
Geschichten erzählen meist von Lebensbereichen, die weit außerhalb der Erfahrbarkeit liegen und damit über die Welt außerhalb des persönlichen Umfelds berichten. Man kann deshalb vom Erzählen, ähnlich wie das für die Medien geltend gemacht wurde, als einer körperlichen ”Extension” sprechen: Sie erlauben Zusammenhänge zu ”begreifen”, die weit außerhalb der Reichweite der eigenen Hände liegen.
Da Geschichten immer von menschlichen Handlungen berichten, und zwar auch da, wo Gegenstände, Tiere und dergleichen ihre Helden stellen, werden den Kindern so etwas Handlungsmodelle vor Augen geführt. Gerade weil sie die kindliche Handlungsfähigkeit fast immer übersteigen, erweitern sie das Repertoire denkbarer Handlungen und lehren über symbolische Handlungen die Zusammenhänge der Welt besser zu verstehen, in der wir leben..
Aus Geschichten ziehen sich Kinder aber auch viele kleine „Informationen“ heraus, und auch dabei wird ständig ”gelernt”. Es handelt sich um eine Weise des Lernens, die man als ”natürliches Lernen” im Gegensatz zum curricularen Lernen pädagogischer Einrichtungen bezeichnen kann: Einzelne Wissenspartikel werden gespeichert, lagern sich an bereits Bekanntes an und erweitern den Wissensvorrat. Eine Unterscheidung von Fact und Fiction, von Information und Unterhaltung, macht im Kindergartenalter wenig Sinn. Sie wird erst mit dem Schulbesuch entwickel, und bleibt ja auch im ganzen Bereich der Erwachsensenmedien eine recht künstliche und fragliche Unterscheidung.
Die Unmittelbarkeit des Erzählers
Diese ”Lerneffekte” gelten nun sicher für Geschichten in jeder medialen Form, seien es mündliche Erzählungen, Bilderbücher, Fernsehsendungen, Hörkassetten oder dergleichen. Aber viele Erzählungen in den Medien werden von Kindergartenkindern nur bruchstückhaft verstanden. Zwar lassen sich dabei dennoch einzelne Eindrücke und Wissenssplitter herausfischen. Aber die in einer Erzählung präsentierten Zusammenhänge und die formalen Regeln des Erzählens können nur dann realisiert werden, wenn die vorgeführten Geschichten vollständig aufgenommen werden.
Nehmen wir beispielsweise Fernsehsendungen. Obwohl fast alle Vorschulkinder täglich fernsehen, können nur wenige Kinder die gesehenen Sendungen einigermaßen wiedergeben. Schon wenige Tage später ist kaum ein Kind mehr in der Lage, die Inhalte einer einzelnen Sendung zu erinnern. Das Gesehene scheint, von Ausnahmen abgesehen, durch die nachfolgenden Sendungen schon fast vollständig gelöscht zu sein. Man kann das zum Teil darauf zurückführen, daß die Machart der Sendungen kindlichen Sehweisen zu wenig entspricht oder auch darauf, daß die Geschichten, die das Fernsehen erzählt, nicht sorgfältig genug gebaut sind oder daß Bild und Erzählung sich nicht ergänzen, sondern häufig auseinander laufen. Die letzten beiden Feststellungen gelten auch für viele Bilderbücher. Aber Bilderbücher kann man immer wieder zur Hand nehmen und meist wird mit den Erwachsenen über die abgebildete Geschichte geredet. Das Fernsehprogramm läuft weiter, und was im flüchtigen Augenblick nicht aufgenommen wurde, ist verloren. Bis zu einem gewissen Ausmaß läßt sich der flüchtigen Aufnahme entgegenwirken, indem die Sendungen wiederholt gesehen werden. Es kann deshalb sinnvoll sein, Vorschulkindern eine kleine Videothek von Sendungen zur Verfügung zu stellen, aus der sie ihre Sendungen auswählen dürfen, ähnlich wie man ihnen ein Bilderbuch so lange immer wieder vorlesen wird, bis sie es selbst nicht mehr wollen. Das ist dann im allgemeinen der Zeitpunkt, an dem sie die Geschichte vollständig in sich aufgenommen haben.
Daß Vorschulkinder die in den Medien erzählten Geschichten oft nur ansatzweise verstehen, hat wohl vor allem damit zu tun, daß die medialen Formsprachen, von der Schrift bis zu den audiovisuellen Medien, eine beträchtliche Stilisierung gegenüber der mündlichen Kommunikation darstellen, die die Kinder eben zu gebrauchen gelernt haben. Es ist kein Zufall, daß Hörkassetten, die der mündlichen Kommunikation am nächsten stehen, auch am genauesten gespeichert und verstanden werden. Beim Vorlesen wird das Verstehen dadurch erleichtert, daß die Stimme einer vertrauten Person zu hören ist, die die Zuhörer wahrnimmt und auf sie reagieren kann.
Diese ”Rückkoppelung”, die selbst das „interaktive“ Computerspiel nur an wenigen, im Programm vorgesehenen Stellen realisieren kann, gehört aber selbstverständlich zum mündlichen Erzählen: Hier reagieren Erzähler und Zuhörer aufeinander, stehen in ständigem Austausch. Einerseits hat der Erzähler die Zuhörer im Blick und organisiert seinen Text wie seine Handlungsführung nach ihren Reaktionen, andererseits reagieren die Zuhörer stets über körperliche Zeichen und sprachliche Einwürfe. Unter der Oberfläche des einseitigen Vortrags setzt mündliches Erzählen das wechselseitige Gespräch fort. Und die sprachlichen Fähigkeiten entwickeln sich in diesem Alter fast ausschließlich im kommunikativen Gespräch. Diese Nähe zu den ihnen geläufigen Kommunikationsweisen zeigt sich in der Weise, wie sie Geschichten behalten. Selbst nach Monaten und Jahren können viele Kinder Geschichten wiedergeben, die nur ein einziges Mal gehört haben.
„Was du kannst, das kann ich auch“
Es ist die Nähe zu den ihnen schon geläufigen Kommunikationsweisen, die nach dem Hören von Geschichten Kindergartenkinder dazu anregt, selbst zu erzählen. Der Ansporn dazu hat zwei Seiten: Einmal ist es das Kommunikationsspiel, die Erfahrung, im Mittelpunkt zu stehen und mit seinen Erzählungen die Zuhörer zu fesseln. Erstaunlicherweise klappt das auch dann noch, wenn die Geschichte selbst, zumindest für Erwachsene, kaum nachvollziehbar scheint, ja Sätze oft nicht einmal verständlich artikuliert werden. Dennoch können die übrigen Kinder fasziniert zuhören. Wichtiger aber ist der zweite Punkt: Das erzählende Kind bekommt die Gelegenheit, seine Phantasien und inneren Bilder zu ”veröffentlichen”. Dazu aber braucht ein Kind im Vorschulalter aber eine ausreichende Anregung und Stütze.
Wir neigen dazu, Kinder an und für sich für phantasiebegabt zu halten. Das kindliche Vorstellungsvermögen aber braucht Stoff und Anregung, an denen es sich entwickeln kann. Überfällt man Kinder mit der Aufforderung: ”Erzähl doch mal eine Geschichte!” werden das die meisten Kinder ablehnen. Hat man zuvor selbst erzählt, ist es im allgemeinen sehr einfach, einige Zuhörer zum Erzählen zu bringen. Häufig läßt sich dann beobachten, daß sie die Strukturen der gehörten Geschichte benutzen und sie mit den eigenen Phantasien neu einkleiden.
Hilfreich dafür ist es, wenn man das Erzählen etwas in Szene setzt: Zum Beispiel, indem man einen Erzählerstuhl einführt, der die wunderbare Eigenschaft besitzt, seinem „Besitzer“ eine Geschichte einzuflüstern. Natürlich muß das vorgeführt werden, und man plaziert sich deshalb am Beginn der eigenen Erzählung auf dem Stuhl und wartet, bis die Geschichte in den Kopf steigt. Den gleichen Effekt macht ein „Erzählerhut“ oder sonst irgendein attraktives Abzeichen.
Erzählen als Grundlage der „Medienkompetenz“
Medienerziehung wird zwar für den Kindergarten empfohlen, jedoch gibt es, trotz einer ausufernden Literatur zur Medienpädagogik, wenige Vorschläge, die unter den gegebenen Bedingungen im Kindergarten durchführbar sind. Wo es möglich und sinnvoll ist, Medienerlebnisse im Spiel aufzugreifen oder sonst über eine anschauliche Tätigkeit zu verarbeiten, ist das sehr zu empfehlen, das können aber angesichts der Flut von (meist rasch wieder vergessenen) Medieneindrücken immer nur einige wenige Aktivitäten sein.
Allein über die Medieneindrücke zu reden, macht bei Vorschulkindern allerdings wenig Sinn. Gerade Vorschulkinder neigen dazu, die Medieneindrücke in ihre Spiele einzubauen und sie sich darüber besser einzuverleiben. Die unter Erziehenden übliche Klage, die Kinder würden nur Fernsehen spielen, ist in dieser Hinsicht recht unbegründet: Es macht mehr Sinn, auf solche Spiele einzugehen und noch besser mitzuspielen, weil man darüber auf die Spielinhalte Einfluß nehmen kann. Wo über Medienerfahrungen nur gesprochen werden soll, ist es ratsam, mit einiger Vorsicht vorzugehen, da dabei stets die Gefahr besteht, daß die lustvoll erlebten medialen Wahrnehmungen (so kritikwürdig sie vielleicht auch sein mögen) durch das kritische Beäugen vermiest werden, so daß sich die Kinder das nächste Mal zurückhalten.
”Medienkompetenz” heißt zunächst einmal die Medienprodukte als Mitteilungen zu verstehen, mit denen die Medienproduzenten eine Wirkung auf die Nutzer auszuüben suchen. Es ist, abgesehen von den ganz anderen Herstellungsbedingungen genau das, was wir auch mit jeder sprachlichen Äußerung bezwecken. Vorschulkinder suchen in den Medien ”Unterhaltung” und finden sie in Erzählungen. Sie können aber die komplexen medialen Mitteilungsformen zu wenig durchschauen, während sie die mit den alltäglichen kommunikativen Äußerungen verfolgten Absichten durchaus verstehen. Jede Medienerziehung im Kindergarten hat deshalb an dem Medium anzusetzen, das für die Kinder durchschaubar bleibt: dem mündlichen Erzählen, das über Gestik und Spielelemente sprachliche Darstellung und bildliche Vorstellung verbindet. Hier ist der Schritt vom Mediennutzer zum Medienmacher auch nur ein Schrittchen.
Eine aktive Medienarbeit, so weit sie in diesem Alter und im Kindergarten durchführbar ist, kann sich hier nahtlos anschließen: Die selbst ausgedachten Geschichten, die auf diese Weise zustande kommen, stellen brauchbare Vorlagen für eine aktive Medienarbeit dar. Das beginnt damit Szenen der Geschichte malen zu lassen, die dann als Diaserie aufgenommen und zu einem vorführbaren Bilderbuchkino verarbeitet werden. Geschichten können in verschiedenen Formen nachgespielt werden (als Rollenspiel, als Figurenstück mit Alltagsgegenständen oder mit Puppen etc). Die auf Kassette oder Video aufgenommenen Spielaktionen lassen sich wiederum zu kleinen Hörspielen oder Videofilmen verarbeiten.
Wer aber beim Erzählen gelernt hat, daß Geschichten gemacht werden, wer deshalb eigene Geschichten hat, läßt sich nicht mehr so leicht jede Geschichte andrehen. Und er hat Chancen zu begreifen, daß auch die medialen Produktionen nur Erzählungen sind, die man auch anders erzählen und denen man die eigenen Geschichten gegenüberstellen kann. Was man ”Medienkompetenz” nennt, beginnt beim Erzählen im Kindergarten.
(Vortrag gehalten gehalten an der Bundesfachtagung des Pestalozzi-Fröbel-Verbandes in Köln)