Über die innere Einheit des Erzählens in Literatur, Theater und Medien

Johan­nes Merkel

Ich will von einer erstaun­li­chen mensch­li­chen Fähig­keit reden, der Fähig­keit, die Gewiss­heit sinn­li­cher Wahr­neh­mung auf­zu­ge­ben und gegen eine ungreif­ba­re und doch alle unse­re Sin­ne anspre­chen­de vor­ge­stell­te Welt ein­zu­tau­schen, ich will über das Erzäh­len reden. Zunächst das Erzäh­len von Mund zu Mund, und dann inwie­fern es Vor­bild und Vor­la­ge des Erzäh­lens in der Lite­ra­tur, auf der Büh­ne und im Kino oder Fern­se­hen wur­de, ich will also über das Erzäh­len als über­grei­fen­de Kate­go­rie spre­chen, die allen lite­ra­ri­schen, thea­tra­len und media­len Form­spra­chen zugrun­de liegt.

1. VOM MÜNDLICHEN UND ALLTÄGLICHEN ERZÄHLEN

Wo vom Erzäh­len die Rede ist, zeigt sich, wie ein­ge­fleischt uns seit unse­rer Schul­zeit das Schrei­ben ist. Nach­se­hend in Wil­perts gebräuch­li­chem „Sach­wör­ter­buch der Lite­ra­tur“ lese ich unter dem Stich­wort „Erzäh­ler“: „1. allg. Ver­fas­ser erzäh­len­der Wer­ke in Pro­sa. 2. fik­ti­ve Gestalt, nicht iden­tisch mit dem Autor, die ein epi­sches Werk erzählt [Gero von Wil­pert: Sach­wör­ter­buch der deut­schen Lite­ra­tur, 7.Aufl. Stutt­gart 1989, s.264 ]

Der münd­li­che Erzäh­ler ist nicht vor­ge­se­hen. Dass Geschich­ten von Mund zu Ohr und von Ohr zu Mund gehen ohne den Umweg des schrift­li­chen Tex­tes, müs­sen wir uns erst durch den sper­ri­gen Zusatz einer „münd­li­chen Erzäh­lung“ ver­ge­gen­wär­ti­gen, wie sie bei Wil­pert unter dem Stich­wort Erzäh­lung auf­taucht als „allg. münd­li­che oder schrift­li­che Dar­stel­lung des Ver­laufs von wirk­li­chen oder erdach­ten Gescheh­nis­sen“ [ Gero von Wil­pert, a.a.O. s.266] .

Und doch ist es mit Hän­den zu grei­fen, dass alles schrift­li­che Erzäh­len aus­geht vom münd­li­chen Erzäh­len, von den vie­len umlau­fen­den All­ta­ger­zäh­lun­gen einer­seits, den sti­li­sier­ten und öffent­lich vor­ge­tra­ge­nen Erzäh­lun­gen ande­rer­seits, also dem, was man im deut­schen Sprach­be­reich etwas nebel­haft als „Mär­chen“ bezeichnet.

Ange­sichts der Selbst­ver­ständ­lich­keit, mit der wir die „Kom­mu­ni­ka­ti­ons­form“ Erzäh­len, jeden­falls in ihrer all­täg­li­chen Aus­prä­gung, hand­ha­ben, machen wir uns kaum klar, in welch kom­pli­zier­tem und bezie­hungs­rei­chem Geflecht wir uns damit bewe­gen: Jeder leib­haf­ti­ge Erzäh­ler tän­zelt in einem merk­wür­di­gen Spa­gat gleich­zei­tig durch zwei Säle: Dem vor­ge­stell­ten Raum der an einem andern Ort und zu einer ande­ren Zeit ablau­fen­den Erzähl­hand­lun­gen und dem gegen­wär­ti­gen sinn­lich wahr­nehm­ba­ren und greif­ba­ren Raum, in dem er vor sicht­ba­ren und reagie­ren­den Zuhö­rern erzählt. In jedem Augen­blick des Erzäh­lens spie­len bei­de Berei­che inein­an­der, beein­flus­sen sich gegen­sei­tig, erge­ben erst in ihrem Wech­sel­spiel die gan­ze Erzählung.

Ich will mich zunächst an die Erzäh­lung selbst hal­ten, an die dem Hörer vor­ge­stell­ten Hand­lun­gen, und nach­fra­gen, wie sie der Erzäh­ler im Akt des Erzäh­lens orga­ni­siert. In den Theo­rien psy­cho­lin­gu­is­ti­scher Text­ver­ar­bei­tung wird ein Sche­ma pos­tu­liert, das wir benut­zen, um über­haupt einen Rede­bei­trag der „Text­sor­te“ Geschich­te zuzu­ord­nen, das zwei­tens die Erwar­tun­gen des Hörers an den Fort­gang der Erzäh­lung steu­ert und das uns drit­tens ermög­licht, eine gehör­te Geschich­te zu spei­chern und auf der Stel­le wei­ter­zu­er­zäh­len. Das letz­te ist vom Stand­punkt des Schrei­bens her gese­hen eigent­lich eine erstaun­li­che Fähig­keit, denn auch nur zwei Sei­ten geschrie­be­nen Tex­tes aus­wen­dig ler­nen müs­sen, bedeu­tet har­te Arbeit. Eine All­tags­er­zäh­lung ent­spre­chen­der Län­ge kön­nen wir jedoch auf der Stel­le, aber auch noch nach vier­zehn Tagen oder selbst noch nach zwei Jah­ren wiedergeben.

Wor­aus besteht die­ses Sche­ma? Wenn ich das Grund­sche­ma ver­ein­fa­chend wie­der­ge­be, kann ich sagen: Eine Geschich­te benö­tigt, um als Geschich­te zu gel­ten 1. einen Hel­den, 2. Ort und Zeit der Hand­lung, 3. ein Ereig­nis, das in das Leben des Hel­den ein­greift, 4. muss sich der Held mit die­sen Ereig­nis aus­ein­an­der­set­zen und es 5. zu einem Ergeb­nis und die Geschich­te damit zu einem Abschluss brin­gen. Sei­ne Geschich­te glück­lich been­den aller­dings muss nur der Mär­chen­held, das Erzähl­sche­ma begnügt sich auch mit sei­nem Scheitern.

Das ist also der Grund­bau­stein und im all­ge­mei­nen beschei­den sich unse­re All­tags­ge­schich­ten mit die­ser ein­fa­chen Struk­tur. Unser Erzäh­len lebt ja fast nur noch in der Sphä­re des Pri­va­ten, im Gegen­satz zum öffent­li­chen Bereich, wo uns Lite­ra­tur und Medi­en die­ses zugäng­lichs­te Medi­um der Unter­hal­tung fast voll­stän­dig aus der Hand genom­men haben. Ein ande­res Bild zei­gen die his­to­risch über­kom­me­nen Tra­di­tio­nen öffent­li­chen Erzäh­lens. In Euro­pa den­ken wir dabei an das Mär­chen­er­zäh­len. Aber eigent­lich stellt es nur noch den aus­lau­fen­den Wel­len­schlag jenes „Oze­ans der Erzähl­strö­me“ (wie der Titel der Samm­lung von Erzäh­lun­gen lau­tet, die Soma­de­va als „Kathas­arit­sa­ga­ra“ im 12 Jh. in Indi­en auf­zeich­ne­te) dar, bis auch er in unse­rer jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit end­gül­tig ver­ebb­te. Und in all die­sen Tra­di­tio­nen, ins­be­son­de­re dort, wo die Erzäh­lun­gen in Samm­lun­gen schrift­lich fest­ge­hal­ten wur­den und wir ihren Reich­tum dadurch bes­ser ein­schät­zen kön­nen, etwa in Chi­na, Indi­en, im ara­bi­schen Raum aber auch andern­orts, sehen wir, dass die­ser ein­fa­che Grund­bau­stein zu kom­ple­xen Erzähl­for­men wei­ter­ent­wi­ckelt wird, indem z.B. Epi­so­den ver­ket­tet wer­den oder inein­an­der geschach­telt. Ein­fa­che Bei­spie­le dafür ken­nen Sie alle aus unse­ren Mär­chen, wo oft drei Hel­den los­zie­hen, zwei an der gestell­ten Auf­ga­be schei­tern und nur der Drit­te schließ­lich tri­um­phiert. Oder wo ein Held nach der Lösung einer Auf­ga­be die nächs­te gestellt bekommt und ihn erst die drit­te end­gül­tig erlöst. Bau­stein­ar­tig kön­nen so aus ein­fa­chen Grund­ele­men­ten näch­te­lan­ge Erzäh­lun­gen mon­tiert wer­den und auch die kunst­voll inein­an­der­ver­wo­be­nen Geschich­ten etwa aus „1001 Nacht“ ent­rät­seln sich noch als Kom­bi­na­tio­nen und Ver­ket­tun­gen des ein­fa­chen Grund­sche­mas. Sol­che kom­ple­xen Erzähl­for­men haben die Mensch­heit über die Jahr­tau­sen­de in sehr pro­fes­sio­na­li­sier­ter Wei­se – wenn man an die klas­si­schen Erzähl­tra­di­tio­nen des Ostens denkt – unter­hal­ten, und schenk­ten den Zuhö­rern die Abwechs­lung und Ent­span­nung, die heu­te vor dem Fern­se­her gesucht wird.

Aber die­ses „Ope­ra­ti­ons­sche­ma“ ist ja nichts wei­ter als das Leit­seil, an dem sich der Erzäh­ler ent­lang han­geln kann, oder es sind mit einem andern Bild nichts wei­ter als stich­wort­ar­ti­ge Noti­zen, die ihm hel­fen, den mehr oder weni­ger ver­schlun­ge­nen Pfad sei­ner Erzäh­lung zu fin­den. Den Wort­laut muss er im Akt des Erzäh­lens for­mu­lie­ren, und dazu braucht er das Publi­kum, das sei­nen Wor­ten lauscht, das ihn mit stil­len Signa­len oder lau­ten Äuße­run­gen bestä­tigt oder ent­mu­tigt, das ihn anregt oder bremst. Erst im Wech­sel­spiel mit die­sen Reak­tio­nen, in der „Rück­kop­pe­lung“ oder im „Feed­back“ mit dem Publi­kum fin­det er sei­nen Aus­druck, rea­li­siert sich sei­ne Erzäh­lung. In der lin­gu­is­ti­schen For­mu­lie­rung heißt das dann: Der Erzäh­ler „gene­riert“ den Text sei­ner Erzäh­lung ent­spre­chend den Reak­tio­nen der Hörer. Das kann man in lin­gu­is­ti­schen Unter­su­chun­gen recht schön bele­gen. [Sie­he dazu: Uta M. Quast­hoff: Zuhö­rer­ak­ti­vi­tä­ten beim kon­ver­sa­tio­nel­len Erzäh­len, in: Schrö­der, Paul/ Ste­ger, Hugo (Hg.): Dia­log­for­schung, Düs­sel­dorf 1981]. Ein­fa­cher gesagt: Die Zuhö­rer erzäh­len mit. Das ist eben der Grund dafür, dass die Text­ge­stalt jeder ein­zel­nen Erzäh­lung im Gegen­satz zur geschrie­be­nen Lite­ra­tur von der letz­ten abweicht und die­se Tat­sa­che führ­te letz­ten Endes zu dem enor­men Vari­an­ten­reich­tum, den wir aus allen münd­li­chen Erzähl­tra­di­tio­nen kennen.

2. ERZÄHLEN IN DER LITERATUR: DIE NOVELLE

Auch wenn der Satz auf den ers­ten Blick tri­vi­al erschei­nen mag, lohnt es sich doch fest­zu­stel­len: alles schrift­li­te­ra­ri­sche Erzäh­len hat sei­nen Ursprung in der Ver­schrift­li­chung münd­li­chen Erzäh­lens, und in den lite­ra­ri­schen For­men selbst fin­den sich die Spu­ren münd­li­chen und all­täg­li­chen Erzählens.

Betrach­ten wir zunächst die klas­si­sche lite­ra­ri­sche Erzäh­lung, wie sie sich im spä­ten Mit­tel­al­ter und der begin­nen­den Neu­zeit her­aus­kris­tal­li­siert: die Novel­le. Wie­der­um lese ich dazu bei Wil­pert: „[…] Pro­sa­er­zäh­lung e. neu­en, uner­hör­ten […] Ein­zel­be­ge­ben­heit mit e. ein­zi­gen Kon­flikt in gedräng­te, grad­li­nig auf ein Ziel hin­füh­ren­der und in sich geschlos­se­ner Form […]“ [ Gero von Wil­pert, a.a.O. s.266] Eine Defi­ni­ti­on, die ich direkt auf das eben erwähn­te Erzähl­sche­ma bezie­hen kann und die nur noch ergänzt wird durch den Zusatz, dass die Novel­le nicht von mär­chen­haf­ten, son­dern von tat­säch­li­chen Bege­ben­hei­ten han­delt. Die­se letz­te Fest­stel­lung möch­te ich aller­dings ver­nach­läs­si­gen, hat sie doch vor allem zu tun mit der Welt­sicht am Beginn der euro­päi­schen Neu­zeit. Die Fak­ti­zi­tät lite­ra­ri­scher Erzäh­lung ist ja eine sehr frag­li­che Kate­go­rie, allen­falls kann ich sagen, dass sich das Erzähl­te auf tat­säch­li­che Ereig­nis­se bezieht, aber in ande­rer Wei­se lässt sich das natür­lich auch von jeder fan­tas­ti­schen Erzäh­lung behaup­ten, inso­fern kann man das ohne wei­te­res bei Sei­te las­sen und dann trifft die Cha­rak­te­ri­sie­rung der euro­päi­schen Novel­le bei­spiels­wei­se eben­so gut auf die von Toten oder Fuchs­geis­tern beleb­ten chi­ne­si­schen Novel­len oder auf die Aben­teu­er Sind­bads des See­fah­rers zu.

Die Gemein­sam­keit dürf­te in ihrer Nähe zur münd­li­chen Erzäh­lung zu lie­gen: In Chi­na wur­den die­se Novel­len schon über Jahr­hun­der­te erzählt, ehe sie auf­ge­schrie­ben wur­den, 1001 Nacht stellt ein Kom­pen­di­um der unter­hal­ten­den Lite­ra­tur des ori­en­ta­li­schen Mit­tel­al­ters dar und ent­hält neben „Mär­chen“ auch vie­le Erzäh­lun­gen aus dem All­tag jener Gesell­schaf­ten, beson­ders in der soge­nann­ten ägyp­ti­schen Schicht der Samm­lung, und sicher gehen die euro­päi­schen Novel­len des 14. bis 16. Jh.s in ihrer Mehr­zahl auf umlau­fen­de Erzäh­lun­gen zurück. Stets wird in die­sen Geschich­ten davon berich­tet, wie ein Held oder eine Rei­he von Hel­den sich ange­sichts außer­ge­wöhn­li­cher Ereig­nis­se bewähr­te oder eben schei­ter­te, wie­der­um eine Selbst­ver­ständ­lich­keit, die aber weni­ger tri­vi­al erscheint, wenn man sich klar­macht, dass der moder­ne Roman auf die Kon­fron­ta­ti­on des Hel­den mit dem außer­or­dent­li­chen Ereig­nis nicht mehr ange­wie­sen ist

Um den Anfor­de­run­gen des neu­en Kom­mu­ni­ka­ti­ons­me­di­ums Buch zu ent­spre­chen, muss­ten vie­le kur­ze Erzäh­lun­gen zu einem län­ge­ren Lese­text ver­bun­den wer­den, und auch dafür lite­r­a­ri­sier­te man all­täg­li­che Erzählformen.

Es cha­rak­te­ri­siert die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­form Erzäh­len, dass der Spre­cher für die Dau­er sei­ner Erzäh­lung das aus­schließ­li­che Rede­recht zuge­stan­den bekommt, jedoch nach deren Ende jeder Zuhö­rer die Spre­cher­rol­le über­neh­men, und damit sei­ner­seits eine Erzäh­lung zum bes­ten geben kann. Und bekannt­lich regt das Hören einer Geschich­te dazu an, selbst von einer ähn­li­chen Bege­ben­heit zu berich­ten, die wie­der bei einem andern eine erleb­te oder gehör­te Geschich­te wach­ruft: Es ent­steht eine Erzähl­run­de. Als Rah­men­hand­lung lie­fer­te sie die Vor­la­ge, nach der die Novel­len­schrei­ber der begin­nen­den Neu­zeit ihre Erzäh­lun­gen in Samm­lun­gen ver­ei­nig­ten. Ähn­li­che Ver­fah­ren fin­den wir in der berühm­ten Geschich­te von Sche­he­re­za­de in 1001 Nacht, den umfang­rei­chen chi­ne­si­schen Novel­len­samm­lun­gen des 14. – 17. Jhds. oder der schon erwähn­ten indi­schen Samm­lung des Soma­de­va aus dem 12.Jh.

Aber auch die­se sicht­bar noch an das leib­haf­ti­ge Erzäh­len ange­lehn­ten Schreib­tech­ni­ken konn­ten den mit der Ver­schrift­li­chung ver­bun­de­nen Ver­lust des leben­di­gen Publi­kums nicht aus­glei­chen. Wäh­rend münd­li­ches Erzäh­len das Gleich­ge­wicht zwi­schen der Erzäh­lung und dem gegen­wär­ti­gen Publi­kum sucht, ver­la­gert sich mit dem schrift­li­chen Erzäh­len der Schwer­punkt auf die Aus­ge­stal­tung der Erzäh­lung. Der Leser wird zwar noch ima­gi­niert, in den frü­hen dem münd­li­chen Erzäh­len noch nahe­ste­hen­den For­men wird er sogar ange­re­det, aber er bleibt ein stum­mer Part­ner, der sich dem Text des Schrei­bers wehr­los aus­ge­lie­fert sieht, es sei denn er nimmt die letz­te ihm ver­blie­be­ne Frei­heit in Anspruch und klappt das Buch ein­fach zu. (Und das neue Medi­um des gedruck­ten Buches teilt die­se Eigen­schaft mit allen nach­kom­men­den tech­ni­schen Mas­sen­me­di­en, deren Benut­zern, von einer Aus­nah­me abge­se­hen, von der noch kurz die Rede sein soll, auch nur die Ent­schei­dung bleibt, bedin­gungs­los mit­zu­spie­len oder den Knopf drü­cken.) Der schrei­ben­de Erzäh­ler gewinnt nun zwar an Raum für sei­ne Erzäh­lung, kann sie detail­lier­ter schil­dern und ver­floch­te­ner anle­gen, kann unge­stört von der Unge­duld leib­haf­ti­ger Hörer die Span­nung stei­gern, die Lösun­gen ver­zö­gern, sei­ne sprach­li­che For­mu­lie­rungs­kunst, sei­nen „Stil“ ent­wi­ckeln. Aber ande­rer­seits fehlt ihm die Rück­mel­dung, ob er ver­stan­den oder miss­ver­stan­den wur­de, ob sei­ne Rede bei­fäl­lig auf­ge­nom­men wird oder auf Ableh­nung stößt, eine Erfolgs­kon­trol­le, die sich dann allen­falls noch über die ver­kauf­te Auf­la­ge (oder über Ein­schalt­quo­ten) ermit­teln lässt. Der Ver­lust der leben­di­gen Rück­kopp­lung ist es denn auch, der das Schrei­ben zu einer ein­sa­men und wider­spens­ti­gen Arbeit wer­den lässt, wäh­rend dem von sei­nen Hörern ange­reg­ten Erzäh­ler die Wor­te recht selbst­ver­ständ­lich aus dem Mun­de flie­ßen, er sie auch nicht aufs i-Tüp­fel­chen kal­ku­lie­ren muss, bleibt ihm doch jeder­zeit die Mög­lich­keit, das Gesag­te zu ergän­zen, zu prä­zi­sie­ren oder gar ganz zu widerrufen.

3. ERZÄHLEN IN DER LITERATUR: DER ROMAN

Den­noch bleibt das unter­hal­ten­de Schrei­ben in die­sen soge­nann­ten „Kurz­for­men“ noch sehr auf die Vor­la­ge münd­li­chen Erzäh­lens bezo­gen, vor allem wenn man die ver­än­der­ten Ver­hält­nis­se im Auge hat, die sich mit dem Auf­tau­chen des moder­nen Romans herstellen.

Aus vor­bür­ger­li­chen Zei­ten ken­nen wir umfang­rei­che Erzäh­lun­gen, die wir wohl haupt­säch­lich wegen ihres Umfangs als Roma­ne bezeich­nen, die aber nicht dem ent­spre­chen, was wir etwa seit dem 18 Jh. unter einem Roman ver­ste­hen. Sie erzäh­len meist die Taten eines ein­zel­nen oder einer Grup­pe von Hel­den, indem sie nach­ein­an­der deren Ein­zel­ta­ten wie eine Per­len­schnur anein­an­der­fü­gen. Jede ein­zel­ne Epi­so­de die­ser Hel­den­le­ben folgt dabei noch rela­tiv genau der Struk­tur des Erzähl­sche­mas, und das ist nicht ver­wun­der­lich, stellt die­se Erzähl­wei­se doch die Ver­schrift­li­chung ursprüng­lich münd­lich vor­ge­tra­ge­ner Hel­den­epen dar.

Schö­ne Bei­spie­le bie­ten die chi­ne­si­schen Volks­ro­ma­ne wie die „Rei­se nach dem Wes­ten“, die zwar schon im 14. Jh. auf­ge­schrie­ben den­noch bis ins 20. Jh. von Berufs­er­zäh­lern in abwei­chen­den Vari­an­ten münd­lich wei­ter­erzählt wur­de. Aber auch noch die Roma­ne der frü­hen Neu­zeit in Euro­pa fol­gen trotz man­cher Abwand­lung die­ser Erzähl­wei­se, in Deutsch­land etwa noch Grimm­mels­hau­sens „Sim­pli­zis­si­mus“.

Grund­sätz­lich vom münd­li­chen Erzähl­sche­ma weicht erst der moder­ne Roman ab, der sei­nem Ver­fas­ser eine bis­lang uner­hör­te Frei­heit der Dar­stel­lung erschließt: Gemes­sen am Erzähl­sche­ma kann der moder­ne Roman­schrei­ber gan­ze Struk­tur­tei­le außer Acht las­sen und zum Bei­spiel einen Roman mit der Schil­de­rung gewöhn­li­cher All­tags­ver­rich­tun­gen bestrei­ten. Auch ohne eigent­li­che Hand­lung lässt sich ein Roman ver­fas­sen, alle­mal kann das Ende offen­ge­las­sen, und damit auf ein Ergeb­nis ver­zich­tet wer­den, und selbst den indi­vi­du­el­len Hel­den kann der Roman­schrei­ber, wenn es sein muss, ent­beh­ren. Oder wie­der mit den Wor­ten lexi­ka­li­scher Defi­ni­ti­on: „Bei aller Gebun­den­heit an die Außen­welt bestim­men letzt­lich nicht äuße­re Taten, son­dern inne­re Ent­wick­lun­gen den Gang des Romans und füh­ren in der Gegen­wart bis zu sei­ner `Ent­fa­be­lung‘, d.h. dem Ver­zicht auf äuße­re Hand­lung und der Beschrän­kung auf sub­ti­le See­len­ana­ly­se als Bei­trag zur Selbst­ver­ge­wis­se­rung des Men­schen.“ [ Gero von Wil­pert, a.a.O. s.784]

Wir kön­nen also sagen: In gewis­ser Wei­se eman­zi­piert sich der moder­ne Roman von den Zwän­gen, die die münd­li­che Erzäh­lung dem Erzäh­ler bis­lang auf­er­leg­te. Ich wür­de aller­dings eher sagen, der Roman­au­tor ver­schrift­licht und sti­li­siert eine wohl mit dem Erzäh­len ver­wand­te, aber doch davon, er bezieht sich, was mei­nes Wis­sens wenig bemerkt wird, auf den Tag­traum. Die Fähig­keit aus­ge­dehn­ten Tag­träu­mens ent­steht in der Kind­heit, ins­be­son­de­re wäh­rend der Grund­schul­jah­re über die wach­sen­de Ver­in­ner­li­chung der Erzähl­fä­hig­keit. Jede Erzäh­lung ent­führt den Hörer ja aus dem gegen­wär­ti­gen geleb­ten Augen­blick an den Ort und in die Zeit der erzähl­ten Hand­lung und lässt ihn in die Haut des han­deln­den Hel­den schlüp­fen. Es ist die wach­sen­de Erzähl­fä­hig­keit, über die gelernt wird, die Auf­merk­sam­keit über län­ge­re Zeit von der äuße­ren Sin­nes­wahr­neh­mung abzu­len­ken und an inne­re Wahr­neh­mun­gen zu fes­seln. Wenn Jugend­li­che in die Puber­tät kom­men, und das bedeu­tet in die­sem Zusam­men­hang wenn sich die Erzähl­fä­hig­keit voll­stän­dig ver­in­ner­licht hat, ver­stum­men sie auf­fäl­lig, zumin­dest Erwach­se­nen gegen­über, doch hin­ter ihrer Zurück­hal­tung flim­mern aus­ufern­de Tag­träu­me, die, wie wir uns alle erin­nern, in die­ser Lebens­zeit einen gro­ßen Teil des Tages aus­fül­len. Und auch wenn sie in ihrem Aus­maß zurück­ge­hen, beglei­ten uns Tag­träu­me ein Leben lang und beschäf­ti­gen uns län­ger, als uns lieb ist. In die­sem Sin­ne beschreibt Jero­me Sin­ger, einer der weni­gen Psy­cho­lo­gen, die sich aus­führ­lich mit dem Tag­träu­men beschäf­tig­ten, den Tag­traum als „Selbst­un­ter­hal­tung durch pri­va­tes Erzäh­len mit­tels Bil­dern und Mono­lo­gen“. [Singer,D.G./ Sin­ger, J.L.: The house of Make-belie­ve, Child­rens play and the deve­lo­ping ima­gi­na­ti­on, Lon­don 1990, s.2o6]

Wenn wir uns den Tag­traum anse­hen, fin­den wir dort die Frei­heit des Roman­schrei­bers wie­der: Sie ist davon abge­lei­tet. Auch wenn in den meis­ten Fäl­len der Tag­traum sehr wohl einen Hel­den kennt, näm­lich den Träu­mer selbst, so lässt sich gele­gent­lich selbst dar­auf ver­zich­ten, indem der Träu­mer in anein­an­der­ge­reih­ten idyl­li­schen Bil­dern schwelgt. Ähn­lich geht es mit dem Ereig­nis, meist ein Erleb­nis des Wach­le­bens, das tag­träu­mend berich­tigt und zum guten Ende gebracht wird. Auch hier kann der Tag­träu­mer sich mehr im all­ge­mei­nen wun­der­ba­re Eigen­schaf­ten oder Erfolgs­er­leb­nis­se ohne kon­kre­te Hand­lun­gen vorstellen.

Der Erzäh­ler muss sich an die Regel­hal­tig­keit des erwähn­ten Sche­mas hal­ten, um die Ver­mitt­lung der Erzäh­lung sicher­zu­stel­len, sie wäre sonst in der münd­li­chen Form nicht ver­ständ­lich. Der Leser kann nach­blät­tern, was er nicht ver­stan­den hat, der Hörer kann das nicht und muss im Moment des Hörens das Ent­schei­den­de auf­neh­men und ver­ar­bei­ten, was ihm das Erzähl­sche­ma sichert (neben ande­ren Eigen­schaf­ten münd­li­chen Erzäh­lens wie etwa dem red­un­dan­ten Wie­der­ho­len). Die Ent­ste­hung des moder­nen Romans geht nicht zufäl­lig ein­her mit ver­än­der­ten Rezep­ti­ons­wei­sen. Die vor­bür­ger­li­chen „Roma­ne“ wur­den meist in Gemein­schaf­ten laut vor­ge­le­sen, häu­fig wur­de dabei noch abwech­selnd erzählt und vor­ge­le­sen. Selbst ein­sa­me Lek­tü­re erfolg­te, wie wir das von unsern Lese­an­fän­gern ken­nen, noch lan­ge mit lau­ter Stim­me. Der Vor­le­ser steht mit den mög­li­chen Modu­la­tio­nen sei­ner Beto­nung, den Pau­sen und Unter­bre­chun­gen, die auch Raum für Äuße­run­gen und Fra­gen der Zuhö­rer oder auch für Erklä­run­gen las­sen, dem Erzäh­ler noch ver­gleichs­wei­se näher, ermög­licht eine unmit­tel­ba­re­re sinn­li­che­re Auf­nah­me, wie wir sie heu­te fast nur noch vom Vor­le­sen vor lese­un­kun­di­gen Kin­dern ken­nen. Erst im 18.Jh., und wohl zunächst auch nur in einer klei­nen Bil­dungs­eli­te, ver­brei­tet sich stil­le selbst­ver­ges­se­ne Lek­tü­re, beginnt man also in tag­traum­ar­ti­ger Ver­sen­kung zu lesen, im Lau­fe des 19.Jh.s setzt sich die­se lite­ra­ri­sche Rezep­ti­ons­wei­se all­ge­mein durch, und erst vor die­sem Hin­ter­grund kann es zur „Ent­fa­be­lung“ lite­ra­ri­schen Erzäh­lens kom­men. [Sie­he Rüdi­ger Stein­lein: Vom gesel­li­gen Hörer zum ein­fa­chen Leser. Über die Ver­bür­ger­li­chung münd­li­cher Erzähl­kom­mu­ni­ka­ti­on, in: Mer­kel, J./ Nagel, M. (Hg.): Erzäh­len. Die Wie­der­ent­de­ckung einer ver­ges­se­nen Kunst, Rein­bek 1982].

4. ERZÄHLEN IM THEATER

Bis­lang war nur von Text­ge­stal­tung und sei­ner Rezep­ti­on die Rede. Aber indem ich von „leib­haf­ti­gem“ Erzäh­len spre­che, ist ein­ge­schlos­sen, dass auch der leben­di­ge „Leib“ mit­er­zählt, den wir uns ange­wöhnt haben in Anleh­nung an sei­ne phy­si­ka­li­schen Pen­dants nur noch „Kör­per“ zu nen­nen. Das ist natür­lich etwas, was nicht nur das Erzäh­len kenn­zeich­net, in jeder münd­li­chen Rede macht der gespro­che­ne Text allen­falls die hal­be Bot­schaft aus, die ergänzt, para­phra­siert oder kon­ter­ka­riert wird durch die non­ver­ba­len Mit­tei­lun­gen. Der Schrei­ber, der auf den sprach­li­chen Text redu­ziert ist, ver­sucht den Ver­lust an Anschau­lich­keit durch Beschrei­bung wett­zu­ma­chen (und wor­auf ich hier nicht zu spre­chen kom­me, die wie­der­ho­len­de For­mel tun­lichst zu ver­mei­den). Wir kön­nen das bei­spiels­wei­se anhand der Ver­schrift­li­chung von Mär­chen beob­ach­ten. Die Text­vor­la­gen, die die Samm­ler beim Hören notier­ten, waren in ihrer knap­pen Karg­heit eine unge­nieß­ba­re Lek­tü­re, dar­um wur­den sie nach den Anfor­de­run­gen des schrift­li­chen Medi­ums aus­ge­schmückt und umge­schrie­ben. Lesen wir die erhal­te­nen Noti­zen und Urfas­sun­gen der Gebrü­der Grimm, fin­den wir sie sehr knapp gehal­ten ver­gli­chen mit dem in der Fas­sung letz­ter Hand erschie­ne­nen Text. Noch stär­ker fällt das an wört­li­chen Tran­skrip­ten von Ton­band­auf­nah­men auf: Der Text wird bei­na­he unver­ständ­lich. Das zeigt eben sehr deut­lich, dass der Erzäh­ler neben dem Text ein wei­te­res Medi­um zur Ver­fü­gung hat: die Dar­stel­lung, die Ges­tik. Der Schrift­stel­ler muss die­se dar­stel­len­den Ele­men­te erset­zen durch Beschrei­bung, und die Qua­li­tät der Beschrei­bung macht denn auch zu einem guten Teil den lite­ra­ri­schen Stil aus.

Schon in jeder all­täg­li­chen Erzähl­run­de sticht der „gebo­re­ne Erzäh­ler“ nicht nur durch sei­ne Wort­ge­wandt­heit her­vor, son­dern eben­so durch sei­ne leben­di­ge Ges­ten­spra­che und sei­ne spie­le­ri­schen Ein­la­gen, eben jene Ele­men­te, die in den Kul­tu­ren gepflegt und zu oft artis­ti­scher Per­fek­ti­on ent­wi­ckelt wur­de, in denen die lite­ra­ri­sche Unter­hal­tung von Berufs­er­zäh­lern bestrit­ten wur­de. Sieht man sich bei­spiels­wei­se an, wie in Chi­na und Japan, in Indi­en oder im isla­mi­schen Ori­ent noch bis ins 20. Jahr­hun­dert die Berufs­er­zäh­ler von ihren Meis­tern aus­ge­bil­det wur­den, fin­det man über­all eine sehr dezi­dier­te, über vie­le Jah­re gehen­de Schu­lung, deren wesent­li­cher Bestand­teil das Erler­nen von Auf­tre­ten und Ges­tik war. [ Sie­he dazu: Hrdlick­ova, Vena: „Ein Buch, das sind nur Wör­ter“ Pro­fes­sio­nel­le japa­ni­sche Geschich­ten­er­zäh­ler, in: Merkel,J./ Nagel,M.(Hg.): Erzäh­len. Die Wie­der­ent­de­ckung einer ver­ges­se­nen Kunst, Rein­bek 1982]

Noch im mit­tel­al­ter­li­chen Euro­pa gab es den Beruf des öffent­li­chen Erzäh­lers: Die Trou­ba­dou­re und fah­ren­den Sän­ger einer­seits, die auf Bur­gen und an Fürs­ten­hö­fen umfang­rei­che Hel­den­epen vor­tru­gen, ande­rer­seits die Gauk­ler und Jon­gleu­re, die in einer Mischung aus Erzäh­lung, Vor­füh­rung und Akro­ba­tik das „gemei­ne Volk“ auf Jahr­märk­ten und städ­ti­schen Fes­ten unter­hiel­ten. Bei­den wird der Boden ihrer Kunst ent­zo­gen durch das auf­kom­men­de neu­zeit­li­che Thea­ter, das die Hel­den­ge­schich­ten in die Form erha­be­ner Tra­gö­di­en goss und die Volks­un­ter­hal­tung, zumin­dest in den städ­ti­schen Zen­tren, in komö­di­an­ti­schen Auf­füh­run­gen lie­fer­te. Das über­lie­fer­te „Gesamt­kunst­werk“ des Geschich­ten­er­zäh­lers wur­de wei­ter auf­ge­split­tert und spe­zia­li­siert: Die Auf­ga­be sprach­li­cher For­mu­lie­rung über­nah­men die Schrift­stel­ler, deren Dar­stel­lung die Thea­ter­ma­cher, und was vom öffent­li­chen leib­haf­ten Erzäh­ler über­blieb, wan­der­te als „abge­sun­ke­nes Kul­tur­gut“ in die Dör­fer, bis es von intel­lek­tu­el­len Schrei­bern als „Mär­chen“ wie­der ent­deckt und der Schrift­kul­tur ein­ver­leibt, im Bereich des Kin­der­thea­ter auch auf die Büh­ne gebracht wurde.

In allen Kul­tu­ren wur­zeln die ver­schie­de­nen For­men thea­tra­li­scher Dar­stel­lung im münd­li­chen Erzäh­len: Die reprä­sen­ta­ti­ve, Gemein­schaft bil­den­de Funk­ti­on des Thea­ters, die aus der „kul­ti­schen“ Vor­füh­rung her­vor­ging, brach­te den kul­tur­stif­ten­den Mythos zur Anschau­ung, der immer und zunächst auch eine Erzäh­lung dar­stellt, Thea­ter als zer­streu­en­de Unter­hal­tung dra­ma­ti­sier­te die all­täg­li­che­ren „welt­li­chen“ Erzäh­lun­gen. Auch das neu­zeit­li­che euro­päi­sche Thea­ter erzählt auf sei­ne Wei­se Geschich­ten und lässt sich dar­um zur alt­her­ge­brach­ten Vor­trags­kunst der Erzäh­ler in Bezie­hung set­zen: Es sind die kur­zen spie­le­ri­schen Ein­la­gen, in denen der Erzäh­ler die Hand­lungs­wei­sen und Gefüh­le sei­ner Hel­den „anspielt“, die nun artis­tisch aus­ge­baut zur allei­ni­gen und ver­bind­li­chen Kon­ven­ti­on der Dar­stel­lung werden.

Die Erzäh­ler waren immer nur „Gele­gen­heits­spie­ler“, die an dra­ma­ti­schen Stel­len ins Spiel fal­len. Noch bei den letz­ten Mär­chen­er­zäh­lern, die in Lau­fe die­ses Jahr­hun­derts beob­ach­tet wur­den, fin­den sich gele­gent­lich Pas­sa­gen ech­ten „Ein­mann­thea­ters“, wie bei dem fol­gen­den Auf­tritt des skan­di­na­vi­schen Zigeu­ners Taikon: Stolz rei­tet er sei­nem Schick­sal ent­ge­gen. Er nähert sich dem Schloss. Er steigt von sei­nem Pfer­de. Sei­ne Stim­me ver­stummt. Eine Pan­to­mi­me beginnt. Auf Zehen­spit­zen schleicht er sich zum Schloss hin. Späht. Biegt das Gebüsch bei­sei­te. Bleibt einen Augen­blick hin­ter dem letz­ten Ver­steck ste­hen. Geht mit ent­schlos­se­nem Gesicht auf das Tor zu. Bleibt ste­hen. Blickt sich um. Erhebt die Hand um an das Schloss­tor zu pochen. Lässt sie aber­mals sin­ken. Ermannt sich schließ­lich und schlägt dage­gen, dass es im gan­zen Schloss wider­hallt. Öff­net! Öff­net für Prinz Unver­zagt! Till­ha­gen, 1979 s.169).

Die thea­tra­li­sche Kon­ven­ti­on, nach der jeder Spie­ler für die Zeit der Vor­stel­lung in die Haut der dar­ge­stell­ten Per­son schlüpf­te, erfor­der­te den gelern­ten Schau­spie­ler. Wäh­rend die mit­tel­al­ter­li­chen „Mys­te­ri­en­spie­le“ nach heu­ti­gen Kate­go­rien „Lai­en­auf­füh­run­gen“ dar­stell­ten, wer­den im glei­chen Zeit­raum, in dem Schrift­stel­ler das unter­hal­ten­de Erzäh­len über­neh­men, die dar­stel­len­den Küns­te von berufs­mä­ßi­gen Schau­spie­lern getra­gen, die immer mehr schrift­lich ver­fass­te Stü­cke spie­len. Nur ver­ein­zelt, wie bei­spiels­wei­se in der Com­me­dia dell´arte, über­lebt im Thea­ter die impro­vi­sie­ren­de Text­ge­stal­tung der Erzäh­ler. Damit ver­än­der­te sich not­wen­dig auch das Ver­hält­nis zum Publi­kum, das nun vom „Mit­er­zäh­ler“, des­sen Reak­tio­nen die Vor­füh­rung des Erzäh­lers steu­ern, immer mehr zum stum­men, sich nur noch im begeis­ter­ten Applaus oder dem ableh­nen­den Pfei­fen arti­ku­lie­ren­den Zuschau­er wird. Kann­te das eli­sa­be­tha­ni­sche Thea­ter noch eine gro­ße Offen­heit dem Publi­kum gegen­über, die sich auch in sei­ner in den Zuschau­er­raum vor­sto­ßen­den Büh­ne aus­drück­te und noch das direk­te Anspre­chen des Publi­kum erlaub­te, rich­te­te das ent­wi­ckel­te euro­päi­sche Vor­führ­t­hea­ter, das sich im fran­zö­si­schen Hof­thea­ters durch­setz­te und bis zu Beginn die­ses Jahr­hun­derts vor­herrsch­te, sich eine „Guck­kas­ten­büh­ne“ ein, durch deren ima­gi­nä­re „vier­te Wand“ der Zuschau­er einem Gesche­hen bei­wohn­te, das ihm die eige­ne geleb­te Gegen­wart ver­ges­sen zu machen und ihm die voll­kom­me­ne Gegen­wär­tig­keit der vor­ge­führ­ten Büh­nen­er­zäh­lung zu sug­ge­rie­ren such­te. Wie im Bereich des schrei­ben­den Erzäh­lens wur­de auch im moder­nen Thea­ter die dop­pel­te Bezug­nah­me des Erzäh­lers auf Erzäh­lung und Publi­kum ein­sei­tig auf die Dar­stel­lung der Erzäh­lung verlagert.

Thea­ter­ge­schicht­lich gip­fel­te die voll­ende­te Fik­ti­on der Gegen­wär­tig­keit der Büh­nen­hand­lung in den berühm­ten drei Ein­hei­ten, wie sie von Boi­leau für das klas­si­sche fran­zö­si­sche Thea­ter for­mu­liert wur­den: Zumin­dest inner­halb eines Aktes soll­te die geleb­te Zeit des Zuschau­ers der Zeit und dem Ablauf der Büh­nen­hand­lung und dem auf der Büh­ne simu­lier­ten Ort ent­spre­chen. Die­se Büh­nen­kon­ven­ti­on dürf­te nicht zufäl­lig in jener his­to­ri­schen Epo­che aus­ge­bil­det wor­den sein, die auch die Grund­la­gen der moder­nen Natur­wis­sen­schaft for­mu­lier­te, die nur noch der mate­ri­el­len sicht­ba­ren und greif­ba­ren Welt den Sta­tus von „Wirk­lich­keit“ zusprach.

In ihrer Hand­lungs­füh­rung bleibt aller­dings auch die klas­si­sche Büh­nen­er­zäh­lung dem münd­li­chen Erzäh­len ver­pflich­tet: Der in Anleh­nung an die Poe­tik des Aris­to­te­les gefor­der­te Ablauf der Tra­gö­die, die mit der Expo­si­ti­on ein­zu­set­zen, rasch einem Höhe­punkt zuzu­stre­ben hat­te, der dann jedoch in der „Peri­pe­tie“ zu ver­zö­gern sei, ehe er sich in der Kata­stro­phe ent­lädt und beim Zuschau­er die gewünsch­te „Kathar­sis“ aus­löst, erweist sich erkenn­bar als eine spe­zi­el­le Ablei­tung von dem all­ge­mei­ner for­mu­lier­ten „Sto­ry­sche­ma“, nach dem der münd­li­che Erzäh­ler vorgeht.

Was die klas­si­sche Dra­ma­tur­gie auf­gab und mit den Kon­ven­tio­nen der Guck­kas­ten­büh­ne auf­ge­ge­ben wer­den muss­te, war die Beweg­lich­keit des Erzäh­lers, der Schau­plät­ze und Hel­den mit weni­gen Wor­ten ver­än­dern, der zugleich stän­dig zwi­schen der Ebe­ne der erzähl­ten Hand­lung und der Gegen­wart der Erzäh­lung wech­seln, einer Äuße­rung des Hel­den unver­mit­telt eine Bemer­kung aus der Sicht des Erzäh­lers, der die gesam­te Erzäh­lung über­blickt, anhän­gen kann, oder der mit ande­ren Wor­ten sich traum­tän­ze­risch mit einem Schritt­chen von der „Wirk­lich­keit“ zur Phan­ta­sie und zurück bewe­gen kann. Damit war aber die Erzähl­bar­keit von Geschich­ten auf der Büh­ne bedenk­lich ein­ge­schränkt und die ver­schie­de­nen „Dra­ma­tur­gien“, die seit Les­sing von Thea­ter­au­to­ren oder Thea­ter­ma­chern for­mu­liert wur­den, las­sen sich unter dem Gesichts­punkt zusam­men­fas­sen, wie die auf­ge­ge­be­ne dar­stel­le­ri­sche Frei­heit des Erzäh­lens für die thea­tra­li­sche Vor­füh­rung zurück­zu­ge­win­nen ist und damit auf der Schau­büh­ne wie­der kom­ple­xe­re und reich­hal­ti­ge­re Geschich­ten erzähl­bar werden.

Als Bezugs­punk­te dien­ten bezeich­nen­der­wei­se For­men dar­stel­len­den Spie­les, die der Guck­kas­ten­büh­ne und ihrer Dra­ma­tur­gie vor­her­ge­hen, und das heißt, die dem erzäh­len­den Vor­füh­ren näher­stan­den. Wäh­rend sich die deut­schen Klas­si­ker auf Shake­speare und das eli­sa­be­tha­ni­sche Thea­ter berie­fen, sind die Thea­ter­re­for­men des 20. Jahr­hun­derts vor­wie­gend von außer­eu­ro­päi­schen Spiel­tra­di­tio­nen bein­flusst, die sich weni­ger vom Erzäh­len ent­fernt hat­ten und des­halb vor allem nicht die Fik­ti­on voll­ende­ter Gegen­wär­tig­keit der vor­ge­führ­ten Hand­lung behaup­te­ten, son­dern den Zuschau­er in einer sti­li­sier­ten zei­chen­haf­ten Spra­che auf eine Erzäh­lung ver­wei­sen, die ihm meist längst bekannt ist und des­halb jede Illu­si­on teil­neh­men­der Gegen­wär­tig­keit ver­sagt. So fin­det sich Brechts „Ver­frem­dungs­ef­fekt“ im chi­ne­si­schen Thea­ter vor­ge­bil­det, des­sen Spiel­wei­se stets „refe­rie­rend“ ver­fährt, das sei­nen Schau­spie­lern auch die direk­te Vor­stel­lung vor dem Publi­kum gestat­tet: [Bei­spiel]. Ande­re Autoren und Regis­seu­re lie­ßen sich vom japa­ni­schen No-Thea­ter, den For­men mytho­lo­gi­schen Pup­pen­spiels oder den kul­ti­schen Fes­ten von Stam­mes­kul­tu­ren inspirieren.

Die Rück­be­sin­nung auf erzäh­len­de For­men des Thea­ter­spiels und die damit ver­bun­de­ne Öff­nung zum Publi­kum erwies sich von beson­de­rer Bedeu­tung für das Kin­der­thea­ter, das zunächst mit dem Illu­si­ons­thea­ter ver­pflich­te­ten Mär­chen­auf­füh­run­gen beginnt. Geprägt von den eige­nen Erfah­run­gen im Rol­len­spiel und meist dem „Erzähl­al­ter“ ange­hö­rend, in dem Erfah­run­gen in „mythi­scher“ Wei­se ver­ar­bei­tet wer­den, ver­langt das kind­li­che Publi­kum eine erzäh­len­de Dik­ti­on, zugleich ver­an­lasst sie ihre star­ke Ver­wick­lung in das gezeig­te Gesche­hen zu Zwi­schen­ru­fen und eige­nen Reak­tio­nen. Schon mit der Über­nah­me des Kas­pers ins volks­tüm­li­che Kin­der­thea­ter wur­de eine erzäh­len­de und offe­ne Spiel­wei­se üblich, die sich dann in den ver­schie­dens­ten Ansät­zen des neue­ren Kin­der­thea­ters wie­der­fin­det. Ver­stärkt wer­den die­se Ten­den­zen durch die immer grö­ße­re Bedeu­tung, die die audio­vi­su­el­len Medi­en für das kind­li­che Publi­kum seit den 5oer Jah­ren gewan­nen, zunächst im Bereich eines auf kind­li­che Zuschau­er zuge­schnit­te­nen Kinos, vor allem aber durch den wach­sen­den Fern­seh­kon­sum von Kin­dern und die Öff­nung der Pro­gram­me für spe­zi­el­le Kin­der­sen­dun­gen. Es wie­der­hol­te sich im Bereich des Kin­der­thea­ters, was schon das Thea­ter die­ses Jahr­hun­derts gezwun­gen hat­te, sich auf sei­ne erzäh­le­ri­schen Ursprün­ge zurück­zu­be­sin­nen: Kein noch so per­fek­tio­nier­tes Illu­si­ons­thea­ter konn­te der über­wäl­ti­gen­den Illu­si­on gleich­kom­men, den Zuschau­er unwi­der­steh­li­cher in die Gegen­wär­tig­keit des Gezeig­ten ver­wi­ckeln, wie sie die neu auf­kom­men­de audio­vi­su­el­le Dar­stel­lung erlaub­te. Das Thea­ter sah sich gezwun­gen, sich auf sei­ne eigent­li­chen Mög­lich­kei­ten zurück­zu­be­sin­nen, auf das durch­schau­ba­re Spie­len und die leib­haf­ti­ge Kom­mu­ni­ka­ti­on mit dem Publikum.

5. VON DER FILMSPRACHE DER GESTIK

Der Ein­druck sinn­lich mit­er­leb­ter Gegen­wär­tig­keit, den die kine­ma­to­gra­pi­sche Wie­der­ga­be erzeugt, beruht auf einer dem Nach­den­ken leicht erkenn­ba­ren Täu­schung: Die Bil­der sind, jeden­falls dort, wo das Kino Geschich­ten erzählt, offen­sicht­lich gestellt und in der Anein­an­der­rei­hung von Sequen­zen wird die „Wirk­lich­keit“ auf weni­ge aus­ge­wähl­te Aus­schnit­te redu­ziert. Die­ses Wis­sen, das man auch dem naivs­ten Kino­be­su­cher unter­stel­len darf, behin­dert jedoch kaum den Ein­druck mit­er­leb­ter Gegen­wart, den das Kino­bild erzeugt.

Auf den ers­ten Blick mag es schei­nen, dass die­ser durch die per­fek­te Abbild­bar­keit erzeugt wird, die das foto­gra­phi­sche Ver­fah­ren ermög­licht. Tat­säch­lich hal­ten wir aber zum ein­zel­nen Foto pro­blem­los Distanz: Wir betrach­ten es als die Abbil­dung eines ört­lich und zeit­lich ent­fern­ten Zustan­des. Das ändert sich, sobald die­se Bil­der zu lau­fen begin­nen, es ist das beweg­te Bild, das dem Film „Rea­li­tät“ ver­leiht, das dem Kino­be­su­cher den unab­weis­li­chen Ein­druck sug­ge­riert, Augen­zeu­ge der vor­ge­führ­ten Hand­lun­gen zu sein, mit den han­deln­den Figu­ren in den abge­bil­de­ten Räu­men und Land­schaf­ten zu leben.. Die Gegen­stän­de und die Per­so­nen, die uns der Film zeigt, erschei­nen dort als Abbild, doch die Bewe­gung, durch die sie belebt wer­den, ist kein Abbild der Bewe­gung, sie erscheint wirk­lich ( Chris­ti­an Metz: Semio­lo­gie des Films, Mün­chen 1972 s.28), wie es der fran­zö­si­sche Film­kri­ti­ker Chris­ti­an Metz aus­drück­te. Er sieht die­se spe­zi­fi­sche Film­wir­kung dar­in, dass im Gegen­satz zu einem ste­hen­den Foto, das wir ohne wei­te­res als Abbild einer ver­gan­ge­nen Wirk­lich­keit wer­ten, die Bewe­gung selbst im Augen­blick ihrer Wahr­neh­mung erzeugt wird.

Sofern man nicht die sicher ganz ande­re tech­ni­sche Rea­li­sie­rung, son­dern den psy­cho­lo­gi­schen Effekt im Auge hat, lässt sich die­ser Gedan­ke unmit­tel­bar auf ein für das Erzäh­len ent­schei­den­des Ver­fah­ren zei­chen­haf­ter Dar­stel­lung über­tra­gen, auf jene abbil­den­den Ges­ten, die sich bewe­gen­de Objek­te oder Men­schen durch stell­ver­tre­ten­de Kör­per­be­we­gun­gen reprä­sen­tie­ren. Auch wenn der Erzäh­ler dem Zuschau­er einer höhe­re Vor­stel­lungs­kraft abver­lan­gen mag, sei­ne Dar­stel­lungs­wei­sen andern Gesetz­mä­ßig­kei­ten fol­gen, zeigt sei­ne ges­ti­sche Bewe­gung eine ver­gleich­ba­re, wenn auch weni­ger nach­hal­ti­ge Wir­kung. Sie sind dar­auf ange­legt, durch stell­ver­tre­ten­de „sym­bo­li­sche“ Dar­stel­lun­gen die Bild­vor­stel­lun­gen des Betrach­ters anzu­re­gen, und sie las­sen sich recht gut unter­schei­den in Ges­ten beschrei­ben­der Ver­ge­gen­wär­ti­gung, die sozu­sa­gen mit den Hän­den dem ste­hen­den Foto ver­gleich­ba­re Bil­der malen, und den ges­ti­schen Dar­bie­tun­gen, die Bewe­gun­gen wie­der­ge­ben, und die – wie man hand­greif­lich an kind­li­chen Zuhö­rern bemer­ken kann – das Publi­kum regel­recht in die Erzäh­lung hin­ein­zie­hen. Sie sind es, die im ges­ti­schen Reper­toire aller Erzäh­ler über­wie­gen, und ich möch­te für die star­ke Fas­zi­na­ti­on beweg­ter Ges­tik und die davon ange­reg­te ima­gi­nie­ren­de Bewe­gung der Bild­vor­stel­lun­gen den glei­chen Zusam­men­hang ver­ant­wort­lich machen, den Metz hin­ter dem Rea­li­täts­ein­druck fil­mi­scher Wahr­neh­mung am Wer­ke sieht, wenn er fest­stellt, man kön­ne eigent­lich kei­ne Bewe­gung „repro­du­zie­ren“, son­dern man kann sie nur re-pro­du­zie­ren durch eine zwei­te Bewe­gung, die für den, der ihr zuschaut, den glei­chen Rea­li­täts­grad hat wie die ers­te (……) beim Kino ist der Ein­druck der Rea­li­tät auch die Rea­li­tät des Ein­drucks, die wirk­li­che Prä­senz der Bewe­gung (Metz 1972 s.28).

Wäh­rend uns dar­stel­len­des Spie­len übers Rol­len­spiel bis zum mehr oder weni­ger gekonn­ten Schau­spie­lern ver­traut ist, es eine Kul­tur dar­stel­len­den Spiels, Thea­ter­päd­ago­gen und Lai­en­thea­ter ver­schie­dens­ter Pro­ve­ni­enz gibt, haben wir mit dem Ver­lust pro­fes­sio­nel­len Erzäh­lens auch eine Kul­tur ges­ti­schen Vor­füh­rens ver­lo­ren, und selbst in unse­ren All­tags­ge­sprä­chen fris­tet sie, jeden­falls in nörd­li­chen Brei­ten, ein eher küm­mer­li­ches Dasein. Es ist des­halb ange­bracht, ihr eini­ge grund­sätz­li­che Über­le­gun­gen zu wid­men und sie gegen­über dem dar­stel­len­den Spie­len abzugrenzen.

Aus der kom­mu­ni­ka­ti­ons­wis­sen­schaft­li­chen Lite­ra­tur wis­sen wir, dass ein Spre­cher, sobald er vom Dia­log in eine Erzäh­lung über­geht, sich ver­mehrt der „iko­ni­schen“ dar­stel­len­den Ges­tik bedient, wäh­rend in Gesprä­chen die den Sprach­fluss rhyth­mi­sie­ren­de Hand­be­we­gung vor­herrscht. [ Sie­he dazu: David McNeill/ Ele­na Levy: Con­cep­tu­al repre­sen­ta­ti­ons in lan­guage acti­vi­ty and ges­tu­re, in: Jarvella,R.J./ Klein,W. (eds): Speech, place and action, Hills­da­le 1982]. Die­se abbil­den­de Ges­tik gibt sich bei genaue­rer Betrach­tung als ver­kürz­te Spiel­hand­lung zu erken­nen. Wenn bei­spiels­wei­se der Held mit dem Fuß zutritt, kann ich als Erzäh­ler dies auch mit der Hand vor­füh­ren, benut­ze also eine iso­lier­te und redu­zier­te Bewe­gung, um damit stell­ver­tre­tend die Hand­lung des gan­zen Men­schen vor Augen zu füh­ren und ich tue das im all­ge­mei­nen auf der redu­zier­ten Klein­büh­ne etwa eines Halb­krei­ses vor dem Kör­per. Im Gegen­satz dazu hat der Schau­spie­ler immer den gan­zen Men­schen zu reprä­sen­tie­ren und dazu steht ihm ein aus­ge­dehn­ter Büh­nen­raum zur Ver­fü­gung. Dass die ges­ti­sche Vor­füh­rung pan­to­mi­mi­sche Dar­stel­lung ver­kürzt, zeigt übri­gens sehr deut­lich die Ten­denz von Kin­dern, das Erzäh­len mit ganz­kör­per­li­chen rol­len­spiel­ar­ti­gen Dar­bie­tun­gen zu illus­trie­ren, die sich im Ver­lau­fe der Ent­wick­lung dann zu zei­chen­haf­ten Ges­ten abschleifen.

Eine drit­te Abgren­zung vom dar­stel­len­den Spiel liegt in der Abgren­zung der erzäh­le­ri­schen Ges­te. Wenn die ein­zel­ne Ges­te abge­schlos­sen ist, gehen die Hän­de in die Aus­gangs­stel­lung zurück, um dann wie­der eine neue Ges­te zu begin­nen, wie das Video­be­ob­ach­tun­gen sehr schön zei­gen. Es wer­den also klar abge­setz­te Zei­chen gesetzt. Zugleich wech­seln die Dar­stel­lungs­ebe­nen von Ges­te zu Ges­te: Die Hand, die eben noch den zutre­ten­den Fuß bezeich­ne­te, beschreibt im nächs­ten Augen­blick schon die Wucht der gegen die Fel­sen klat­schen­den Bran­dung usw., wie­der­um im Gegen­satz zur Schau­spiel­büh­ne, deren sym­bo­li­scher Raum über die gesam­te Sze­ne hin­weg erhal­ten bleibt.

Gegen­über der Thea­ter­auf­füh­rung, mit der der Film oft ver­gli­chen wur­de, und die auf einen fes­ten Büh­nen­aus­schnitt und dem dar­auf auf­ge­bau­ten Büh­nen­bild ver­pflich­tet ist, das nur von Sze­ne zu Sze­ne wech­seln kann, erlaubt die fil­mi­sche Dar­stel­lung, Bild­aus­schnit­te und Ein­stel­lungs­grö­ßen nach Belie­ben zu wäh­len, also statt des „gan­zen“ Bil­des nur Aus­schnit­te zu zei­gen, ein Ver­fah­ren, das aus der Rhe­to­rik als „Ecclip­se“ bekannt ist und eben gera­de durch die Aus­las­sung die Phan­ta­sie antreibt. Das macht sich der Film auf sei­ne Wei­se zunut­ze: Wenn ich bei­spiels­wei­se im Film die Nah­auf­nah­me einer grei­fen­den Hand sehe, ergän­ze ich mir in der Vor­stel­lung unwill­kür­lich den gan­zen Men­schen, der zugreift.

In ver­gleich­ba­rer Wei­se sind es Teil­be­we­gun­gen umfas­sen­de­rer Hand­lun­gen, die die Vor­la­gen sym­bo­li­scher Ges­ten lie­fern, und dar­um hat die Ges­te des Erzäh­lers, der die Hand benutzt um vor­zu­füh­ren, mit wel­cher Wucht der Held sei­ner Geschich­te die Tür ein­ge­tre­ten hat, eine ver­gleich­ba­re Wir­kung: Jeder „Hörer“ sieht einen wüten­den Men­schen, der alle sei­ne Wut in den zutre­ten­den Fuß lenkt. Aller­dings ist die Ges­te nicht in der Wei­se kon­text­un­ab­hän­gig wie das foto­gra­fi­sche Bild. Ein ste­hen­des Bild ist in sich rela­tiv aus­sa­ge­kräf­tig. Die stum­me Ges­te bleibt viel­deu­tig, erst der sprach­li­che Kon­text steu­ert es in die Rich­tung der gewünsch­ten Bedeu­tung. Nun ist zwar das Film­bild als Ein­zel­auf­nah­me ver­gleichs­wei­se ein­deu­ti­ger, aber sei­ne Ein­bet­tung in die rasch lau­fen­den Bil­der hat einen ähn­li­chen Effekt.

Die umge­ben­den Bil­der mögen ein­fach nur ande­re Ansich­ten der­sel­ben Umge­bung bie­ten oder uns auch plötz­lich an einen ganz ande­ren Schau­platz ver­set­zen, mit­ein­an­der ver­bun­den sind sie über den Schnitt, der wie­der­um der rhe­to­ri­schen Figur des „Hia­tus“ ver­gleich­bar, eine gestei­ger­te Wir­kung auf die mensch­li­che Vor­stel­lungs­kraft aus­übt. Was der Schnitt aus­lässt, was der Wech­sel der Ein­stel­lun­gen ver­schweigt, ver­sucht sich der Zuschau­er in der Vor­stel­lung zu ver­voll­stän­di­gen. Die­sen Effekt neben­ein­an­der­ge­setz­ter „geschnit­te­ner“ Bil­der erzeugt das ges­ti­sche Erzäh­len, indem jede Ges­te einen kla­ren Abschluss fin­det, die Hän­de in die Aus­gangs­la­ge zurück­keh­ren, ehe sie zur nächs­ten Ges­te anset­zen, es damit den Zuschau­er über­las­sen, die Ver­bin­dung zu schaffen.

Auch die Bild­win­kel, über die im Film die emo­tio­na­le Ein­stel­lung des Zuschau­ers zum vor­ge­führ­ten Bild beein­fluss­bar wer­den, sind in ein­fa­che­rer Form im ges­ti­schen Erzäh­len vor­ge­ge­ben, durch die Blick­rich­tung des Erzäh­lers einer­seits auf das ima­gi­nier­te Gesche­hen sei­ner Erzäh­lung, ande­rer­seits über die Blick­rich­tun­gen der ange­spiel­ten Figu­ren: Der vor den König zitier­te Bett­ler wird ihm mit einem ängst­lich nach oben gerich­te­ten Blick ent­ge­gen­tre­ten, wäh­rend der König aus der Höhe sei­nes Throns auf ihn hin­un­ter­blickt, ganz ähn­lich wie wir im Kino zum aus­rei­ten­den Cow­boy auf­bli­cken und gleich dar­auf von sei­ner War­te aus die vor ihm aus­ge­brei­te­te Prä­rie überblicken.

Ich will ver­su­chen, dies, soweit es eine kur­ze schrift­li­che Beschrei­bung erlaubt, die Ver­wandt­schaft der fil­mi­schen Bild­spra­che mit der Ges­ten­spra­che des Erzäh­lers an einem ein­fa­chen Bei­spiel anschau­lich zu machen, einer Sze­ne aus dem Grimm­schen Mär­chen vom „Meis­ter­dieb“. Wenn der Meis­ter­dieb bei der zwei­ten Auf­ga­be nachts mit der Lei­ter den Schloss­hof betritt, kann ich die Lei­ter mit bei­den Armen gegen die Mau­er stel­len, kann Hand für Hand die Lei­ter hoch­stei­gen. Schnitt. Ich wechs­le die Per­spek­ti­ve: Oben im Schlaf­zim­mer sitzt wachend der Graf, erblickt plötz­lich, wie sich der Schat­ten eines Kop­fes im Fens­ter­aus­schnitt hoch­schiebt: Ich zeich­ne die Umris­se des Kop­fes in das Fens­ter. Als Graf hebe ich nun die Hand mit dem aus­ge­streck­ten Zei­ge­fin­ger als Pis­to­len­lauf und drü­cke den Knall der abge­feu­er­ten Kugel durch die gepress­ten Lip­pen. (einen Effekt, den der Comic adäquat zu einem „Päng“ ver­schrift­licht, der übri­gens in man­cher Hin­sicht dem Erzäh­len am nächs­ten steht und hier nur aus Platz­grün­den nicht berück­sich­tigt wird ).

An die­sem ein­fa­chen Bei­spiel wird ersicht­lich, dass eine ges­tisch erzähl­te Pas­sa­ge im Grun­de in Film­se­quen­zen unter­teil­bar ist. Zunächst der Dieb mit der Lei­ter, die Wand, das Hoch­stei­gen, der Blick­wech­sel nach innen, das Fens­ter und der erschei­nen­de Kopf, schließ­lich – im Film wäre das wohl eine Nah­auf­nah­me – der Graf, der die Pis­to­le zieht und schießt. In der Spra­che des Films wie in der Ges­ten­spra­che des Erzäh­lers die­nen die­se Erzähl­wei­sen dem glei­chen Ziel: Die Vor­stel­lung des Zuschauers/Zuhörers zu aktivieren.

Ich möch­te des­halb die Behaup­tung wagen, dass die ges­ti­schen Ele­men­te münd­li­chen Erzäh­lens in einem deut­li­chen Bezug zur Bild­schie­ne der audio­vi­su­el­len Medi­en ste­hen, die vom Beginn unse­rer Jhs. an als mas­sen­wirk­sa­me öffent­li­che Erzäh­ler in Erschei­nung tre­ten und sowohl den letz­ten Berufs­er­zäh­lern wie der Tri­vi­al­li­te­ra­tur, die übri­gens die Ablö­sung des moder­nen Romans vom Erzähl­sche­ma nie mit­voll­zo­gen hat, den Rang ablau­fen. Ja ich möch­te noch wei­ter gehen und behaup­ten, dass münd­li­ches Erzäh­len sei­ner Form nach audio­vi­su­ell ver­fährt, seit Men­schen sich Mythen und Erfah­run­gen mit­zu­tei­len ver­ste­hen und dass es den damit bezeich­ne­ten Medi­en näher steht als der Schrift­li­te­ra­tur, der wir als ein­ge­fleisch­te Leser die über­kom­me­ne Erzähl­tex­te zurech­nen. Die Ent­ste­hung kine­ma­to­gra­phi­scher Wie­der­ga­be lässt sich des­halb sinn­voll begrei­fen als die tech­ni­sche Rea­li­sie­rung jener aus Bild und Spra­che gebil­de­ten Kom­mu­ni­ka­ti­ons­wei­se, die wir Erzäh­len nennen.

Ich habe mich hier aller­dings auf die Ver­gleich­bar­keit des ges­ti­schen Aus­drucks mit fil­mi­schen Dar­stel­lungs­wei­sen beschränkt, habe die vom Film ent­wi­ckel­ten eigen­stän­di­gen, nur sei­ner media­len Spra­che zugäng­li­che Aus­drucks­wei­sen, unbe­rück­sich­tigt gelas­sen, z.B. die Auf­nah­me­ver­fah­ren der soge­nann­ten „inne­ren Kame­ra“, bei denen der Ein­druck der Bewegt­heit durch die Bewe­gung der Kame­ra erzeugt wird. Auch habe ich die spe­zi­fi­schen Aus­for­mun­gen über­gan­gen, die das Erzähl­sche­ma in der Film­dra­ma­tur­gie erfährt und die einen wei­te­ren inter­es­san­ten Ver­gleichs­punkt zwi­schen Film und Erzäh­len bieten.

Was ande­rer­seits die audio­vi­su­el­le Dar­stel­lung noch stär­ker als das per­fek­tes­te Illu­si­ons­thea­ter unter­drückt, ist der für den Erzäh­ler selbst­ver­ständ­li­che Rück­be­zug auf die Gegen­wart des Zuschau­ers, die Offen­heit für sei­ne Reak­tio­nen und Ein­wür­fe, die spon­ta­ne Aus­rich­tung der Erzäh­lung nach sei­nen Signa­len. Die­se ein­fa­che und selbst­ver­ständ­li­che Fähig­keit des Erzäh­lers, die im Thea­ter noch in beschei­de­nen Ansät­zen wie der vom Publi­kum aus­ge­hen­den „atmo­sphä­ri­schen Dich­te“ über­lebt, sich in der Lite­ra­tur in eini­gen sti­lis­ti­schen Schreib­tech­ni­ken nie­der­schlägt, kann sich im Film allen­falls in arti­fi­zi­el­len Expe­ri­men­ten behaup­ten, wie sie zum Teil in den 60er Jah­ren vom „Under­ground-Kino“ ver­sucht wur­den und nie über ein sehr begrenz­tes Publi­kum hin­aus­ge­lang­ten. Auch alle Ver­su­che eines irgend­wie, meist päd­ago­gisch moti­vier­ten akti­ven Fern­se­hens sind, wenn über­haupt, nur in Aus­nah­me­si­tua­tio­nen mög­lich. Auch die Ein­rich­tung „offe­ner Kanä­le“ schafft eini­gen weni­gen um den Preis eines gro­ßen Arbeits­auf­wands die Mög­lich­keit sich zu arti­ku­lie­ren, ändert aber nichts an der grund­sätz­li­chen Ange­schlos­sen­heit des Medi­ums. Die in der münd­li­chen Erzäh­lung selbst­ver­ständ­li­che Rück­kop­pe­lung ist mit die­sen Medi­en nicht zu leis­ten, und trotz der beein­dru­cken­den Her­stell­bar­keit von „Wirk­lich­keit“, die sie erlau­ben, schei­nen ihre Benut­zer den Ver­lust an zwi­schen­mensch­li­chem Bezug zu bemer­ken und ein Bedürf­nis nach unver­mit­tel­ter Kom­mu­ni­ka­ti­on zu spü­ren. Dar­auf möch­te ich einer­seits die etwas zwie­späl­ti­ge Renais­sance des öffent­li­chen Erzäh­lens zurück­füh­ren, die wir seit eini­gen Jah­ren erle­ben, und die zu oft auf ein­sei­ti­gen Kam­mer­ge­sang vor ehr­fürch­tig erstar­ren­dem Publi­kum hin­aus­läuft. Ande­rer­seits ver­su­chen sich die Medi­en selbst im Rah­men ihrer Mög­lich­kei­ten dar­auf ein­zu­stel­len. Wenn uns Mode­ra­to­ren im Rund­funk anre­den, als wür­den sie neben uns auf dem Sofa sit­zen, oder wenn Talk­shows in den Fern­seh­pro­gram­men zuneh­men, die spon­ta­ne Kom­mu­ni­ka­ti­on vor­zu­ma­chen ver­su­chen, dann möch­te ich die­se Ten­denz dar­auf zurück­füh­ren, dass hier der Ver­lust nor­ma­len zwi­schen­mensch­li­chen Feed­backs irgend­wie mit den unzu­läng­li­chen Mit­teln von Medi­en wett­ge­macht wer­den soll, die auf „Ein­weg­kom­mu­ni­ka­ti­on“ auf­ge­baut sind.

5. VERMUTUNGEN ZUM COMPUTERSPIEL

Eine unter die­sem Aspekt neue Situa­ti­on ent­steht mit dem ani­mier­ten Com­pu­ter­spiel. Mei­ne zuge­ge­be­ner­ma­ßen spe­ku­la­ti­ve Ver­mu­tung lau­tet, dass im Com­pu­ter­spiel eine bestimm­te Rück­kop­pe­lung wie­der denk­bar wird, aller­dings auf einer sehr tech­ni­schen Ebe­ne, wobei ich geste­hen muss, dass ich mich für die­se Spie­le weder begeis­te­re noch genü­gend über­bli­cke, was auf die­sem Gebiet ent­wi­ckelt und ange­bo­ten wird. Was ich dazu sagen möch­te sind also eher vor­läu­fi­ge Vermutungen.

Mei­ne Über­le­gung geht in fol­gen­de Rich­tung: Die Com­pu­ter­spie­le füh­ren unse­re über­kom­me­nen Regel­spie­le wei­ter. Die­se Regel­spie­le las­sen sich in Bezug set­zen zu dem ein­gangs behan­del­ten Erzähl­sche­ma. Sieht man sich Regel­spie­le an, so steckt in ihnen stets eine rudi­men­tä­re Erzäh­lung mit offe­nem Aus­gang. Selbst ein hoch sti­li­sier­tes Spiel wie das Schach­spiel ent­spricht dem Krieg zwei­er König­rei­che, dem Stoff so vie­ler Hel­den­epen oder „Räu­ber und Gen­darm“ han­delt vom Kampf der Ord­nungs­kräf­te mit Rebel­len und Räu­bern, einem zen­tra­len Topos zunächst der his­to­ri­schen Tri­vi­al­li­te­ra­tur, spä­ter der Jugend­li­te­ra­tur. Die Geschich­ten fin­den sich in den Spie­len ver­kürzt, gleich­sam ein­ge­fro­ren auf ein Regel­sys­tem, das not­wen­di­ger­wei­se sehr über­schau­bar blei­ben muss, da unse­re nor­ma­le Kapa­zi­tät nicht aus­reicht, zu kom­pli­zier­te Regeln zu beach­ten. Bereits die Spie­le, die aus der Bewe­gung der „New games“ her­vor­gin­gen, bau­ten ja bereits die erzäh­le­ri­schen Ele­men­te der Spie­le aus, ihre Begleit­hef­te haben des­halb oft einen ent­mu­ti­gen­den Umfang und es kos­tet eini­ge Anstren­gung ihre Regeln in Spiel umzusetzen.

In den Com­pu­ter las­sen sich jedoch auch sehr kom­ple­xe Regel­sys­te­me ein­spei­sen und jeweils an der ent­spre­chen­den Stel­le ins Spiel ein­brin­gen. Dadurch wird es im Prin­zip mög­lich, Erzäh­lun­gen so zu kon­stru­ie­ren, dass der Rezi­pi­ent, in die­sem Fall der Spie­ler, sich sei­ne Erzäh­lung ent­spre­chend einem mit zahl­rei­chen Alter­na­ti­ven vor­ge­ge­be­nen Ver­laufs­sche­ma selbst ent­wi­ckelt. Es könn­ten ihm z.B. an jeder ent­schei­den­den Wei­che der Hand­lung wie­der Alter­na­ti­ven ange­bo­ten wer­den, wie es wei­ter­ge­hen soll. Vor­bil­der dafür lie­fern etwa die in oft umfang­rei­chen Druck­wer­ken fest­ge­hal­te­nen „Fan­ta­sy-Spie­le“, denen eine Erzähl­hand­lung zugrun­de liegt, die aber an jedem Kno­ten­punkt der Hand­lung vom Leser eine Ent­schei­dung ver­lan­gen. Das lau­tet dann etwa so: Wenn du dem Vam­pir ent­ge­gen­tre­ten willst, lese wei­ter auf s.39. Willst du die Flucht ergrei­fen, so fol­ge s. 47. Eini­ge die­ser Spie­le konn­ten des­halb auch direkt in Com­pu­ter­ver­sio­nen umge­setzt wer­den. Begrenzt auf die im Pro­gramm vor­ge­se­he­nen Ent­schei­dungs­kno­ten, erlau­ben sol­che Spie­le dann den Ein­griff des Rezi­pi­en­ten in die Erzäh­lung, knüp­fen auf sehr hohen tech­ni­schem Niveau an den für den Erzäh­ler selbst­ver­ständ­li­chen „inter­ak­ti­ven“ Umgang mit sei­nem Publi­kum an.

Eine wei­ter­ge­hen­de Mög­lich­keit böte die Ent­wick­lung von Pro­gram­men, in denen sich der Spie­ler anhand bestimm­ter Hand­lungs­mus­ter und vor­ge­ge­be­ner Figu­ren eine eige­ne Erzäh­lung erzeu­gen könn­te. Das eher bedenk­li­che Vor­bild dafür fän­de sich in den Ver­fah­rens­wei­sen, mit denen seri­en­wei­se tri­via­le Lese­stof­fe her­ge­stellt wer­den. Den Schrei­bern sol­cher Erzäh­lun­gen wer­den ja von den Ver­la­gen ganz bestimm­te Regeln vor­ge­ge­ben wer­den, nach denen sie Heft­chen­ro­ma­ne – Per­ry Rho­dan, Jer­ry Cot­ton etc. – zu schrei­ben haben und die Aus­se­hen, Qua­li­tä­ten, Eigen­ar­ten der Hel­den eben­so fest­le­gen wie grund­sätz­li­che Hand­lungs­mus­ter oder für den Hel­den tabu­ier­tes Ver­hal­ten. Die­ses als Schreib­an­wei­sung vor­ge­se­he­ne Regel­sys­tem soll die ein­ge­fah­re­nen Bah­nen der Hand­lung und die fest­ste­hen­den Cha­rak­te­re der Seri­en sichern, könn­te aber in Com­pu­ter­spie­len auf­ge­bro­chen wer­den, dem Spie­ler also erlau­ben, abwei­chen­de Hand­lungs­wei­sen vor­zu­se­hen und neue Ver­hal­tens­mus­ter ein­zu­ge­ben, die Cha­rak­te­re und die Hand­lungs­mus­ter also zu mischen und somit eine Erzäh­lung nach sei­nen eige­nen Vor­ga­ben zu gestalten.

Ich kann, wie gesagt, nicht beur­tei­len, ob sol­che Ver­su­che bereits gemacht wer­den oder sogar auf dem Markt zu fin­den sind. Vor­aus­ge­setzt, dass sol­che Pro­gram­me ent­wi­ckelt wer­den, hät­ten wir erneut eine etwas ver­än­der­te Situa­ti­on, gemes­sen am Ver­hält­nis von Erzäh­ler, Hörer, Held und Hand­lung einer Geschich­te. Die­se neue Situa­ti­on wür­de an den Tag­traum anknüp­fen, indem der Com­pu­ter­spie­ler eben­falls in Per­so­nal­uni­on gleich­zei­tig den Erzäh­ler, Hörer und Hel­den stel­len wür­de, und viel­leicht ist das ein Stück Erklä­rung dafür, war­um gera­de in der Alters­grup­pe der Jugend­li­chen Com­pu­ter­spie­le so gro­ßen Anklang finden.

Lei­der redu­zie­ren sich aller­dings die erd­zäh­le­ri­schen Kom­po­nen­ten der meis­ten Com­pu­ter­spie­le auf sehr simp­le Sche­ma­ta und Spiel­re­geln, z.B. auf Model­le des Kamp­fes, der Aus­ein­an­der­set­zung, die nur auf eine Wei­se gelöst wer­den kön­nen oder an denen der Spie­ler schei­tert und ent­fal­ten statt­des­sen die in ihrem Medi­um mög­li­che Kom­ple­xi­tät in beein­dru­cken­den Simu­la­tio­nen ver­gleichs­wei­se pri­mi­ti­ver Geschich­ten. Ich den­ke, dass sich dar­in, ähn­lich wie bei andern Mas­sen­me­di­en, die Beschrän­kun­gen des Mark­tes aus­drü­cken und sie nicht durch die Eigen­schaf­ten des Medi­ums vor­ge­ge­ben sind. Die Ent­wick­lung ver­än­der­ter Pro­gram­me wäre zumin­dest einen Ver­such wert, und in jedem Fall führt die Tech­ni­sie­rung der „Inter­ak­ti­vi­tät“ ein neu­es Moment in die Medi­en­land­schaft ein, das in sei­ner beschei­de­nen und allen zugäng­li­chen Urform längst im dem Medi­um vor­ge­ge­ben ist, das die Vor­la­ge für alle lite­ra­ri­schen, thea­tra­len und audio­vi­su­el­len Medi­en stell­te, dem schlich­ten zwi­schen­mensch­li­chen Erzählen.