Märchenerzähler und ihre Zuhörer
Julia Schmidt
Man weiß allgemein, das Märchen nicht nur eine literarische Gattung sind, sondern ursprünglich mündlich überliefert wurden. Wer sie jedoch früher erzählt hat, wer die Zuhörer waren und bei welchen Gelegenheiten sie erzählt wurden, ist weniger bekannt, statt dessen öfters mit klischeehaften Vorstellungen besetzt („Seele des Volkes“, „Großmütterchen und Kind“ usw.). Eine genauere Antwort auf solche Fragen kann uns eine Vorstellung von den ehemaligen Zusammenhängen des Märchens geben und von der Bedeutung, die es innerhalb der Erzählgemeinschaft einmal hatte.
Märchenforschung gibt es schon seit längerer Zeit; sie war aber überwiegend auf den Text ausgerichtet, und erst zum Ende des 19. und im 20. Jahrhundert wurde auch darauf geachtet, was für eine Person der Erzähler war, wie seine Märchen vom Publikum aufgenommen wurden, und wie er sie erzählte. Damals begann aber das Märchen als lebendige Unterhaltung schon zu verschwinden, und die Berichte aus dieser Zeit zeigen deshalb nur Ausschnitte; einzelne Zipfel konnten noch gefasst werden und wurden ans Tageslicht (oder ins Bibliotheksdunkel) publizierter Volkskunde gezogen. Ich möchte nun versuchen, einige davon zu einem Bild zusammenzusetzen, das das Märchenerzählen in deutschsprachigen Gegenden beschreibt, wie es vor hundert Jahren noch üblich war.
In ganz Europa wurde während des Winters, wenn die landwirtschaftliche Arbeit pausierte, bei den verschiedensten Anlässen in den dörflichen Gemeinschaften erzählt. Meistens kamen dafür die Nachbarn an den langen Winterabenden zusammen. Noch um 1930 gab es im Münsterland solche Erzählkreise; in Ungarn hielten sie sich bis in die fünfziger Jahre.
Ein beliebter Versammlungsort war das Haus eines guten Erzählers:
„In Tinizong (ein rätoromanisches Dorf) war die erzählende Dorfgemeinschaft besonders zwischen 1880 und 1910 äußerst lebendig. Damals gab es im Dorf zwei große Erzähler, deren Zuhörer sogar aus den Nachbardörfern zu den winterlichen Erzählabenden kamen: Pol Gisep Spegnas (Schuster und Küster) und Peder Wazzo (Zimmermann). In der großen Stube des einen oder des anderen erzählten die beiden den ganzen Winter hindurch, meist abwechslungsweise, Abend für Abend.“ (L. Uffer, R. Wildhaber, S. 263)
Meistens waren es gemeinsam ausgeführte Arbeiten, zu denen erzählt wurde; daran erinnern solche Bezeichnungen wie „Rockenmärchen“ und „Kunkelmärlein“. Aus einem ungarischen Dorf: „Von Montag bis Donnerstag war täglich Spinnstube… An den Winterabenden, wenn es schneite, setzten sich die Frauen zum Spinnen zusammen, auch die Männer kamen. Dann reihten sie sich ein, der und jener, und sie amüsierten sich und lachten. Sie kochten Wein mit Zucker, die eine strickt, die andere näht oder spinnt. Die Männer erzählten.“ (L. Degh, S.103) Andere Arbeiten, bei denen die Nachbarn sich gegenseitig halfen, waren Federnschleißen, Flachshecheln, Maisausschälen und -abkernen, Rübenschneiden u.a. Bei all diesen Zusammenkünften wurde freilich nicht nur erzählt. Man unterhielt sich außerdem über alles mögliche, eigene Erlebnisse, Vorfälle im Dorf, die Arbeit.
Wurden aber Geschichten erzählt, dann meistens von verschiedenen Anwesenden, oft reihum: Witze, Schwänke, Spukgeschichten, Sagen und manchmal auch Märchen, dann aber eher die kurzen Schwankmärchen als lange Zaubermärchen. Kurze, abwechslungsreiche Beiträge waren gefragt.
Lediglich bei langwierigen und ermüdenden dörflichen Gemeinschaftsarbeiten bestand ein größeres Interesse an langen Erzählungen. Man lud oft einen bestimmten Erzähler ein, um mehr freiwillige Helfer zu bekommen und um sie dann über lange Zeit bei Laune zu halten. Eine Erzählerin berichtet, wie sie „im letzten Winter zu später Nachtstunde geweckt wurde, um beim Federnschleißen zu erzählen, weil die Teilnehmerinnen schon vom Schlafe übermannt wurden“. (K. Haiding, S. 28) Hier wurden dann auch gerne lange Zaubermärchen gehört.
Eine besondere Bedeutung hatte das Märchenerzählen auch für Saisonarbeiter, meistens Häusler, die zu wenig Land hatten, um davon leben zu können. Alle arbeitsfähigen Mitglieder der Familie mussten hinzuverdienen:
„Im Sommer gingen viele Bauern (aus deutsch-ungarischen Dörfern) auf Erntearbeit nach den herrschaftlichen Großgrundbesitzungen in der Umgebung. Da die Felder viele Kilometer weit entfernt waren, blieben sie oft wochenlang aus und führten ein regelrechtes Zigeunerleben. Sie bauten sich große Plachenzelte für die Nacht. Den Tag über hieß es fest zupacken. Am Abend kochten sie dann an einem großen Kessel am offenen Feuer ihr Essen… Da saßen sie lange um das verglimmende Feuer beisammen und sangen und erzählten… Der Vater musste Märchen erzählen, und alle hörten gespannt zu. Er war nicht der einzige. Es war noch ein anderer alter Mann da, der erzählen konnte, das sie nicht müde wurden und tief bis in die Nacht beisammen blieben.“ (E. Zenker-Starzacher, S. 37)
In den rätoromanischen Dörfern gab es die „Schwabengänger“: „Die Schwabengängerei war eine Sommerauswanderung vornehmlich der armen Kinder aus den Talschaften des Vorderund Hinterrheins. Zu Hunderten verließen diese Kinder, geführt von sprach- und wegekundigen Frauen und Männern, um St. Josef (19. März) ihre Dörfer, zogen in die deutsche Bodenseegegend und arbeiteten dort auf Bauernhöfen bis gegen Martini (11. November).“ (L. Uffer, R. Wildhaber, S.11)
Bis Ende des l9. Jahrhunderts war die Schwabengängerei weit verbreitet. In waldreichen Gegenden verdingten sich die Männer im Winter als Holzfäller:
„Bei den Szekler Holzfällern war das Märchenerzählen besonders beliebt. Die Lohnarbeiter der Holzfällerunternehmen arbeiten seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts den ganzen Winter über oben im Wald. An den Abenden nach dem Essen wird in den Hütten, die fünfzig bis sechzig Personen aufnehmen; bis zum Einschlafen erzählt. “ (L. Dégh, S. 80)
Das Märchenerzählen war für diese Männer von existenzieller Bedeutung: „… Nur zu großen Festen oder zu landwirtschaftlichen Arbeiten kamen sie auf wenige Tage nach Hause… Es lässt sich kaum eine Lebensform finden, in der das Märchen eine derart unentbehrliche geistige Nahrung ist wie hier. Vom Herbst bis zum Winter haben sie von nachmittags fünf Uhr bis zum Morgen nichts zu tun. Ohne das Märchen können sie nicht leben. Der Erzähler wird sehr geehrt. Sie ermuntern ihn mit Zigaretten und anderen Kleinigkeiten, damit er erzählt.“ (L. Degh, S. 81, 89 f)
Bei anderen Saisonarbeiten sieht es ähnlich aus:
„Als in Ungarn in den achtziger Jahren der verstärkte Fabrik und Städtebau beginnt, gehen sehr viele Bauern, teilweise sogar ganze Dörfer; zum Baugewerbe… hat fast sein ganzes Leben lang als Straßenbauer, Erdarbeiter, Maurergehilfe gearbeitet und in den Baracken, die neben der Arbeitsstelle lagen, nach der Arbeit vor dem Einschlafen erzählt…“ (L. Degh, S. 74)
Die Arbeiter brauchten das Märchen, um sich von der täglichen Anstrengung zu erholen, sich zu zerstreuen und auch, um einzuschlafen. Erzählt wurden hier meist lange Zaubermärchen, nicht selten in Fortsetzungen über mehrere Abende von bestimmten anerkannten Erzählern. Häufig wurde nicht nur abends in den Unterkünften erzählt, sondern auch tagsüber während der Arbeit.
Bei Seeleuten und Fischern wurde erzählt, bei den Soldaten in der Kaserne und auch im Gefängnis:
„Im Arbeitssaal, beim Körbeflechten, waren wir siebzig bis achtzig Mann, es durfte nicht gesprochen werden, zehn oder zwanzig Mann waren wir an den langen Tischen, dann habe ich mit leiser Stimme erzählt…“ (L. Degh, S. 85)
Die Zigeuner erzählten bei vielen Gelegenheiten Märchen: Abends vor dem Einschlafen, bei der Arbeit, bei Festen und sehr häufig auf ihren Wanderungen: „Auf je einen Wagen setzten sich neun bis zehn Zigeuner von denen einer die anderen mit Märchen unterhielt.“ (B. Gunda, S. 97)
Bei längeren Wegen ist das Märchen oft zur Unterhaltung nötig:
„Die Bergleute aus Kisatyan… mussten zwölf Kilometer zu Fuß gehen. Mit der Grubenlampe in der Hand brachen sie mitten in der Nacht auf, damit sie um sechs Uhr ihre Arbeit beginnen konnten… Den Weg verkürzten sie sich mit dem Erzählen von Märchen.“ (L. Degh, S. 85)
Man sieht, das das Märchenerzählen nicht so sehr im Dorf und bei den Bauern Tradition war, sondern in erster Linie im sogenannten vierten Stand, also bei den Landproletariern, Tagelöhnern, Knechten, Fischern, Seeleuten und Soldaten; während der Arbeit oder danach zum Ausruhen.
„… es kommt vor, das die wohlhabenden Bauern beim Trinken Anekdoten erzählen, über das lange Zaubermärchen würden sie nur lachen. Der wohlhabende Bauer will etwas „Wahres“ hören, eine historische Erzählung, er liest Zeitungen und hört nicht auf „Lügen“. (L. Degh, S. 87)
Besonders bei den ländlichen Unterschichten in einer ausgeprägt feudalen Gesellschaft wurden die Zaubermärchen erzählt; sie blieben daher in Osteuropa länger lebendig als in den westeuropäischen Ländern, wo die zweite Leibeigenschaft sich nicht in einem solchen Masse herausgebildet hatte. Die verschiedenen Arbeitsgemeinschaften der Landproletarier boten Gelegenheit zum Erzählen, ja erforderten es oft geradezu als einzige Möglichkeit der Unterhaltung und Erholung von der Arbeit. Die Lebensverhältnisse der armen ländlichen Bevölkerung unterschieden sich qualitativ kaum von den feudalen Zuständen, wie die Märchen sie schilderten.
„Nur als Märchen war für sie ein besseres Leben utopisch vorstellbar.“ (D. Richter, J. Merkel, S. 46)
Nicht „das Volk“ erzählte die Märchen, sondern es waren einige wenige, besonders anerkannte Erzähler, die sie (im Gegensatz zu ihren Zuhörern, die sie zwar dem Inhalt nach kannten) aktiv gestalten konnten. Sie vermochten die gegenwärtige Situation, die Erwartungen der Hörer und auch eigene Erfahrungen in ihre Märchen mit einzubeziehen, und sie trugen sie auf diese Weise, fernab von jeder „Texttreue“, immer neu und anschaulich vor.
Das Repertoire solcher „aktiven“ Erzähler war oft recht umfangreich: hundert bis zweihundert Märchen konnte es zählen, die natürlich nicht auf einmal „gelernt“ waren, sondern im Laufe eines Lebens bei vielen Gelegenheiten selbst zum erstenmal gehört wurden und sich dann durch fortwährendes Erzählen eingeprägt hatten.
Die meisten Erzähler sind in ihrem Leben viel herumgekommen. Egbert Gerrits zum Beispiel war in seiner Jugend (ca.1870) in Holland und im Emsland in verschiedenen Stellungen als Hütejunge und als Knecht, danach arbeitete er beim Kanalbau. Er wurde dann Gehilfe eines Anstreichers und zog später mit einem Tuchhändler über Land, bis er sich schließlich, schon als älterer Mann, in einem Ort fest niederließ und dort selbst als Anstreicher arbeitete. (G. Henssen, S.1 f)
Auch von anderen Erzählern wird berichtet, das sie zu den kleinen ländlichen Handwerkern gehörten, die auf der Suche nach Arbeit über Land zogen:
„Schuster, Schneider, Holzhauer, Wegmacher, Zimmerer …“ (K. Haiding, S. 388)
Sie zogen von Hof zu Hof, um zum Beispiel als Schneider den Bauern „Hemden und Decken zu nähen oder zu flicken“, und sie kannten nicht das relativ eng begrenzte Leben nur in einem Dorf. Andere waren Zeit ihres Lebens Soldaten gewesen und kamen aus ihrem Heimatort fort in die Kaserne, wo sie Gelegenheit hatten, Märchen und Geschichten kennen zu lernen. Schließlich gab es auch noch die „Umgeher“: „Pinklkrämer“ (Bündelkrämer), Bettler, Landstreicher und Zigeuner. (K. Haiding, S. 389)
Solche wandernden Erzähler verdienten sich häufig das Essen und die Unterkunft mit ihren Märchen.
Während die Sage geglaubt wird, gilt das Märchen als Dichtung, und die Stimmung während des Erzählens ist entsprechend gelöst und unbefangen. Dennoch ist der Erzähler engagiert bei der Sache: Die geschilderte Märchenwelt ist ein Spiegel der realen Welt, und die Konflikte des Märchens sind ihm vertraut. Entsprechend wählt er auch seine Märchen aus. Er webt eigene Erlebnisse und Anschauungen mit in das Märchen ein. Er bleibt nicht unparteiisch, sondern nimmt Stellung, steht bei Auseinandersetzungen und Kämpfen immer auf seiten des Märchenhelden und seine Hörer mit ihm.
Von einem guten Erzähler wird lobend gesagt:
„De kann usen Härgott un’n Dübel aneenleigen!“ (G. Henssen, S. 9) Auch er sieht das Märchen nicht als wahr an, aber er bemüht sich, es mit verschiedenen Kunstgriffen möglichst glaubhaft darzustellen. Er lässt seine Märchen an heimischen Orten mit bekannten Namen spielen, beruft sich dabei in einleitenden und abschließenden Formeln auf Zeugen, behauptet auch, er selbst oder der, von dem er es gehört hätte, seien dabei gewesen. Vor allem aber erzählt er so, das seine Zuhörer ganz gefangen werden.
„… manchem Empfindlichen kommen sogar die Tränen; und dabei „ist das nur ein Märchen, du Unglücklicher“, und er schlägt ihm auf den Rücken und stürzt ihn in das wirkliche Leben.“ (L. Degh; S. 93)
So führt der Erzähler am Schluss seine Zuhörer wieder aus der „Lüge“ in die Wirklichkeit. Diese Ambivalenz von „wahr“ und „nicht wahr“, das bewusste „ich glaube es nicht“ und das unbewusste „ich glaube es“ erklärt sich durch den doppelten Charakter des Märchens: Es ist einerseits „nur“ Unterhaltung, Zeitvertreib, andererseits aber Ausdruck der Wünsche und Sehnsüchte seiner Zuhörer, Erfüllung von Hoffnungen auf Glück und auf soziale Gerechtigkeit, die Artikulation geheimer und verbotener Gedanken, die sich in dieser Form einer gesellschaftlichen Zensur entziehen.
Die Erzählsituation mit ihrer Atmosphäre, die Zusammensetzung der Zuhörer mit ihrem Verhalten und ihrer Aufgeschlossenheit haben Einfluss auf das Märchen. Das beginnt schon damit, das die Hörer sich oft wünschen, was erzählt werden soll. Besonders beliebte Märchen werden vom Erzähler durch Verbindung mit anderen, ähnlichen ausgeformt und immer mehr verlängert, zum Beispiel, wenn sie einen bestimmten Typ zum Helden haben: Den jungen Riesen (Hünen-Hermel), den winzig kleinen (Däumling), den klugen Räuber (Meisterdieb) oder den starken Helfer (starker Hans). Hier gibt es die Möglichkeit zu immer neuen Abwandlungen und Verkoppelungen, „und so ergeben sich die schönsten „lankwieligen“ (lang andauernden) Geschichten“. (G. Henssen,. S. 21)
Die Hörer beteiligen sich auch direkt durch Zwischenrufe, Fragen und anschließende Kritik (bzw. Lob): „Na, ich könnte das nicht erzählen!“ Sie bringen die eigene Situation mit hinein; im Märchen wird zum Beispiel Holz gesägt und jemand sagt: „Einen Meter davon könnten wir auch gebrauchen.“ Manchmal zeigt sich auch Ungeduld, wenn es ihnen zu lange dauert. Besonders aber drücken sie ihre Anteilnahme durch selbstvergessene, unbewusste Ausrufe aus: „Oh“, „zum Teufel noch mal“, „der war aber stark“. Sie überlegen auch, wie das Märchen weitergehen könnte: „Sicher zieht sich der Brandstifter auch dorthin zurück.“ „Ich würde ihn (den Beutel voll Gold) vergraben, damit ihn keiner sieht!“ (L. Degh, S. 120f)
Gerade diese deutliche Anteilnahme der Hörer ist es, die den Erzähler anstachelt. Er ist auf die Stimmung der Zuhörer angewiesen; sie müssen mitgehen in der Handlung. Der Einsatz von Mienenspiel und Gesten hängt stark ab von Typ und Temperament des Erzählers. Ein distanzierter Erzähler, dem es vor allem auf die Vermittlung von Tradition ankommt, setzt eine eher spärliche Gestik ein. Von einem Zigeuner dagegen wird berichtet:
„Er erzählt mit Gesten und mit Modulationen im Tonfall, mit dramatischen Pausen und mit sprudelndem Wortschwall mit Pantomime und feierlichem Predigen, mit Lachen und mit Tränen.“ (C. Tilhagen, S. 262)
Und bei dem ungarndeutschen Erzähler Markus Schäffer sind die Gesten unentbehrlich für das Verständnis der Geschichte:
„Seine körperliche Agilität ist so dominierend, das ihm die Ausdrucksbewegung schneller und leichter beifällt als das treffende Wort, ja das im dramatischen Moment der Erzählung die Wortsprache von der Bewegungssprache überspielt wird.“ (W. Werner, S.123)
Die meisten Erzähler lassen alle ihre Personen bei einem Märchen in direkter Rede sprechen. Zusammen mit dem Einsatz von Gestik und Körperbewegungen werden die einzelnen Charaktere auf diese Weise angespielt, d. h. kurz spielerisch dargestellt. Vom Zigeuner Taikon heißt es:
„In seine Stimme kommt Sonne, wenn er die junge Prinzessin schildert. Fröhliche Bilder spiegeln sich in seinem Auge, und seine Hände formen luftige Tanzrhythmen nach. Und was für ein liebenswerter alter Mann ist doch der König! Die Stimme klingt nach einem Schmunzeln, die Hände streichen durch den eingebildeten Bart, das Auge bekommt einen majestätischen, landesväterlichen Blick, die Bewegungen werden ein wenig greisenhaft und doch würdig… Und wie teuflisch ist die Hexe!… Die Stimme des Erzählers rutscht in ein schrilles Falsett… (C. Tilhagen, S. 263)
Über dieses Anspielen einzelner Personen hinaus werden manchmal ganze Szenen regelrecht ausgespielt, so von dem obersteirischen Zimmermann Leitner bei der Geschichte von den drei Hunden:
„Anfangs sitzt er auf seiner einfachen Bank vor dem Hause, aber auf die Dauer genügen ihm die frischen, weitausholenden Handbewegungen nicht. Sobald er berichtet, wie die Kutsche der Königstochter, bei der der Held zugestiegen ist, sich dem vor dem Höllentore wartenden Teufel nähert, erhebt er sich ruckweise immer mehr von seinem Sitze. Nun sehen die Fahrenden bereits den Teufel, der ihnen entgegenblickt. Der Held veranlasst ihn, eine Prise aus der Schnupftabakdose zu nehmen, da ist der Teufel festgebannt und kommt erst los, als er die Königstochter freigibt.
„Versprich, die muss frei sein, du darfst keine Jungfrau mehr nehmen“, sagt der Held zu ihm, und der Erzähler versetzt sich völlig in seine Lage, als er das berichtet. Im nächsten Augenblick springt er jedoch um und stellt den Teufel dar, wie dieser nur zögernd in die Schnupftabakdose greift, um durch die zweite Prise wieder frei werden zu können.“ (K. Haiding, S.14f)
Der Zigeuner Taikon erinnert sich an ein Märchen, das zum Teil von mehreren zusammen erzählt bzw. gespielt wurde:
„In Russland war es bei den Kölderaschas (eine Zigeunerfamilie, d. Verf.) üblich, während der Arbeit Märchen zu erzählen, und die wurden dabei gern dramatisch dargestellt. Ach! Wenn du wüsstest! Bisweilen waren wir unser vier oder fünf, die einander Märchen erzählten. Einer war der Wolf, ein anderer der Prinz, ein dritter der Riese, der Kalif oder was nun gerade nötig war. Das war ein richtiges Theater, verstehst du? Mitten in der Arbeit konnte es los gehen. Einer fing an. Die anderen arbeiteten natürlich weiter, aber mit der Zeit, wenn es immer spannender wurde, kümmerten sie sich den Teufel um alles übrige und taten nichts als zuhören oder warteten darauf, dass die Reihe an sie kam: Denn je weiter man im Märchen kam, desto mehr neue Personen traten auf. Einer zum Beispiel sollte Richter sein und hatte das und das zu sagen, und gleich setzte er sich mit untergeschlagenen Beinen hin, zwirbelte den Bart, machte ein feierliches Gesicht und richtete und redete wild. Und da stand der Angeklagte und machte tiefe Bücklinge und hatte Angst. Und dann waren da Wächter und Volk und Gott weiß was sonst noch. Ach, mein Lieber, das war lustig, das war lustig! “ (C. Tilhagen,1973)
Hier gibt es keine Zuhörer mehr, denn alle spielen mit. Das ist aber eine Ausnahme; in der Regel erzählt nur einer und spielt die einzelnen Personen nicht durchgängig, sondern nur in einigen Szenen; und die Rollen werden ständig gewechselt:
„In ihm sahen wir bald den lustigen Wichtel, bald den Besieger des Werwolfes und bald den Gesegneten der geisterhaften Juffer.“ (G. Henßen, S. 7)
Die Zuhörer hatten meistens den Tag über angestrengt körperlich gearbeitet und waren abends müde. Hier kam ihnen dieses Erzählen mit Händen und Füssen, Gestik und Mienenspiel entgegen; auf eine anschauliche Weise wurden ihnen die Märchen so lebendig geschildert, das sie ihre Aufmerksamkeit nicht zu sehr anstrengen mussten. Außerdem waren sie selbst oft nicht gewohnt, sich rein verbal auszudrücken. Dabei ist diese spielerische Darstellung nicht durchgängig, sondern sie geschieht nur ansatzweise und lässt dem Zuhörer einen breiten Raum für eigene Assoziationen.
Neben besonders spannenden und ereignisreichen Stellen setzen die Erzähler Gestik und Mienenspiel vor allem dann ein, wenn es zu Situationen kommt, die außerhalb der eigenen Erfahrungen liegen. Man sieht es an der Art und Weise, in der die österreichische Erzählerin Miazi-Moam das Märchen vom Federnteufel erzählt:
„Als der reiche Kaufmann merkt, das der Sohn des Schweinehüters seine Tochter heiraten möchte, schickt er den Jüngling um drei goldene Federn des Federnteufels… Endlich kommt er an das Ufer eines weiten Wassers, das er nicht zu überqueren vermag. Da erblickt er einen Mann, der auf dem Wasser daherschreitet, ohne zu versinken.“
Die Erzählerin hebt weisend den Arm, ihre weit geöffneten Augen blicken in die Ferne…
„Als der Jüngling wieder nicht weiter kann, gedenkt er der dankbaren Tiere.“
Die Erzählerin streckt ihre rechte Hand unter die linke Achsel, wie der Held mit der Krähenfeder tut und spricht dazu:
„Jetzt soll ich fliegen können wie eine Krähe, und schon fliegt er in Vogelgestalt den glasglatten Berg hinan.“
Nun steigt er durch eine Öffnung in das Berginnere, dort führt bald nur noch eine Ritze weiter in die Tiefe. Die Erzählerin legt die geballte Rechte auf den Tisch, stützt den linken Ellbogen auf, wendet die linke Faust (in der der Held den Ameisenschenkel hält) gegen die Zuhörenden, die sie mit ihrem Gesichtsausdruck völlig fesselt und spricht dazu:
„Jetzt soll ich eine Ameise werden!“
In Gestalt des winzigen Tieres kriecht der Held durch die Ritze und gelangt endlich als Mensch zu der geraubten Königstochter… Dann aber, als die Königstochter endlich die Federn besitzt und die Antworten erlangt hat, löst sich die Spannung in freudvolle Bewegung: „Jetzt hat die Königstochter schon alles gewusst vom Federnteufel!“ Am nächsten Tag folgt die Flucht… Auf sein Geheiß muss die Königstochter ihre beiden Hände dicht unter die Öffnung halten:
„Ich lass dir jetzt das Schenkelchen hineinrollen. Wenn du es nicht auffängst, kann ich dich nicht erlösen!“…
Bald sind die beiden Flüchtenden oben auf dem Berge, doch können sie den glatten Hang nicht hinabsteigen. Da gibt er der Königstochter die Geierfeder, er nimmt wieder die Krähenfeder unter die Achsel, und in Vogelgestalt fliegen sie den gläsernen Berg hinab.“ (K. Haiding, S.12f)
Das Unwahrscheinliche, Fremdartige wird durch Gesten vergegenwärtigt und plausibel gemacht: Das Auftreten des Teufels, die übermäßige Kraft des Helden, seine Auseinandersetzung mit unheimlichen Gewalten. Und vor allem werden die wunderbaren Geschehnisse, die dem Helden aus seiner jeweiligen Notsituation helfen, durch darstellende Gebärden anschaulich gemacht. Schon die Ausgangslage des Märchens hat der Erzähler durch eine realistische Gestaltung in den Erfahrungsbereich seiner Zuhörer hineingesetzt; das wunderbare Geschehen des Zaubermärchens bringt er nun durch seine plastische Erzählweise auch in den Bereich des Erfahrbaren.
Dennoch lässt seine Darstellung Raum für eigene Vorstellungen. Seine Zuhörer, Menschen, deren gesellschaftliche Lage gekennzeichnet ist von Unterdrückung und Armut, können die eigenen Wünsche und Sehnsüchte in das glückhafte Märchengeschehen hineintragen und durch das Gehörte die eigenen Utopien von glücklicheren Zuständen ausmalen und wach halten.
Literatur:
- Linda Degh: Märchen, Erzähler und Erzählgemeinschaft. Dargestellt an der ungarischen Volksüberlieferung, Berlin 1962
- Béla Gunda: Die Funktion des Märchens in der Gemeinschaft der Zigeuner, in: Fabula Zeitschrift für Erzählforschung, Bd. 6,1964, S. 95-107
- Karl Haiding: Österreichs Märchenschatz, Wien 1936
- Karl Haiding: Träger der Volkserzählungen in unseren Tagen, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, Bd. 56,1954, S. 24-36
- Karl Haiding: Von der Gebärdensprache der Märchenerzähler, Folklore Fellows Communications Nr.155, Helsinki 1955
- Gottfried Henssen: Volk erzählt. Münsterländische Sagen, Märchen und Schwänke, Münster 1935
- Gottfried Henssen: Volkstümliche Erzählerkunst. Beiträge zur rheinischen und westfälischen Volkskunst in Einzeldarstellungen, Heft 4, Wuppertal-Elberfeld 1936
- Gottfried Henssen: Überlieferung und Persönlichkeit. Die Erzählungen und Lieder des Egbert Gerrits, Münster 1951
- Dieter Richter, Johannes Merkel: Märchen, Phantasie und soziales Lernen, Berlin 1974
- Carl-Hermann Tilhagen: Taikon erzählt. Zigeunermärchen, Zürich/München 1973
- Leza Uffer, R. Wildhaber (Hg.): Schweizer Volksmärchen, Düsseldorf 1971
- Elli Zenker-Starzacher: Eine deutsche Märchenerzählerin aus Ungarn, München, 1949
(Ursprünglich erschienen in: Johannes Merkel/ Michael Nagel (Hg.): Erzählen – Die Wiederentdeckung einer vergessenen Kunst, Reinbek 1982)