Wie sich die Erzählfähigkeit entwickelt und warum sie das Medienverständnis fördert
Johannes Merkel
Schon kurz nachdem sie sprechen lernten, beginnen Kinder ihre ersten Geschichten zu erzählen, die oft von den Erwachsenen gar nicht als Erzählungen wahrgenommen werden. Nehmen wir an, ein kleines Mädchen kippt, bevor das Frühstück abgeräumt wird, seine leere Tasse um und kräht dazu fröhlich: „Mich weg“. Die Mutter, die tags zuvor die verschüttete Milch wegwischte, wird verstehen, dass ihr das Kind zeigen möchte, dass es gestern aus Versehen die Milchtasse umstürzte. So schlicht diese Äußerung ausfällt, dürfen wir sie bereits als „Erzählung“ betrachten: Denn das Mädchen bezieht sich dabei nicht mehr auf die gegebene Situation, in der es spricht, sondern auf ein Ereignis des Vortages, an das es sich erinnert und das es erzählend den Betreuern mitteilen möchte. Was gestern passierte, stellt es mit einer Geste nach, das nachfolgende fröhliche Lachen signalisiert die Fiktivität des Geschehens: Meine Tasse ist leer, ich meine doch nur die gestern verschüttete Milch.
Erzählen heißt nicht nur reden
Als Erzählen wird im Alltagsverständnis oft schlicht gemeint, dass einer redet. Dass Erzählende ständig agieren, wird wie die nonverbalen Signale, die alles Reden begleiten, bewusst kaum registriert. Selbst in der Erzählforschung wird diese selbstverständliche gestische und spielerische Begleitmusik erstaunlich wenig beachtet. Erstaunlich, weil es doch diese sichtbaren Hand- und Körperspiele sind, die das erzählte Geschehen bebildern, und weil schließlich diese Kommunikationsweise beim kindlichen Spracherwerb allem Sprechen vorausgeht.
Um damit zu beginnen: Es sind Gesten, die dem Kind erlauben, sich zu äußern, ehe mit den ersten „Einwortsätzen“ Worte zur Verfügung stehen. Mit Zeigegesten vermag es auf Vorgänge hinzuweisen und Wünsche zu äußern. Bald werden diese von den Betreuern übernommenen konventionellen Gesten durch solche ergänzt, die die wachsende Spielfähigkeit dem Kind zu erfinden erlaubt. Ein schönes Beispiel: Nach der Größe der eben verzehrten Orange gefragt bläst ein Junge beide Backen auf. ([1]) Mit der kleinen Erzählung von der verschütteten Milch geht das Mädchen in meinem Beispiel bereits einen Schritt weiter: Es will nichts von den Betreuern haben, sie zu nichts veranlassen, auf keine Frage antworten, sondern versucht, ihnen ein Erinnerungsbild vermitteln, das in seiner inneren Wahrnehmung auftauchte. Es will dieses Bild mit den Betreuenden teilen, sich also im Wortsinne „mitteilen“.
Aber auch später, wenn es längst recht geschickt zu erzählen versteht, wird es, wie alle Erwachsenen auch, Erzählungen mit gestischen Zeichen und spielerischer Darstellung illustrieren. Erzählungen suchen Handlungen und Ereignisse zu aktualisieren, die nicht im Hier und Jetzt des Erzählens stattfinden, sondern im Dort und Damals der Erzählung. Sie leben zunächst nur noch in der Vorstellung (Erinnerung oder Phantasie) der Erzählenden, die über ihre Gesten in den Zuhörenden, die ja eigentlich Zuschauende sind, ähnliche Bilder zu provozieren suchen. Es wurde nachgewiesen, dass Erzählende vermehrt „ikonische“, also bildanregende Gesten ausführen, sobald sie zum Erzählen übergehen ([2]). Solche Gesten können visuelle Vorstellungen anregen, weil sie ausgehend von visuellen Eindrücken gebildet werden. Sie greifen ein Element aus dem Gesamtbild, das dem Erzählenden vor den inneren Augen steht, heraus, um es stellvertretend auszuführen. Das Publikum vervollständigt sich diesen Ausschnitt wieder zum ganzen Bild. Darum reicht es, mit dem Fuß oder auch stellvertretend mit der Hand zuzustoßen, damit die Zuhörenden sehen, mit welcher Wut der Held die Tür eintrat.
Kinder führen Gesten zunächst allerdings etwas anders aus als erwachsene Erzähler. Der Bewegungsraum erwachsener Gestik umfasst einen Halbkreis vor dem Körper, etwa von der Hüfte aufwärts mit einem Zentrum in der Mitte der Reichweite der Hände. Es ist, als ob auf eine Fläche vor dem Oberkörper gezeichnet würde. Demgegenüber greifen die kindlichen Gesten in den gesamten Raum aus, der ihren Händen zugänglich bleibt. »Der ganze Körper und alle seine wichtigen Teile führen die Bewegungen der Spielfigur vor, deren Handlungen beschrieben werden sollen. Die Körperteile der Spielfigur werden tendenziell von den entsprechenden des Kindes ausgeführt (…..), die Gesten sind groß wie bei den wirklichen Handlungen und der gestische Raum hat seinen Mittelpunkt im Kind, als ob es real handelte« ([3]).Die kindlichen Gesten sind deutlich an den Rollenspielen orientiert, die sie in den Jahren vor dem Schulbesuch unermüdlich miteinander spielen. Abzulesen ist die noch dem Spiel verhaftete Darstellung bezeichnenderweise auch an der Führung der Hauptakteure gestischen Ausdrucks, der Hände. Kinder führen damit vorwiegend Handlungen aus, die Hände tatsächlich ausführen können, zum Beispiel ein Glas halten oder die Augen beschatten und dergleichen. Die Hände werden noch kaum in übertragener Bedeutung benutzt, um etwa die überraschende Form eines nach oben sich verengenden Glases nachzuzeichnen oder die langgezogenen Hügel der Landschaft in die Luft malen.
Eine weitere Abweichung: Meist gehen die am Rollenspiel orientierten kindlichen Gesten bruchlos ineinander über, ohne sie gegeneinander abzugrenzen. Erwachsene Erzählende führen dagegen nach jeder Geste die Hände in die Ausgangsstellung zurück, ehe sie zu einer weiteren gestischen Mitteilung ansetzen. Die spielerische Darstellung wird damit zeichenhaft verkürzt und jede einzelne Geste gegenüber der nachfolgenden abgesetzt.
Das Kommunikationsspiel Erzählen
Allein mit Gesten und Spiel ist aber keine Erzählung zu bestreiten. Auch die exakt ausgeführte Geste bleibt mehrdeutig und offen für Interpretationen. Selbst die umgestürzte leere Tasse könnte schlicht auch zum Ausdruck bringen, dass das Kind diese Tasse nicht mag. Erst der bescheidene Zweiwortsatz „Mich weg“ verdeutlicht den Betreuern zusammen mit dem fröhlichen Lachen, dass sich das Kind an den Vorfall von gestern erinnert. Wollte es sich Menschen mitteilen, die diesen Vorfall nicht miterlebten, hätte es Situation und Umstände des Ereignisses nachzustellen und das hieße, sie sprachlich auszuformulieren. Das wird es nach und nach zu leisten lernen, vorausgesetzt, es wird von den Betreuern darin ständig bestärkt und gestützt. Schon die Mutter wird in der Regel auf die kleine Erzählung mit einem erweiternden Satz reagieren: „Ja richtig, gestern hast du deine volle Milchtasse umgestoßen,“ und ihm damit eine kurze, aber sprachlich ausgeführte Erzählung anbieten.
Die sprachliche Gestaltung einer Erzählung stellt im Prinzip drei Anforderungen. Zunächst muss das Kommunikationsspiel Erzählen beherrscht werden, das statt des bislang gewohnten Ping-Pong des Dialogs eine veränderte Rollenverteilung vorsieht. Während der alltägliche Dialog in kurzen Redebeiträgen und ihrer Erwiderung abläuft, verlangt eine Erzählung, dass der Erzählende so lange spricht, bis er seine Geschichte zu Ende gebracht hat. Allerdings bleiben die Zuhörenden auch weiterhin Gesprächspartner, indem sie nonverbal oder mit kurzen Einwürfen auf seine Rede reagieren, die wiederum den Erzählenden erlauben, sich an die Erwartungen der Zuhörenden anzupassen. Umgekehrt kann das Publikum darüber die Erzählung beeinflussen oder gar steuern.
Dass die Wechselseitigkeit des vertrauten Dialogspiels auch während einer Erzählung aufrecht erhalten bleibt, hilft erzählenden Kindern, sich das Verhalten und die Strukturen anzueignen, die das Erzählen erfordert. Auch wenn man nun über längere Zeit der einsame Sprecher bleibt, reagieren die Zuhörer weiter auf alles, was man äußert. Man kann sie beobachten und das macht es leichter, den nächsten Satz zu finden. Und wenn man stockt, helfen sie mit Fragen und kurzen Bemerkungen nach. Auch für das Erzählen braucht das Kind das wohlwollende und eingehende Partnerverhalten, auf dem der gesamte Spracherwerb aufbaut.
Aber nicht nur Kindern gegenüber agieren die Zuhörenden als hilfreiche (oder vielleicht auch hämische) „Miterzähler“. Ständiges und selbstverständliches Feed-back, die Rückmeldung über nonverbale Reaktionen und Zwischenrufe der Zuhörenden, kennzeichnet die Kommunikationsspiel Erzählen insgesamt. Man mag die Probe darauf machen: Erzählen Sie jemandem, der ihnen den Rücken zukehrt. Es grenzt an Tortur.
Der erste Text
Zweitens: Wer eine Erzählung beginnt, ist gehalten, auch eine Erzählung zu bieten. Auch wenn alltagssprachlich oft erzählen im Sinne von reden gebraucht wird, zeigt doch der Unmut, den eine unvollständige Erzählung (z.B. eine Geschichte ohne klaren Schluss) unweigerlich bei den Zuhörenden auslöst, dass wir recht genaue Erwartungen an die Erzählenden haben.
Geschichten berichten von Handlungen, aber beliebig aneinander gereihte Handlungen ergeben keine Geschichte. Die Handlungen der Helden sind in der kulturüblichen Reihenfolge zu berichten, damit sie als Geschichte akzeptiert werden, dem so genannten „Storyschema“, das sich verkürzt so definieren lässt: „Damit eine Geschichte als Geschichte gelten kann, muss erstens die Erzählung mit einem regelrechten Einstieg aus der laufenden Gegenwart von Erzähler und Hörer ausgegrenzt werden, zweitens hat sie einen Helden sowie Ort und Zeit der Handlung zu benennen, drittens ein Ereignis in das Leben des Helden eingreifen zu lassen, mit dem sich viertens der Held auseinanderzusetzen hat und schließlich muss der Erzähler fünftens diese Auseinandersetzung zu einem Ergebnis und die Geschichte damit zu einem Abschluss bringen, der wieder zurückführt in die mit der Erzählung verlassene Gegenwart.“ ([4])
Dieses verbindliche Muster für die „Textsorte“ Erzählung wird am selbstverständlichsten und nachhaltigsten über regelmäßiges mündliches Erzählen auf- und übernommen, über kleine Alltagsgeschichten ebenso wie über phantastisches Fabulieren. Die Kinder lauschen nicht nur einer „spannenden“ Geschichte, sie beobachten zugleich, wie man eine Geschichte erzählt.
Darum sind Kinder im Vorschulalter, ähnlich wie beim Spracherwerb überhaupt, der nur über die persönliche Ansprache der Betreuer in Gang kommen kann, zunächst auf personale Erzählungen angewiesen, um die beim Erzählen geforderten Strukturen und die kommunikativen Verhaltensweisen zu durchschauen und zu übernehmen. Mit wachsender Beherrschung personalen zwischenmenschlichen Erzählens können auch die komplexeren Darstellungsweisen in Literatur und Medien besser überblickt und geordnet werden. Übrigens setzt auch „nicht-lineares“ Erzählen die Beherrschung linearer Erzählstrukturen voraus.
Drittens: Es reicht aber nicht, die Erzählhandlungen in der vorgesehenen Reihenfolge zu berichten. Um sich die Aktivitäten der Helden anschaulich vor Augen zu führen, erwarten die Zuhörenden, dass jede Handlung szenisch ausgeführt wird und dass sich die erzählten Handlungen in einer „kohärenten“ Folge auseinander ergeben, eine Handlungsweise also die nächste nach sich zieht. Das hat eine wichtige inhaltliche Konsequenz: Es zwingt die Erzählenden, den phantastischen Einfall oder das von der alltäglichen Routine abweichende überraschende Erlebnis, die die Erzählung überhaupt erst erzählenswert macht, mit der alltäglichen Wahrscheinlichkeit so zu verweben, dass es gar nicht anders enden kann, als es endet.
Das Verständnis der Regeln, nach denen aus einer Folge von Sätzen eine Erzählung entsteht, ist deswegen so wichtig, weil den Kindern damit zum ersten Mal und in der vertrauten mündlichen Form ein „Text“ begegnet. „Kinder lernen, mit längeren und in sich strukturierten Äußerungen unabhängig vom kommunikativen Kontext umzugehen. Sprache löst sich aus dem Dialog und wird als eigenständiges Gebilde wahrgenommen; sie wird ‚dekontextualisiert’. Damit wird eine entscheidende Voraussetzung für die Lese- und Schreibfähigkeit geschaffen, in einem erweiterten Sinne aber auch für die Medienrezeption.“ ([5]) Mit den frühen Erzählungen lernen sie nicht nur zu erzählen, sondern beginnen zu verstehen, dass man Sätze zu langen Sprachgebilden verbinden kann und wie man das macht. Später werden sie weitere Textformen kennen lernen, Berichte, Beschreibungen, Erörterungen, die alle gleichfalls nach eigenen Gesetzmäßigkeiten aufgebaut sind. So besteht beispielsweise die Kohärenz eines Berichts darin, dass die berichteten Aktivitäten oder Zustände in einer zeitlichen oder systematischen Reihenfolge aufgeführt werden. Kohärente Satzfolgen kennzeichnen auf jeweils andere Weise alle vom Gespräch abgelösten Sprachäußerungen. Schließlich sind in einem erweiterten Verständnis auch alle medialen Produktionen Texte, die nach medienspezifischen Regeln konstruiert werden, im Film etwa entsprechen die Bildsequenzen den Satzperioden sprachlicher Texte.
Was du kannst, das kann ich auch
Die in der Entwicklungspsychologie beliebten Altersstufen, in denen einzelne „Kompetenzen“ erworben werden oder erworben sein sollten, wie sie auch immer wieder als Entwicklungsphasen von „Narratvität“ angegeben werden, sind nach dem grundsätzlichen Erzählerwerb mit großer Vorsicht zu betrachten. Während Kinder Spiele meist von älteren Kindern übernehmen, hängt die Ausbildung ihrer Erzählfähigkeit vor allem anderen davon ab, wie sehr sie durch Erzählungen zum Erzählen angeregt werden. Die „natürliche“ und wirksamste Anregung bietet ihnen das freie mündliche Erzählen, bei dem sie die Konstruktion einer Geschichte Schritt für Schritt beobachten können. Haben sie oft genug Erzählungen gelauscht, werden sie bald auch versuchen nachzumachen, was ihnen vorgeführt wurde. Anders als mediale Produktionen, die beträchtliches Know-how voraussetzen (Schreiben, Kamera führen etc.) verfügen Kinder rasch über die „Produktionsmittel“ des Erzählens.
Ihre selbständigen Erzählungen hängen jedoch noch lange von der jeweiligen Erzählsituation ab. Kinder, die bereits strukturell vollständige Geschichten zustande brachten, können beim nächsten Anlauf an der konsequenten Handlungsfolge scheitern. Ähnlich schwer zu bestimmen ist, ab wann sie Episoden zu bilden wissen. Nach einer amerikanischen Untersuchung beginnen Kinder um das 7.Lebenjahr herum, „mehrfache Handlungssequenzen miteinander in Serien von Episoden zu verbinden.“ ([6]) Kinder, denen häufig erzählt wird, wissen jedoch oft schon viel früher Handlungen nach einem Muster (zu „Kettengeschichten“) aufzureihen und damit variierende Episoden zu bilden.
Regelmäßiges Vorlesen regt die Erzählfähigkeit in ähnlicher Weise an wie mündliches Erzählen, sofern die gelesenen Geschichten übersichtlich genug angelegt sind. Hilfreich sind hierfür vor allem Bilderbücher, die ja im Wechsel von Vorlesen und Besprechen der Bilder aufgenommen werden. Jeder Handlungsschritt wird dabei auch besprochen und darüber genauer erfasst. Erzählungen von Kinderschriftstellern können allerdings durch zu umfangreiche Beschreibungen die Wahrnehmung des Handlungsschemas erschweren. Die spezifischen Darstellungsweisen medialer Erzählungen (z.B. die Bildführung beim Film) riskieren das Handlungsgefüge zu verwischen. Wenn die Einstellungen zu sehr von der Handlungslogik ablenken, die das Strukturschema vorgibt, berichten Kinder auf die Frage, was sie sahen, nur wenige beeindruckende Einzelbilder, ohne einen Zusammenhang herzustellen. Mit wachsender Erzählfähigkeit werden sie zunehmend auch disparate Bildsequenzen nach dem verinnerlichten Handlungsschema anzuordnen und wiederzugeben wissen.
Eine Vorschule der Mediennutzung
Das Storyschema stellt nicht nur ein Strukturmodell für das Erzählen zur Verfügung, es ist ein grundsätzliches Merkschema, nach dem jede Art von Erzählungen verarbeitet wird, literarische Texte ebenso wie erzählende Filme oder selbst noch Computerspiele. Es ermöglicht Handlungsfolgen zu speichern und zu erinnern und gehört damit funktionell wohl zum „episodischen“ Gedächtnis, von dem die Hirnforschung spricht. Allerdings werden in dieser Instanz nach bisherigem Forschungsstand lebensgeschichtliche Ereignisse abgelegt. Die weiter gehende Frage, wie fiktive Handlungssequenzen vom Gehirn verarbeitet werden, haben sich die Gehirnforscher meines Wissens noch kaum gestellt. ([7])
Wie immer man dieses Merkschema definiert, es muss wie alle kommunikativen Fähigkeiten zunächst in und durch zwischenmenschliche Interaktion wahrgenommen und verinnerlicht werden, ehe es davon abgelöst auf mediale Erzählungen angewendet werden kann. Eben so wenig wie ein Kind sprechen lernen würde, setzte man es jahrelang ohne zwischenmenschliche Ansprache vor den Fernseher, würde es erzählen lernen, sofern man es nur Filme sehen lässt. Um Verhaltensweisen, Strukturen und Regeln der Kommunikation zu übernehmen, braucht das Kind den einfühlsamen und reagierenden Mitspieler.
Mit einer versierten mündlichen Erzählfähigkeit werden jedoch wichtige Voraussetzungen geschaffen, um die ausufernden medialen Erzählangebote selbstständig verarbeiten zu lernen, mit denen Kinder in der „Mediengesellschaft“ konfrontiert sind. Formate medialen Erzählens lassen sich letzten Endes als technisch vermittelte Weiterentwicklungen mündlicher Erzählweisen verstehen. Erzählen bildet deshalb so etwas wie eine Vorschule der Mediennutzung, das die Voraussetzungen für die Aufnahme, Speicherung und Verarbeitung medialer Erzählungen ermöglicht und unterstützt. Die Bildsprache der audiovisuellen Erzählung wird in nuce bereits in der Gestensprache der Erzähler angelegt ([8]), selbst die „Interaktivität“ der Computerspiele findet ihren Vorläufer in der selbstverständlichen Reaktivität auf die laufenden Publikumssignale, nach der jeder Erzählende sich ausrichtet, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Während die Rückwirkungen der Nutzer auf den Spielablauf von den Programmierern vorgesehen sein müssen, begibt sich der Erzähler auf eine Reise ins Ungewisse, bei der er auch riskiert, an den Anforderungen des Erzählens und den Erwartungen seiner Zuhörer zu scheitern. Je öfter Kinder Gelegenheit haben, Erinnerungen, Phantasien und Wünsche über ihre Erzählungen mitzuteilen, sich darüber ihre innere Welt bewusst zu machen und mitzuteilen, desto sicherer werden sie auch wahrnehmen, welche Medienprodukte sie für den Aufbau und die Ausgestaltung ihrer eigenen Persönlichkeit brauchen und welche sie als belanglos übergehen können.
Literatur
- [1] Heinz Werner/ Bernhard Kaplan, Symbol Formation, New Jersey 1984, S.89)
- [2] David McNeill/ Levy, Elena, Conceptual Representations in Language Activity and Gesture, in: R.J. Jarvella/
- W. Klein (eds), Speech, Place and Action, Chichester 1982, S.275)
- [3] David McNeill, So You Think Gestures are Nonverbal? Psychological Review 92,1985, S.364
- [4] Johannes Merkel, Sprache der inneren Welt. Spielen, Erzählen, Phantasieren, (2.Aufl.) Bremen 2007, S.159
- [5] Johannes Merkel, Hören, Sehen, Staunen. Kulturgeschichte des mündlichen Erzählens, Hildesheim 2015, S.539
- [6] Gilbert Botvin/ Brian Sutton-Smith, The Development oft Structural Complexity in Children’s Fantasy Narratives, Developmental Psychology, 13, 1977, S.385
- [7] Diesen Versuch macht Gerald Hüther: Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern, Göttingen 2010
- [8] Zum Verhältnis von Gestik und Film siehe: Johannes Merkel, Hören, Sehen, Staunen. Kulturgeschichte des mündlichen Erzählens, Hildesheim 2015, S. 502-515