Über die Verbürgerlichung mündlicher Erzählkommunikation
Rüdiger Steinlein
1. Erzählen als gesellige Praxis – Vor- und frühbürgerliche Erzählsituationen
Erzählen ist eine Form unmittelbarer, weil mündlicher Kommunikation. Als solche ist dieses „genuine Erzählen“ (Bloch, S. 565) an das Beisammensein von Erzähler und Zuhörern gebunden. Wesentlicher jedoch ist die soziale Gestalt solchen Erzählens. Sozial meint hier zunächst einmal „gesellig“, ausgehend von der Feststellung Walter Benjamins: „Wer einer Geschichte zuhört, der ist in der Gesellschaft des Erzählers“ (Benjamin II, S. 456); man sollte vielleicht noch hinzufügen: er ist für gewöhnlich auch noch in der Gesellschaft anderer Zuhörer. D. h. solches Erzählen konstituiert ursprünglich einen geselligen Zusammenhang, der nicht allein die eingeschränkte Erzähler-Zuhörer-Kommunikation als Einbahnstraße zulässt, sondern in dem normalerweise vielfältige Binnenbeziehungen zwischen allen Beteiligten möglich sind und auch stattfinden. Genuines Erzählen war vor allem mit einigen Grundsituationen verbunden: Reisen, (Heim- )Arbeit, Feierabend, Mahlzeiten, Trinkrunden. Hinzu kommt, dass in öffentlichen Situationen erzählt wurde, an denen jung wie alt teilhaben konnten; ferner, dass solches Erzählen noch nicht – wie später -literarische Selbstverständigung einer schmalen, aristokratisch-bildungsbürgerlichen Schicht war, sondern einen handfesten Sinn hatte: es diente der Herstellung und Erhaltung von Wohlbefinden. Über die meisten dieser ursprünglichen (historisch gesprochen: vor- und frühbürgerlichen) Erzählsituationen können wir uns auf Grund ihrer späteren Literarisierung als Rahmenerzählungen für Geschichtszyklen ein einigermaßen anschauliches Bild machen. Außerdem schildern uns autobiographische oder sonstige literarische Darstellungen jenes „genuine“ Erzählen.
Eine bekannte Literarisierung mündlicher Erzählsituationen findet sich in der Rahmenerzählung von Wilhelm Hauffs „Das Wirtshaus im Spessart“. Die zufällig in dem einsamen Wirtshaus zusammenkommende Gesellschaft von Reisenden überlegt, wie sie sich am besten das wegen der Gefahr eines Überfalls durch Räuber notwendige Durchwachen der Nacht ermöglichen kann. Einer der Beteiligten schlägt schließlich vor, sich gegenseitig etwas zu erzählen:
„<Lustig oder ernsthaft, wahr oder erdacht, es hält doch wach und vertreibt die Zeit so gut wie Kartenspiel.> -<Ich bins zufrieden, wenn Ihr anfangen wollet>, sagte der junge Herr lächelnd. <Ihr Herren vom Handwerk kornmet in allen Ländern herum und könnet schon etwas erzählen: hat doch jede Stadt ihre eigenen Sagen und Geschichten > “ (Hauff, Werke III, I, S, 199).
Diese Grundsituation verwendet Hauff auch in der ersten Rahmenerzählung aus seinem „Märchenalmanach“, nämlich derjenigen des Zyklus „Die Karawane“. Dort ist es eine kleine Reisegesellschaft von orientalischen Kaufleuten, die sich die Warte- und Rastzeiten in der Wüstenhitze durch Erzählen verkürzt.
Zugleich handelt es sich in Hauffs Erzählungen auch – wenigstens als Nebenaspekt – um eine gesellige Runde, die, hinter ihren Trinkgefäßen sitzend, sich etwas erzählt.
Die Erzählsituation „Reisen“ hat bekanntlich schon im 16. und 17. Jahrhundert Ihren literarischen Niederschlag in einer eigenen Gattung von Erzählsammlungen gefunden. Die verbreitetsten unter ihnen geben ihre ursprüngliche Funktion bereits im Titel zu erkennen: das „Rollwagenbüchlein“, der „Wegkürtzer“, das „Kurtzweilige Reyßgespan“, das „Rastbüchlein“ oder die „Lustige Gesellschaft“. Auch bei Hauff klingt diese hohe Wertschätzung des Erzählens auf Reisen noch an, wenn der Fuhrmann in „Das Wirtshaus im Spessart“ kundtut: „Noch höher als Kartenspiel ( …) gilt bei mir, wenn einer eine schöne Geschichte erzählt. Oft fahre ich auf der Landstraße lieber im elendesten Schritt und horche einem zu, der nebenher geht und etwas Schönes erzählt; manchen habe ich schon bei schlechtem Wetter auf den Karren genommen, unter der Bedingung, dass er etwas erzähle, und einen Kameraden von mir habe ich, glaube ich, nur deswegen so lieb, weil er Geschichten weiß, die sieben Stunden lang und länger dauern“ (Hauff, Werke III, I, S. 199).
Auch das Erzählen in geselliger Runde bei Tisch, begleitet von Essen und Trinken bzw. als Ergänzung hierzu, hat als Ursituation genuinen Erzählens bereits früh seinen literarischen Niederschlag gefunden; so etwa in dem „convivium fabulosum“ des Erasmus von Rotterdam (das seit 1524 mit dem Titel „colloquia familiaria“ als Schulbuch verbreitet war) oder in der folgenden Widmung zu Valentin Schumanns „Nachtbüchlein“, in der es heißt: „Weyl ich dann oft bey euch an euerem tisch geessen und getruncken habe, da wir dann bißweylen das mittagmal oder nachtessen mit guten schimpfflichen possen vollendet, und ich auch weiß, daß ir geren von mancherley guten schwencken höret sagen . ..“ (Moser-Rath, S. 72 f). Dort findet sich auch aus der Vorrede zum 2. Teil der Sammlung der Rat des Verfassers zitiert, die Stücke „offt zu lesen zu aller zeyt auff strassen und kolatzen, zu mittag nach dem essen oder nachtessen, bey guter gesellschaft zum undertrunck oder spatziren gehn“. Aus derartigen Hinweisen klingt dann auch noch etwas von dem ursprünglich Lustvollen solcher Erzählsituationen heraus. Essen, Trinken, Sprechen und Hören gehen zwanglos und den Genuss steigend ineinander über. Man könnte auch sagen, dass besonders dieser Typus von Erzähltradition, die gesellige Tisch- bzw. Trinkrunde, wegen der noch fehlenden Grenzziehung zwischen lustspendenden Sinnesquellen (gleichzeitig oral, verbal, auditiv) sozusagen polymorph-libidinöse Qualitäten besitze (in Anlehnung an Freuds bekannte Charakterisierung der frühkindlichen Sexualität in ihrem „vorzivilisatorisch“-vorgenitalen Zustand als „polymorph pervers“ ).
Schließlich gehört zu den Grundsituationen genuinen Erzählens das Vortragen oder Zu-Gehör-Bringen von Geschichten während wie nach der Arbeit, zum Feierabend.
Die beiden folgenden Schilderungen mögen etwas von der Atmosphäre vermitteln, in welcher die Verschränkung von manueller Heimarbeit und mündlichem Erzählen sich vollzogen haben dürfte. So liefert Johann Beer für das 17. Jahrhundert eine charakteristische Situation dieser Art. Ihr Ort ist die in diesem Zusammenhang sprichwörtliche Gesinde- oder Spinnstube. Interessanterweise wird hier nicht frei erzählt, sondern vorgelesen, d. h. wir haben es nicht mehr mit einer reinen Erzählsituation zu tun, sondern mit einer „textgestützten“ Abart Beers Ich-Erzähler berichtet:
„Winterszeit setze ich mich über die Spanische Winter-Nächte, und wann das Gesind ihre Rupffen und das Werck spinnen, so laß ich ihnen durch meinen Jungen den Dietrich von Bern oder den Ritter Otto aus Ungarn vorlesen (. ..) und dergleichen, da seuftzen denn die alten Mütterlein zuweilen von Grund ihres Hertzens, wann so eine Zeitung von der Magelona kommt, und was der Narren-Possen mehr seyn mögen“ (Moser-Rath, S. 73).
Dass sich diese Tradition im übrigen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein dort zu halten vermochte, wo die spezifische Arbeitssituation es zuließ, belegt die Autobiographie des Sozialdemokraten Julius Bruhns. Der Sohn eines kleinen Zigarrenmachers erinnert sich, wie noch in seinen Kinderjahren um 1865- 70 die Gesellen sich während der Arbeit allerhand Geschichten erzählten:
„Ich lebte für mich, hatte mir in der Arbeitsstube, wo ich immer zwischen Erwachsenen saß, die sich mit mir nicht abgaben und meist Dinge redeten, deren Verständnis mir kleinem Knirps noch nicht voll aufging, und in meiner Krankheit eine eigene Welt geschaffen ( …) Meine starke Phantasie fand zunächst wohl, wenn auch dürftige Nahrung in den mancherlei Erzählungen, die ich von den bei meinem Vater beschäftigten Leuten hörte. Es waren Geschichten von der Landstraße, aus den Kneipen und Arbeitsstuben, Geschichten aus dem Leben armer, ungebildeter Leute (. ..)“ (Bruhns, S. 10).
Während die erste Schilderung jene Erzählsituation vergegenwärtigt, bei der die Zuhörenden während eintöniger manueller Arbeit hingebungsvoll lauschen, zeigt die letztere eine gewissermaßen fluktuierende Erzählkommunikation, bei der Erzähler- und Zuhörerrolle häufiger und zwanglos wechseln. Hier werden wohl auch nicht literarisierte Erzählstoffe mitgeteilt worden sein, sondern Selbsterlebtes, Alltagserfahrungen, von anderen Gehörtes etc.
Vor allem die Schilderung Beers lässt noch erkennen, wie sehr Arbeiten und Zuhören in Benjamins Sinn von „Lauschen“ einander ursprünglich stützen. „Geschichten erzählen ist ja immer die Kunst, sie weiter zu erzählen, und die verliert sich, wenn die Geschichten nicht mehr behalten werden. Sie verliert sich, weil nicht mehr gewebt und gesponnen wird, während man ihnen lauscht. Je selbstvergessener der Lauschende, desto tiefer prägt sich ihm das Gehörte ein. Wo ihn der Rhythmus der Arbeit ergriffen hat, da lauscht er den Geschichten auf solche Weise, dass ihm die Gabe, sie zu erzählen, von selber zufällt“ (Benjamin, S. 446).
Was das mündliche Erzählen nach Feierabend als weitere Grundsituation ursprünglichen Erzählens angeht, so erwähnt Philippe Aries es in seiner „Geschichte der Kindheit“ als bemerkenswertes Relikt, dass „in einigen Provinzstädten (. ..) das Kleinbürgertum bisweilen noch diese Art von Zeitvertreib (kannte) .Ein Memoirenschreiber berichtet uns, dass sich die Männer von Troyes am Ende des 18. Jahrhunderts zur Vesperzeit versammelten, und zwar im Winter in den Schenken, im Sommer in den Gärten, wo man, nachdem man die Perücke abgelegt hatte, das Käppchen aufstülpte. Man nannte das eine <cotterie>. <Jede cotterie hatte mindestens einen Erzähler, an dem jeder sein Talent maß.> Der Memoirenschreiber erinnert sich an einen dieser Erzähler, einen alten Schlachter. <Die zwei Tage, die ich (als Kind) bei ihm verbracht habe, vergingen mit Berichten, Geschichten und Märchen, deren Anmut, Wirkung und Naivität von der heutigen Generation, ich will nicht sagen, kaum wiedergegeben, aber doch jedenfalls kaum nachempfunden werden könnte“ (Aries, S. 171). Auch hier wird wiederum noch als fernes Echo erkennbar, wie sehr solch mündliches Erzählen als gesellige, öffentliche Praxis nicht allein aus dem schon für sich genommen lebendigen Medium der gesprochenen Sprache lebt, sondern seine vom Memoirenschreiber beschworene, unnachahmliche Wirkung wesentlich und gerade auch aus der umfassenden und konkreten „Körperlichkeit“ der Situation bezieht; wie es eingebettet ist in sinnfällige, handgreifliche Vorgänge. Sie gehören – wie das eigens erwähnte Ablegen der Perücken – zur Sache selbst und sind ihr nicht etwa bloß äußerlich verhaftet.
2. Der Vater erzählt – Die Familiarisierung und Pädagogisierung mündlicher Erzählsituationen
Im Verlauf des 18. Jahrhunderts bildet sich eine neue Erzählsituation heraus, deren sozialer Ort die bürgerliche Familie ist. Einen lebendigen Eindruck hiervon vermittelt die Autobiographie des märkischen Handwerkersohnes und nachmaligen Theologen und Pädagogen Wilhelm Harnisch (geb. 1787; er war zeitweilig engagierter Mitstreiter des „Turnvaters“ Jahn). Er berichtet von für seine Kindheit charakteristischen Erzählsituationen; darüber hinaus erfährt der Leser auch noch Wesentliches über die ausschlaggebenden Momente der literarischen Sozialisation des Verfassers. Er schreibt: „Ich muß sagen, daß ich als Kind viel Mährchen und dazu viele Gespenstergeschichten gehört habe. Ja mein Vater war selbst ein trefflicher Erzähler und öfter erzählte er lange Geschichten an den Abenden von Hexen, die Kinder fett gemacht, um sie zu verspeisen, und es war mir dann sehr schauerlich zu Muthe, wenn ich Abends einschlafen wollte.“ (Harnisch, S. 20f)
In diesem Zusammenhang spielt auch „eine kleine Hausbibliothek“ eine Rolle, die „außer Bibel, Hauspostille, Morgen- und Abendsegenbuch, wie Gesangbuch“ die damals in den Mittel- und Unterschichten verbreitete Unterhaltungsliteratur enthielt:
„Mein Vater vermehrte sie zu Zeiten wohl durch ein neues Buch, von Herumträgern ( d. h. wohl Kolporteuren, Anm. d. Verf. ) gekauft. Zu dieser Bibliothek gehörten der hundertjährige Kalender, Fortunatus mit seinem Seckel und Wunschhütlein, der gehörnte Siegfried, die schöne Genovefa usw. In den Winterabenden las ich daraus vor, oder mein Vater erzählte so etwas, wobei dann Gevattersleute aus der Nachbarschaft zugegen waren, die des Abends nicht arbeiteten“ (Harnisch, S. 41).
Einmal abgesehen von dem auch hier bezeugten Wechsel zwischen reinem Erzählen und Vorlesen scheint mir die Zusammensetzung der Erzählrunde von Interesse. Ihre wichtigste Figur nämlich ist – im Unterschied zu den eingangs angeführten Erzählsituationen – der Vater als Haus- und Familienvater. Allerdings erweist sich diese Erzählrunde noch nicht als durchgängig „familiarisiert“. Sie scheint noch in jener älteren Form von Familienverfassung verankert zu sein, die unter dem Begriff des „ganzen Hauses“ firmiert. Dies geht daraus hervor, dass zu den abendlichen Erzählrunden sich auch fernere Verwandtschaft bzw. Nachbarschaft einfindet.
Indes berichtet Harnisch noch von einer anderen mündlichen Vortragssituation. Sie ist gerade für den protestantischen Bereich sehr charakteristisch und bildet das Gegenstück zu jener gesellig-lustvollen abendlichen Erzählrunde im erweiterten Familienkreis. Sie besteht darin, dass der kleine Harnisch aus den geistlichen Hausbüchern vorlesen muss:
„Aber neben dem Kirchenbesuche gehörte das Vorlesen aus der Spangenbergschen Postille, worin auf Fragen die Sonntags-Evangelien und die Sonntags-Episteln erklärt sind, auch zu den unerlässlichen Sonntagsbeschäftigungen. Der Vater wusste sie fast auswendig ( …) Statt seiner musste ich gewöhnlich des Sonntags nach dem Mittagessen ( …) die Erklärung des laufenden Evangeliums und der laufenden Epistel vorlesen, was mir eine große Last war . ..“ (Harnisch, S. 19).
Das Vortragen dieser geistlichen Texte erfolgt unter Oberaufsicht und Anleitung des Vaters im engsten Familienkreis. Interessant scheint mir hieran noch die Platzierung im Zusammenhang mit dem sonntäglichen Mittagessen zu sein. Sie verrät – so unlustvoll das Vorlesen für den kleinen Jungen wegen der schwer verständlichen geistlichen Texte auch gewesen sein mag – doch noch eine gewisse Nähe zu jener eingangs erwähnten „genuinen“ Erzählsituation einer essenden und trinkenden Tischgesellschaft. Das ursprüngliche Lustmoment ist hier zwar dem der Erbauung gewichen, das aber ebenfalls noch – wie übrigens auch die klösterliche Tradition der mittäglichen, das Essen begleitenden „lectio“ beweist – in unverkennbarer Verbindung mit dem Vorgang der körperlichen Verdauung steht.
Der Bericht Wilhelm Harnischs führt deutlich das noch lange fortbestehende Nebeneinander von älterer mündlicher Erzählkommunikation und neuerer bürgerlich-familiarer (Vor- )Lesekultur vor Augen. (Dabei ist zu berücksichtigen, dass die von Harnisch erwähnte Vorlesesituation nur von ihrem familialen Arrangement her „modern“ anmutet, nicht von den vorgetragenen Texten her, die der Situation – gemessen an den fortgeschrittensten Standards bürgerlicher Lesekultur um 1800 – doch wiederum etwas Altväterisches verleihen.)
Einen anderen zentralen Aspekt solchen Nebeneinanders führt Heinrich Zschokkes „Eine Selbstschau“ betitelte Autobiographie vor Augen. Zschokke berichtet von einer mündlichen Erzählsituation, die in seiner Kindheit eine wichtige Rolle spielte:
„Es wohnte (. ..) im Hause meiner Schwester ein alter Arbeiter oder Taglöhner ( …) ein breutschultriger, starker Mann mit narbigem, verwittertem Matrosengesicht unter grauer Pelzmütze. Gewöhnlich an Sonnabenden saß ich mit meinen beiden Neffen (. ..) im Hofe des Hauses beim Sternenschein voll unermüdlicher Aufmerksamkeit zu seinen Füßen. Denn er erzählte uns bald von eignen Seefahrten, bald von den noch wunderbarern des Robinson Crusoe, den Abenteuern des Robert Pierrot oder den Geschichten der Insel Felsenburg. Er wußte alles mit mancherlei Nebenbemerkungen, Lehren und nützlichen Winken zu würzen, die für mich nicht ohne Frucht blieben. Ich klagte wie über ein öffentliches Unglück, als sein Vorrat erschöpft war“ (Zschokkes Werke, Bd. 1, S. 15 f.).
Zschokke erzählt im weiteren, wie er seiner Enttäuschung über den Entzug des solcherart spannend und „heimelig“ dargebotenen Erzählstoffes dadurch zu begegnen sucht, dass er ihn sich in Form von Büchern verschafft. Anders ausgedrückt: er vertauscht seine Rolle als Hörer mit derjenigen des einsamen Lesers:
„Nun konnt‘ ich nicht anders, ich trieb als Ersatz dafür Robinsonaden, Entdeckungsreisen, Seefahrergeschichten aus Leihbibliotheken zusammen, las und las sie wieder.“
Der in Buchform zugängliche Erzähltext wird also zum Surrogat einer ursprünglich mündlichen Erzählung. Das Bemerkenswerte an Zschokkes Bericht ist, dass er die Zusammengehörigkeit beider Erzählsituationen noch klar erkennen lässt, ihr Auseinanderhervorgehen anschaulich macht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der hingerissene Hörer Zschokke bereits als Kind zugleich auch schon mit der Rezeptionssituation der „einsamen Privatlektüre“ vertraut war. So erwähnt er, dass er bereits sehr früh schon ein faszinierter und gläubiger Leser von „Tausendundeine Nacht“ gewesen sei. Dieser Umstand dürfte auch Einfluss auf seine Rezeptionshaltung als Zuhörer gehabt haben, d. h. er reagierte in dieser an sich noch klassischen mündlichen Erzählsituation bereits eher als bürgerlich-individualisierter Rezipient. Ich stütze diese Vermutung auf eine Qualifizierung in Zschokkes Bericht, derzufolge er „voll unermüdlicher Aufmerksamkeit“ den Erzählungen des alten Seemanns gefolgt sein will. Mit anderen Worten, voll wacher, angespannter Anteilnahme.
Nimmt man dies als ein idealtypisches Merkmal bürgerlicher Rezeptionshaltung, wie sie durch das stille, einsame Lesen, das über den „Kopf“ geht, trainiert wird bzw. trainiert werden soll, so wäre das Gegenstück hierzu, gewissermaßen die „genuine“ Zuhörerhaltung, in Benjamins „Gabe des Lauschens“ zu sehen, die mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft verschwindet. (Die moderne Rezeptionsform der „einsamen Privatlektüre“ erzeugt allerdings nicht per se jene Haltung ich-kontrollierter „Aufmerksamkeit“ , wie die vielfältigen Angriffe von Literaturpädagogen und „Leselehrern“ vor allem im ausgehenden 18. Jahrhundert gegen das rauschhaft-selbstvergessene, tagtraumähnliche Lesen von fiktionalen Texten bezeugt. Im Gegensatz zu jener gewissermaßen produktiven Selbstvergessenheit, von der Benjamin spricht und die sich im zuhörenden Kollektiv der Arbeitenden einstellt, ist jene durch „einsame Privatlektüre“ erzeugte Selbstvergessenheit eher tranceartig-überwach, mit der Wirkung von Drogen zu vergleichen. Diesen Befund legen jedenfalls viele lektüre-biographische Äußerungen des 18. bis 20. Jahrhunderts nahe.)
Es scheint mir kaum ein Zufall zu sein, dass jener Typ mündlicher Erzählsituation, die der junge Zschokke um 1780 noch authentisch erleben konnte, ungefähr gleichzeitig zum Modell eines der einfluss- und erfolgreichsten Texte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur wurde: nämlich Joachim Heinrich Campes 1779/80 unter dem Titel „Robinson der Jüngere“ erschienene Jugendbearbeitung des Defoeschen „Robinson Crusoe“.
Campes Text ist wie kaum ein anderer jener Epoche ein musterhaftes Beispiel für eine ganz bewusste, planmäßige Umfunktionierung älterer mündlicher Erzählsituationen im Dienst vor allem bürgerlicher Sozialisierungsinteressen. Er gliedert sich in eine Rahmen- und in eine von dieser umschlossene oder besser gesagt: von ihr vielfach unter- bzw. durchbrochene Binnenerzählung, in der die Geschichte des jüngeren Robinson mitgeteilt wird. Aufschlussreich ist das Erzählarrangement der Rahmenerzählung. Es handelt sich dabei um den Typus der familialen Erzählrunde. Campe unterstreicht die Bedeutung dieses Arrangements, indem er in der Vorrede zu seinem Buch ausdrücklich darauf verweist, dass es ihm in der Rahmenerzählung um die „treue Darstellung wirklicher Familienszenen (als) ein für angehende Pädagogen nicht überflüssiges Beispiel des väterlichen und kindlichen Verhältnisses“ (Campe, S. 14) gegangen sei.
Dabei fingiert die Rahmenerzählung die Situation mündlichen Erzählens im abendlichen Familienkreis. Der (Haus- )Vater übernimmt – in gut lutherischer Tradition – zugleich auch die Rolle des Erzählers. (Auf höchst interessante Weise findet sich das Modell mündlichen Erzählens für Kinder im Familienkreis z. B. auch verwendet in E. T. A. Hoffmanns Märchen „Nußknacker und Mausekönig“. ) Er ist jedoch ein Erzähler besonderer Art, indem er eine imponierende Doppelfunktion übt: einerseits nämlich als Hausvater (d. h. oberste Autoritätsperson der patriarchalisch strukturierten bürgerlichen Kernfamilie) , andererseits als auktorialer Erzähler einer Geschichte. Beide Funktionen bedingen und stützen einander natürlich: nur der Hausvater vermag überzeugend den allwissenden Erzähler zu verkörpern, der hier seine Autorität von diesem mustergültigen Repräsentanten des Vaterprinzips entlehnt. Als solcher vertritt er die Sprecherinstanz des ursprünglich in der realen mündlichen Erzählsituation auch leiblich gegenwärtigen Erzählers, zu dessen Privilegien es gehört, auf alle unvorhersehbaren, aus der jeweiligen Zuhörersituation sich ergebenden Wendungen reagieren zu können. Zwar findet sich dieser Typus von Erzähler als rezeptionslenkende (moralische) Instanz und Bestandteil der literarischen Fiktion in Texten des ausgehenden 18. Jahrhunderts nicht selten; jedoch erscheint er nirgends mit derartigen Vollmachten und einer so erdrückenden Dominanz ausgestattet wie in Campes „Robinson der Jüngere“.
Sieht man sich die von Campe hier zugrunde gelegte musterhafte Erzählsituation genauer an, so lassen sich in ihr Spuren älterer Situationstypen mündlichen Erzählens entdecken. Sie haben jedoch einen bezeichnenden Funktionswandel durchgemacht. Eine solche Spur wird gleich zu Beginn der Rahmenerzählung sichtbar, wenn es heißt, es sei in der familienförmig angelegten Erziehungs- und Lebensgemeinschaft, aus der sich die abendliche Erzählrunde jeweils rekrutiert, Brauch und Bedürfnis gewesen: „Während der Arbeit und nach vollendetem Tagewerke, wünschte jeder von ihnen auch etwas zu hören, welches ihn verständiger, weiser und besser machen könnte. Da erzählte ihnen dann der Vater, bald von diesem, bald von jenem, und die kleinen Leute alle hörten gern und aufmerksam zu.“ (Campe, S. 5; nebenbei bemerkt, wird auch hier wieder der Modus des „aufmerksamen“ Zuhörers betont.)
Solches Erzählen steht – einmal abgesehen von seiner explizit moralischen Zielsetzung – in einem betonten Zusammenhang mit Arbeitssituationen. Laut Campe wird sowohl „während der Arbeit“ als auch „nach vollendetem Tagewerke“ erzählt. Wie die Eingangspassage aus Campes Robinsonbearbeitung deutlich erkennen lässt, unterscheiden sich die in seinem Falle die Arbeit begleitenden Erzählungen zunächst einmal schon rein inhaltlich von jenen „Narren-Possen“, mit deren Vortrag das arbeitende Hausgesinde bei Beer unterhalten wird. Mit derlei volkstümlichem Erzählgut die Arbeit zu versüßen, galt einem bürgerlichen Pädagogen des 18. Jahrhunderts als mindestens ebenso schädlich und verwerflich wie nachlässiges Arbeiten oder gar Faulenzen.
Darüber hinaus gibt es jedoch zwischen jener älteren und der bei Campe zugrunde gelegten Erzählsituation noch bezeichnende strukturelle Unterschiede. Sie betreffen das Verhältnis von Erzählkommunikation und Arbeitsprozess.
Im Falle der Geschichte von dem jüngeren Robinson handelt es sich um eine „Abenderzählung“, wie Campe sie nennt, die nach „vollendetem Tagewerke“ stattfindet. Dies deutet darauf hin, dass solchem Erzählen in der familiären Runde einerseits durchaus noch etwas Lustvoll-Genußreiches anhaftet. Das Erzählen erweist sich hier nämlich zugleich auch als Erfüllung eines Wunsches der Kinder:
„Aber bald hätte ich vergessen, dir (d. h. dem Leser, der hier direkt angesprochen wird, Anm. d. Verf.) zu sagen, was vorher ging, ehe diese Erzählung ihren Anfang nahm. <Wilst du uns nicht wieder was erzählen, Vater?> fragte Gottlieb an einem schönen Sommerabend. <Gern!> war die Antwort; <aber es wäre schade, einem so herrlichen Abend nur durch die Fenster zuzusehen. Komt, wir wollen uns im Garten lagern!> <0 das ist schön, das ist schön!> riefen Alle; und so ging’s in vollen Sprüngen zum Hause hinaus“ (Campe, S. 19).
Andererseits wird aber auch rasch klar, dass dieses Erzählen keinesfalls in erster Linie gesellig-unterhaltenden Zwecken dient, zum Zeitvertreib oder der Steigerung des Genusses wegen unternommen wird, wie dies bei den zwanglos sich zusammenfindenden Erzählrunden bei Tisch, auf Reisen oder nach Feierabend sonst üblich war. Die ursprünglich in solcher Erzählkommunikation sich bildende „Lustige Gesellschaft“ ist bei Campe von vornherein gewandelt zur idealtypischen bürgerlichen, familien-förmig-privatisierten Erziehungs- und Lebensgemeinschaft. Das Erzählen im Familienkreis erweist sich dabei als eine auf angenehme Weise gemeinschaftsbildende Veranstaltung, die jedoch nicht zuletzt wegen ihrer „erzieherischen“ Möglichkeiten geschätzt wird. Außerdem tritt bei Campe an die Stelle des zwanglos-geselligen Arrangements vorbürgerlicher Erzähler-Hörer-Runden eine von vornherein sehr bewusst pädagogisch organisierte Situation, deren beherrschendes Zentrum der Erzähler- Vater bildet. (Seiner Rolle haftet noch etwas von jener Aura an, die Benjamin dem Erzähler ursprünglich zuerkennen möchte, wenn er schreibt: „So betrachtet geht der Erzähler unter die Lehrer und Weisen ein. Er weiß Rat – nicht wie das Sprichwort: für manche Fälle, sondern wie der Weise: für viele“ (Benjamin II, S. 464). Allerdings ist Campes Erzähler-Vater schon erheblich geprägt vom Gestus des Pädagogen, der die Aura des Weisen zumal zerstört. Wir finden in der Erzählrunde Campes also ein hierarchisches Element, das den meisten älteren Erzählsituationen fremd war. Dort verstand sich der Erzähler oder Vorleser in der Regel lediglich als Mittler, der den Sinn seines Tuns darin erfüllt sah, zur Unterhaltung seiner Zuhörer, zu ihrem Wohlbefinden, ihrer Erleichterung beigetragen zu haben (was „Belehrung“ in einem unaufdringlichen Sinne keineswegs auszuschließen brauchte), und der nach Beendigung seiner Erzählung wieder in ihren Kreis zurücktrat, um nun gegebenenfalls selber zum Zuhörer zu werden.
Wie bereits angedeutet, greift die bürgerlich-pädagogisierende Umfunktionierung einer ursprünglichen mündlichen Erzählsituation bei Campe weit hinein in das Verhältnis von Erzählen und Arbeiten. Ehe der Vater mit seiner Geschichte beginnt, richtet er an die vor Erwartung ganz aufgeregten Kinder (aber auch indirekt an die beiden zuhörenden Erwachsenen: die Mutter und einen Freund der Familie) die Frage:
„Aber, was denkt ihr denn zu machen unter der Zeit, dass ich euch erzähle? So ganz müßig werdet ihr doch wohl nicht gern da sizzen wollen?“ (Campe, S. 20).
Angesichts dieser starken moralischen Nötigung von seiten des Vaters, der die Ausübung seines Erzählermonopols an das entsprechende Wohlverhalten der Kinder knüpft, übernehmen diese alle eine nützliche Handarbeit. Im Gegensatz zu jenen Situationen, in denen das Erzählen oder Vorlesen während eines Arbeitsprozesses begleitende oder erleichternde Funktion hat, ist es hier ausdrücklich Hauptsache. Es hat – wie der weitere Verlauf zeigt – entschieden den Charakter einer Unterweisung; d. h. die Zuhörer sollen sich voll auf den Inhalt der Erzählung konzentrieren, ihr „aufmerksam“ folgen und darüber hinaus noch etwas Nützliches mit ihren Händen tun. Ich sehe darin einen Beitrag zur Gewöhnung der Kinder an ein Grundprinzip bürgerlicher (Zeit-) Ökonomie: Zeit ist Geld, man lasse keine Minute ungenutzt, im Blick auf Erwerbsmöglichkeiten „unproduktiv“ verstreichen. Es geht um die möglichst umfassende Mobilisierung brachliegender Arbeitskapazitäten. Dabei findet dann etwas für die bürgerliche Sozialisation sehr Bezeichnendes statt: die Trennung von Kopf und Körper. Während nämlich in vor- und auch noch frühbürgerlichen Formen mündlichen Erzählens meist beides gleichzeitig mit „Stoff“ versorgt wurde (was im Falle des Erzählens in geselliger Tisch- oder Zechrunde durchaus im Doppelsinn zu verstehen ist), wird in Campes pädagogischem Erzählarrangement entschieden Vorsorge dafür getroffen, dass der zuhörende Kopf sich vom derweil mechanische Arbeit verrichtenden Körper emanzipiert. Während die Hände mehr oder weniger selbsttätig vor sich hinwerken, wird er mit Material zum Nachdenken versorgt, angesprochen und sozialisierend gewissermaßen „besprochen“. Auch das angenehme räumliche Ambiente der Erzählsituation: Abendstimmung mit Sonnenuntergang, der schöne Apfelbaum im Garten, dient weniger der Erzeugung eines lustvollen körperlichen Effektes (wie das bequeme Sitzen in geselliger Tischrunde) als vielmehr dem Hervorrufen eines seelischen Effektes: der Stimmung der Geneigtheit und „Öffnung des Herzens“ für die guten und nützlichen Lehren der Erzählung. Dies spricht Campe auch klar in der Vorrede zu seinem Buch aus.
3. Vom Erzählen-Hören zur einsamen Privatlektüre
Natürlich folgen bürgerliche Umfunktionierungen älterer mündlicher Erzählsituationen nicht immer einem derart rigoros und bewusst gehandhabten Pädagogisierungswillen, einem so expliziten Sozialisationskalkül, wie dies in Campes Text der Fall ist. Ein Vergleich mit anderen, gleichfalls literarischen Zeugnissen für die seit Ende des 18. Jahrhunderts rasch fortschreitende Wandlung älterer Formen und Situationen mündlichen Erzählens im Zuge ihrer Literarisierung lässt allerdings immer wieder gewisse Gemeinsamkeiten erkennen. Sie bilden den Kern dessen, was ich als „Verbürgerlichung“ bezeichnen möchte. Worin dieser Verbürgerlichungsprozess sich neben der eben beschriebenen Familiarisierung und Pädagogisierung des Erzählens äußert, sei im folgenden anhand weiterer Beispiele dargelegt.
In Eichendorffs Roman „Ahnung und Gegenwart“ (1815) findet sich eine hierfür aufschlussreiche Szene. Der Held Friedrich erzählt von einem Kindheitserlebnis am Ende seiner ausgedehnten Gebirgswanderung, bei der er sich verläuft:
„Es war schon dunkel geworden und meine Angst nahm mit jeder Minute zu. Da erblickte ich seitwärts ein Licht; ich ging darauf los und kam an ein kleines Häuschen. Ich guckte furchtsam durch das erleuchtete Fenster hinein und sah darin in einer freundlichen Stube eine ganze Familie friedlich um ein lustig flackerndes Herdfeuer gelagert. Der Vater, wie es schien, hatte ein Büchelchen in der Hand und las vor. Mehrere hübsche Kinder saßen im Kreise um ihn herum und hörten, das Köpfchen in beide Arme aufgestützt, mit der größten Aufmerksamkeit zu, während eine junge Frau daneben spann und von Zeit zu Zeit Holz in das Feuer legte. Der Anblick machte mir wieder Mut, ich trat in die Stube hinein (. ..) Der Vater setzte unterdes, da ich darum bat, seine Vorlesung wieder fort. Die Geschichte wollte mich bald sehr anmutig und wundervoll bedünken. Mein Begleiter stand schon lange fertig an der Tür. Aber ich vertiefte mich immer mehr in die Wunder; ich wagte kaum zu atmen und hörte zu und immer zu und wäre die ganze Nacht geblieben, wenn mich nicht der Mann endlich erinnert hätte, dass meine Eltern in Angst kommen würden, wenn ich nicht nach Hause ginge. Es war der gehörnte Siegfried, den er las“ (Eichendorff, Bd. 2, S. 583).
Als erstes fällt wohl die schon fast ins Genrebildhafte gehende Familiarität dieser Erzählsituation (Vorlesesituation) auf. Zugleich hat die völlig in sich abgeschlossene Kernfamilie noch Reste der älteren Erzählsituation „Spinnstube“ in charakteristischer Umgewichtung der Bedeutung des Arbeitsvorganges aufgenommen: wir erfahren, dass die Frau während der Vorlesung des Mannes spinnt. Die übrigen anwesenden Familienmitglieder, die Kinder, hören nur „mit der größten Aufmerksamkeit“ zu. (Auch hier wiederum wird diese Rezeptionshaltung eigens hervorgehoben.) Überhaupt dominiert das Aufnehmen der vorgelesenen Erzählung. Die Innigkeit und Andacht, mit der hier dem Vorlesen eines sogenannten Volksbuches zugehört wird, würde man eigentlich eher im Zusammenhang mit einem geistlichen oder sonstigen Erbauungsbuch erwarten. D. h. dieses „Volksbuch“ wird – was u. a. auch mit den spezifischen Interessen der Romantik an volkstümlichen literarischen Traditionen zusammenhängt – bei Eichendorff zum Gegenstand einer typisch bürgerlichen Rezeption. Im Grunde handelt es sich um die Situation einer in den Familienkreis verlagerten „einsamen Privatlektüre“; denn jeder der Zuhörer verharrt gewissermaßen für sich in monadischer Abgeschiedenheit. D. h. die Teilnehmer an dieser Runde bilden keine Gruppe, sondern eine Ansammlung von in sich versunkenen Zuhörern. (Eben hierin gIeichen sie dem Leser eines Buches, der – wie Ernst Bloch es formuliert -„selber einsam ist“; und dies, obwohl sie doch dem Vortragenden „hörend gegenüber (sitzen) (. ..) als Gruppe wie in der Spinnstube“ (Bloch, S. 560).
Im Mittelpunkt steht der den Text als Text vortragende Vater. Dieses Arrangement schafft schon für sich genommen Distanz unter den Hörern; ganz im Gegensatz zu genuinen mündlichen Erzählsituationen, in denen gedruckte Texte, sofern sie als Erzählvorlage dienten, vom jeweiligen Erzähler nach den Bedürfnissen der Erzählgemeinschaft variiert werden konnten und sogar ausdrücklich den jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden sollten.
Das Fehlen unmittelbarer Kommunikation unter den Hörenden, etwa durch Gebärden, Blickkontakt, körperliche und andere Reaktionen, bildet die Voraussetzung des konzentrierten Zuhörens. Alles erscheint dem Primat der gewissermaßen reinen Rezeption unterstellt. Man könnte auch sagen: diese Zuhörer in Eichendorffs Genrebild lesen den ihnen vorgetragenen Text sozusagen mit ihren Ohren.
Zum Kontrast sei hier eine Vorlesesituation angeführt, die von Johann Beer geschildert wird. Sie ist im Milieu des Kleinadels des 17. Jahrhunderts angesiedelt:
„Diese Nacht wechselten die Wächter ab, und kamen an statt des Küchen-Hansels und des Stallknechts der Gutscher und der Koch, unter diesen hatte jeder die Nacht 12 Kreutzer Wacht-Geld samt 2 Becher vom besten Wein, dann er verbrachte mit ihnen seine meiste Zeit, weil er bald von dies, bald von jenem discurirte, bald musten sie ihme auch aus den Historien und andern kurtzweiligen Schrifften gantze Geschichten daherlesen, und weil der Alte ein sehr lustiger Mann war, lachte er offt von Hertzen über die vorfallenden Schnacken und Begebenheiten, bißweilen musten sie ihme Historien aus dem Kopf erzehlen, da kamen sie dann aufgezogen mit der schönen Melusine, vom Ritter Horn mit dem höltzern Schwerdt, von Kayser Octaviano und den sieben weisen Meistern, uber welches sich der Patient absonderlich ergötzet, dann die Leute brachten es mit einer solchen Andacht vor, gleich als wären sie selbst dabey gewesen und hätten alles mit ihren Augen angesehen“ (Moser-Rath, S. 74).
Auffallend ist, in welchem Maß der Hörer hier von dem Vorgelesenen bzw. „aus dem Kopf“ Erzählten affiziert wird und sich dabei auch keinen Zwang antut. Die kleine Erzählrunde um den alten Krautjunker ist vielfältig, wohl auch körperlich in Aktion. Jedenfalls erweckt Beers Schilderung den Eindruck einer Situation voller Lebendigkeit und Ungezwungenheit.
Demgegenüber dann die aufs reine Zuhören beschränkte Familienrunde bei Eichendorff! Selbst die Handgriffe der Frau beim gelegentlichen Holznachlegen und auch ihre Spinnarbeit machen die Situation des gemeinsam-einsamen Zuhörens nicht sinnlich-körperlicher. Die vom Vater zu Gehör gebrachte Erzählung lebt nur in den Köpfen und Herzen der Zuhörenden. Sie stiftet keine gesellige Ringkommunikation, sondern im strengen Sinn nur ein unabhängiges Nebeneinander von gewissermaßen „dyadischen“ Kommunikationen zwischen dem vorlesenden Vater und jedem seiner Zuhörer. Ihr wesentliches Merkmal ist ihre Exklusivität wie Intimität.
Diese Rezeptionshaltung gegenüber hörend oder lesend aufzunehmendem Erzählen ist historisch neu. (Im übrigen betrifft dies über die Literatur hinausgehend etwa auch die bürgerliche Musikrezeption. So könnte man sich Eichendorffs Zuhörerkreis mühelos auch im Zusammenhang einer Musikdarbietung vorstellen. D. h. wir haben es hier mit einer idealtypischen Grundstruktur „bürgerlicher“ Kunstrezeption zu tun.) Ihr primärer Entfaltungsraum, ihr erstes Übungsfeld ist die den älteren Sozialtypus des „ganzen Hauses“ mit seinen vielfältigen, öffentlich-promiskuitiven Beziehungsmöglichkeiten ablösende moderne bürgerliche Kernfamilie mit ihrer starken Tendenz zu privater Abschließung und Intimisierung (vgl. Aries, S. 546ff).
Innerhalb dieser neuen Familienstruktur existiert eine fundamentale Beziehung, in der ich die soziale Matrix für das bei Eichendorff bezeugte intimisierte Rezipieren sehe. Diese Beziehung wird uns in einer Reminiszenz an eine typische kindliche Erzählsituation vor Augen geführt, die der Schriftsteller Wolfgang Koeppen mitgeteilt hat:
„Meine Mutter liebte Märchen und wurde, während sie mir Märchen erzählte, selber zu einer Gestalt der Märchenbücher, Scheherazade der Tausend-und-eine-Nacht. Ich sehe das als Winterbild. Die Sommer waren intensiv, die Winter sehr kalt. Stille Abende von Oktober bis April. Kaum dass ein Käuzchen schrie. Schnee deckte uns ein. Meine Mutter saß, in einen Schal gehüllt, vor der Nacht des Fensters, wenn Mond war vor der silbernen Mauer des Frostes. Ihr Gesicht, die aufgeschlagene Schrift, auch ich, wir waren eins im sanften Schein einer Büroleuchte mit grünem Schirm und einem schönen Kranz gelber Perlen. Geborgen in einem Zelt. Draußen mochte Wüste sein, der Pol der Polarforscher, wo sie starben, bevor sie ihn erreichten. Die Welt war voller Gefahren. Ich hing an den Lippen meiner Mutter. Ich war vier Jahre alt. Meine Mutter schenkte mir Aladins Wunderlampe. Ich besitze sie noch. Ich habe sie nie verloren“ (UnseId, S. 34).
Hier ist das mündliche Erzählen bzw. das Vorlesen nun bis auf das für die bürgerliche Familie ursprünglichste Grundmuster zurückgeführt: die Mutter-Kind-Beziehung als fundamentale Sozialisationserfahrung des Kindes. Der besondere Charakter dieser Beziehung, ihre Innigkeit und Innerlichkeit, ihre Nähe und wechselseitige Hingabe, auf Grund deren man sie auch als „symbiotisierend“ bezeichnen könnte, prägt und trägt das Aufnehmen des von der Mutter Vorgelesenen. Und diese Prägung hält – wie Koeppen ausdrücklich sagt – ein Leben lang. Es ist kein Zufall, dass die wesentlich auch auf den Wandlungen der Mutter-Kind-Beziehungen beruhende Rezeptionshaltung, wie ich sie im vorigen nachzuzeichnen versuchte, sich mit der Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert auszubreiten beginnt. Neuere Forschungen haben nachzuweisen vermocht, mit welch wahrhaft revolutionären Folgen für die Kulturisation der nachwachsenden Generationen es verbunden war, dass die Mutter im Lauf des 18. Jahrhunderts ins Zentrum der Primärsozialisation rückte. Es entstehen neue Verhaltensprofile der Menschen: es entsteht das, was man im umfassenden Sinne das „bürgerliche Kindheitsschema“ (Rudolf Kreis) genannt hat.
Ein Bestandteil dieses neuen Sozialisationssyndroms ist dann die bei Eichendorff wie – noch 100 Jahre später – bei Koeppen bezeugte Disposition zu oder besser: das Bedürfnis nach exklusiver, nach intimisiert-dyadischer Rezeption. Vor allem im Schoß der bürgerlichen Familie wird der mit dem „Herzen“ hörende und später selbst mit Vorliebe in stiller Abgeschiedenheit lesende Rezipient herausgebildet, dem Walter Benjamin in seinen beiden Prosastücken „Schmöker“ bzw.. „Lesendes Kind“ ein bewunderungswürdiges Denkmal gesetzt hat (Benjamin, IV, S. 275). (In „Schmöker“ heißt es, die „linde Schmökerluft“ habe diese Geschichten „so unwiderstehlich meinem Herzen“ eingeschmeichelt.) Ihm ist das Erzähltbekommen bzw. Selbererzählen in geselliger Runde nur mehr von untergeordneter Bedeutung. Das heißt nicht, dass er nicht mehr erzählen würde! Er bedient sich nur in der Regel eines anderen Mediums, einer anderen Kommunikationsweise, nämlich – wie Bloch es so treffend formuliert -„der schweigsam, mit einsamer Akribie formenden literae – Arbeit am Schreibtisch, für den gelesen sich mitteilenden Druck“ (Bloch, S. 560).
In jener exklusiven, „dyadischen“, der bürgerlichen Erzähl- und Re-zeptionssituation par excellence – ganz gleich, ob sie nun zwei oder beliebig viele Partner umfasst – ist die Auflösung der älteren Formen mündlicher Erzählkommunikation bereits angelegt. Dies lässt sich gerade auch an einer heute geläufigen Kommunikationssituation nachweisen, die auf den ersten Blick noch sehr viel mit den Möglichkeiten eines „ganzheitlichen“ Genusses zu tun hat, wie er typisch für das Erzählen in essender und trinkender Tischrunde war: dem Fernsehen nämlich; und zwar besonders bei Sendungen mit einem hohen Anteil an mündlichen Erzählakten (etwa Unterhaltungssendung, Spielfilm). So wird zwar üblicherweise während des Ansehens solcher Sendungen gegessen und getrunken; gleichwohl bleiben diese körperlichen Akte dem eigentlichen Rezeptionsakt äußerlich; der Primat liegt in dieser Situation beim unverwandten Sehen und Hören, das eben im „Kopf“ des Aufnehmenden konzentriert ist. In der Tat lässt sich ja auch beobachten, wie sehr das Essen und Trinken hierbei mechanisch nebenher läuft, während es im Falle einer ursprünglichen Erzählrunde vielfältig mit den Wirkungen der physischen Präsenz ihrer Teilnehmer, ihrer mimischen, gestischen, verbalen Kommunikation verwoben war. Insofern erweist sich auch diese scheinbar so genussunmittelbare Kommunikationssituation noch als ein Abkömmling jener „verbürgerlichten“, intimisierend entsinnlichten Erzählarrangements. Zwar dürften sie im Alltag bürgerlicher Rezeption kaum je derart idealtypisch funktioniert haben, wie dies in den angeführten literarischen Verarbeitungen entworfen wurde: dennoch können auch sie als eine der Schulen des modernen vereinsamten „Kopf“- Rezipienten gelten.
Literatur:
- Ph. Aries: Geschichte der Kindheit, München 1975
- Elisabeth Badinter: Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jh. bis heute, München 1981
- Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: W. B. , Gesammelte Schriften; Bd. 2, Frankfurt 1977
- Walter Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert und: Einbahnstraße, beide in: W. B. , Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt 1977
- Ernst Bloch: Gesprochene und geschriebene Syntax. Das Anakoluth, in: E. B., Gesammelte Schriften, Bd. 9, Frankfurt 1965
- Julius Bruhns: „Es klingt im Sturm ein altes Lied.“ Aus der Jugendzeit der Sozialdemokratie, Stuttgart/Berlin 1921
- J. H. Campe: Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder, nach dem Erstdruck hg. von A. Binder und H. Richartz, Stuttgart 1981
- J. v. Eichendorff: Werke in 4 Bänden, hg. von W. Rasch, Bd. 2, München 1981
- Wilhelm Harnisch: Mein Lebensmorgen, Berlin 1865
- Wilhelm Hauff: Das Wirtshaus im Spessart, in: Wilhelm Hauffs Werke, hg. von F. Bobertag, Bd. 3.1, Stuttgart 0. J.
- Friedrich A. Kittler: Dichtung als Sozialisationsspiel, in: F. A. Kittler/ G. Kaiser: Dichtung als Sozialisationsspiel, Göttingen 1978
- Rudolf Kreis: Die verborgene Geschichte des Kindes in der deutschen Literatur, Stuttgart 1980
- Elfriede Moser-Rath: Gedanken zur historischen Erzählforschung. Zeitschrift für Volkskunde 69/1973
- Hans Trümpy: Theorie und Praxis des volkstümlichen Erzählens bei Erasmus von Rotterdam. Fabula 20/1979
- Siegfried Unseld (Hg.): Erste Leseerlebnisse, Frankfurt 1975
- Zschokkes Werke, hg. von H. Bodmer, Teil1, Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart 1910
- (Zuerst erschienen in: Johannes Merkel/ Michael Nagel: Erzählen – Die Wiederentdeckung einer vergessenen Kunst, Reinbek 1982 s. 156-171)