Meine Geschichte handelt von Zwillingen, einem Jungen und einem Mädchen, die beide außergewöhnliche Begabungen hatten. Der Junge musste nur durch die Finger schauen und schon konnte er durch jede Wand sehen, gleichgültig, aus welchem Material sie gebaut und wie dick sie war. Und das Mädchen brauchte nur mit den Armen zu rudern und schon konnte sie durch jede Wand gehen, als bestünde sie nur aus Luft.
Leider verstanden sich die beiden gar nicht gut. Sie stritten sich nämlich ständig, wer von ihnen die erstaunlichere Begabung hatte, sie oder er.
1.
Zum Beispiel gingen diese Zwillinge eines Tages einen Waldweg entlang. Da trat die Schwester auf etwas Hartes.
„Ich hab was unter der Schuhsohle gespürt,“ sagte sie zu ihrem Bruder.
„Na und? Wird eben ein Steinchen sein,“ meinte der Junge.
„Nein, das fühlte sich anders an,“ fand das Mädchen. Mit einem Stöckchen lockerte sie an der Stelle die Erde und grub einen rostigen Schlüssel aus.
„Schmeiß das weg!“ meinte der Junge.
„Warum? Vielleicht finde ich noch das Schloss für diesen Schlüssel.“ Damit steckte sie den rostigen Schlüssel in die Tasche.
Als sie weitergingen, blickte ihr Bruder plötzlich durch die Finger, lief zu einer viereckigen Steinplatte und versuchte sie wegzuschieben. Allein schaffte er das nicht und er rief die Schwester.
„Was willst du denn mit dem Stein?“ fragte sie.
„Frag nicht und hilf mir!“
Sie dachte nicht daran, ihm zu helfen, ohne dass er ihr verriet, was er entdeckt hatte.
„Da drunter liegt ein alter Keller. Die Platte deckt einen Lüftungsschacht ab.“
Na gut, sie half mit und sie konnten die Steinplatte beiseiteschieben. Der Bruder rief in den Schacht und seine Stimme kam daraus hohl und dumpf zurück.
„Was siehst du denn in dem Keller?“ fragte die Schwester.
Statt zu antworten versuchte er durch die Öffnung in den Keller einzusteigen. Leider war sie zu eng, um sich durchzuzwängen und darum erklärte er ihr: „Da unten liegt eine alte Kiste. Die will ich mir anschauen.“
„Warum sagst du das nicht gleich?“ meinte die Schwester. Sie lief eine Böschung hinab, entdeckte eine Kellertür, ruderte mit den Armen und drang durch die geschlossene Tür in den alten Keller ein. Tatsächlich lag dort auf dem Boden des Kellers eine verbeulte Blechkiste.
„Hast du sie gefunden?“ fragte der Bruder durch den Lüftungsschacht.
„Ja. Aber sie ist abgeschlossen.“
Der Junge streckte beide Arme durch den Lüftungsschacht: „Gib sie mir hoch!“
Sie hob die Kiste, bis er sie mit den Händen erreichte.
Als sie sich wieder nach draußen gerudert hatte, stand ihr Bruder vor der Kiste und klopfte mit einem Stein auf das Schloss, aber es hielt stand, er kriegte es nicht auf.
„Was ist denn in der Kiste?“ fragte ihn die Schwester. Aber der Junge wollte ihr noch immer nichts verraten. Er suchte sich einen dickeren Stein, hob ihn hoch und ließ ihn auf die Kiste krachen. Sie bekam eine neue Beule, aber sie ging noch immer nicht auf.
„Warte!“ sagte das Mädchen.
Könnt ihr euch denken, was sie machte?
Sie holte den verrosteten Schlüssel aus der Tasche, steckte ihn ins Schloss, und was passierte? Der Deckel sprang auf.
In der Kiste lag eine Hand voll alter Münzen. Die brachten sie zu einem Münzhändler, der ihnen für die zweihundert Jahre alten Münzen hundert Euro zahlte.
Da begannen die Beiden sich zu streiten. Der Junge behauptete: „Das Geld gehört mir! Wer hat denn entdeckt, dass die alte Kiste voller Münzen steckt?“
„Wer hat denn den Schlüssel gefunden? Und wer hat die Kiste aus dem Keller geholt?“ protestierte die Schwester.
Die Zwillinge konnten sich nicht einigen, sie stritten sich laut und heftig. Als eine Oma vorbeikam und fragte, warum sie sich streiten, baten die Zwillinge sie zu entscheiden, wer von ihnen das Geld kriegen soll.
Die Oma überlegte:
Sollte sie die 100 Euro ihm oder ihr geben? Oder sollte sie beiden davon geben, aber ihm mehr als ihr, weil er die Kiste im Keller entdeckt hatte? Oder ihr mehr als ihm, weil sie die Kiste aus dem Keller geholt hatte?
Beide redeten sie auf die Oma ein, dass sie davon ganz wirr im Kopf wurde. Schließlich meinte die alte Frau: „Dann macht ihr eben einen Wettlauf bis zu der alten Eiche da hinten, und wer sie zuerst erreicht, der kriegt das ganze Geld.“
Da rannten sie beide los. Und was passierte? Weil sie Zwillinge waren, waren sie eben gleich schnell und kamen gleichzeitig an.
Wem sollte die alte Dame jetzt das ganze Geld überlassen? Ihm oder ihr?
Wie hättet ihr anstelle der Oma entschieden?
Hättet ihr ihm das ganze Geld überlassen oder ihr?
Oder hättet ihr es zwischen beiden geteilt?
Und wieviel hättet ihr dann ihm, und wieviel ihr zugesprochen?
2.
Ein anderes Mal gingen die außergewöhnlichen Zwillinge in einen Supermarkt, sahen dort Verkäuferinnen aufgeregt die Regale durchsuchen, und zwischen ihnen stand eine Frau und jammerte: „Es ist ein Familienerbstück! Es ist unersetzlich! Ich muss es wieder haben!“
Was ging da vor sich? Eine Verkäuferin erklärte ihnen, dass der Frau gerade eine wertvolle Kette vom Hals gesprungen war, als sie sich ausstreckte, um einen Artikel ganz oben aus einem Regalfach zu greifen.
„Beruhigen Sie sich doch!“ redete der Abteilungsleiter des Supermarktes auf die Frau ein. „Wir tun ja, was wir können. Wir werden Ihren Schmuck schon wieder finden.“
Aber als der Junge durch die Finger schaute, flüsterte er seiner Schwester zu: „Der lügt. Der hat sich die Kette geschnappt, die steckt in seiner Hemdtasche.“
Kurz darauf verschwand der Abteilungsleiter in seinem Büro. Durch die Wand beobachtete der Bruder, dass er die Kette in seiner Schreibtischschublade verschwinden ließ. Danach kam er gleich wieder aus dem Büro, sperrte die Bürotür sorgfältig ab und tat so, als würde er weiter nach der Kette suchen.
Da ruderte die Schwester mit den Armen, schlüpfte ins Büro, holte die Kette aus der Schublade, kam zurück und rief: „Ich hab sie! Ich hab sie gefunden!“ Und damit brachte sie der Frau die verlorene Kette.
Der Abteilungsleiter starrte sie an, aber er wagte nichts zu sagen. Die Frau war überglücklich. „Ach Kinder,“ sagte sie, „ihr wisst gar nicht, was ihr mir da für eine Freude macht! Dafür möchte ich mich aber auch erkenntlich zeigen.“
Zur Belohnung versprach sie den Beiden 200 Euro. Und schon waren die beiden wieder am Streiten.
„Mir gehört die Belohnung!“ rief der Junge. „Ich hab gespannt, dass der Kerl die Kette gemopst hat.“
„Aber wer hat sie aus dem Büro geholt? Mir gehört die Belohnung!“ rief das Mädchen.
Da war die gute Frau ratlos:
Sollte sie die 100 Euro ihm oder ihr geben? Oder sollte sie beiden davon geben, aber ihm mehr als ihr, weil er die Kette in der Hemdtasche des Geschäftsführers gesehen hatte? Oder ihr mehr als ihm, weil sie durch die Wand gegangen war, um die Kette zu holen?
„Hört auf zu streiten!“ entschied die Frau. Sie ging mit den Zwillingen auf den Platz vor dem Supermarkt. Dort stand eine Eiche und weit oben in der Krone hatte eine Krähe ihr Nest gebaut. Die Frau holte zwei kleine Tomaten aus ihrer Einkaufstasche und sagte: „Wer von euch die Tomate in das Krähennest werfen kann, der bekommt die ganze Belohnung.“
Da warfen beide eine Tomate nach dem Krähennest. Und was passierte? Weil sie Zwillinge waren, waren sie gleich geschickt, beide Tomaten landeten exakt im Nest. Da wird die Krähe nicht schlecht gestaunt haben, als sie plötzlich zwei rote Eier in ihrem Nest entdeckte.
Die gute Frau aber war völlig verwirrt. Wem sollte sie jetzt das ganze Geld überlassen? Ihm oder ihr?
Wie hättet ihr anstelle der guten Frau entschieden? Hättet ihr ihm das ganze Geld überlassen oder ihr? Oder hättet ihr es zwischen beiden geteilt? Und wieviel hättet ihr dann ihm, und wieviel ihr zugesprochen?
3.
Eines Morgens kamen die beiden an einem Zeitungskiosk vorbei, da hing eine Zeitung mit der Schlagzeile: SCHNELLSTER WINDHUND DER WELT GESTOHLEN!
Das Mädchen blieb stehen und las den Artikel auf der ersten Seite:
„Heute pünktlich um 12 Uhr startet das größte Hunderennen der Welt. Leider ohne den schnellsten Windhund der Welt! Der rasende Harras, wie er genannt wird, wäre der absolute Favorit dieses Rennens. Leider verschwand er gestern Nacht auf ungeklärte Weise. Fassungslos stand der Hundehalter am Morgen vor dem Zwinger. Ihm wurde nicht nur ein wertvolles Tier gestohlen. Er muss auch den Siegespreis von einer Viertelmillion in den Wind schreiben.
Aufgepasst! Wer den wertvollen Windhund findet oder Hinweise auf den Dieb geben kann, erhält zur Belohnung 2000 Euro!“
„Was musst du den Quatsch lesen!“ meinte der Junge und zog seine Schwester vom Kiosk weg. Beim Weitergehen begegnete ihnen ein Mann, der einen riesigen Koffer auf den Schultern trug.
„Komisch!“ dachte der Junge. „Wie der seinen Koffer trägt!“ Er schaute durch die Finger. Dann flüsterte er: „Weißt du, was der in seinem Koffer hat? Einen Hund.“
„Lebt er oder ist er tot?“ fragte das Mädchen.
„Er rührt sich nicht, aber er atmet.“
Da folgten die beiden dem Kofferträger. Drei Straßen weiter verschwand er in einem Hotel.
„
Was treibt er denn da drinnen?“ fragte die Schwester.
Der Junge schaute durch die Finger: „Er nimmt sich ein Zimmer. Warte, vielleicht kann ich auch seine Zimmernummer erkennen. Genau, es ist die 534.“
Die beiden passten einen Augenblick ab, in dem die Rezeption nicht besetzt war, schlichen sich ins Hotel, nahmen den Aufzug in den fünften Stock und suchten das Zimmer 534.
„Was treibt der Kerl denn jetzt?“ fragte die Schwester.
Der Bruder schaute wieder durch die Finger und sagte: „Der packt den Koffer in den Kleiderschrank und jetzt holt er sein Handy raus.“
„Das hör ich mir an!“ Die Schwester ruderte mit den Armen und drückte sich durch die Wand in das Bad des Hotelzimmers.
Durch die halb offene Badetür konnte sie den Kerl beobachten, der ins Telefon redete und dabei ein Taschentusch vor den Mund hielt, um seine Stimme zu verstellen. „Das ist die letzte Warnung! Entweder Sie hinterlegen bis 24 Uhr eine Viertelmillion am vereinbarten Versteck. Oder wir machen aus ihrem weltberühmten Köter Hackfleisch. Kapiert?“ Danach verließ er das Zimmer.
Die Schwester reagierte blitzschnell: Über das Hoteltelefon bestellte sie ein Taxi, packte den Koffer mit dem Windhund, kam durch die Tür heraus und dann fuhren die Beiden mit dem Aufzug bis zum Parkplatz des Hotels unten im Keller. Dort wartete schon das Taxi. Sie ließen sich zum Hunderennplatz fahren und brachten den schnellsten Windhund der Welt ins Rennbüro. Ein Tierarzt behandelte das Tier, es wachte auf und eine halbe Stunde später rannte der rasende Harras über die Rennbahn. Wie erwartet kam er als erster durchs Ziel.
Damit hatten die beiden Zwillinge sich eine Belohnung von 2000 Euro verdient. Aber schon stritten sie wieder.
„Mir gehört die Belohnung!“ behauptete der Junge. „Wer hat denn den Hund im Koffer entdeckt?“
„Und wer hat den Hund aus dem Hotelzimmer geholt?“ protestierte das Mädchen. „Deshalb gehört die Belohnung mir!“
Der Hundehalter wusste nicht recht, was er dazu sagen sollte. Er überlegte:
Sollte er die 2000 Euro ihm oder sollte er sie ihr geben? Oder sollte er sie besser aufteilen? Aber sollte er ihm dann mehr geben als ihr, weil er den Hund im Koffer entdeckt hatte? Oder ihr mehr geben als ihm, weil sie den Hund aus dem Zimmer geholt und mit dem Taxi zum Rennplatz gebracht hatte?
Das soll entscheiden, wer will! dachte der Hundehalter. Er ging mit den Zwillingen auf die Terrasse des Rennpavillons und zeigte auf eine Fahnenstange, die genau unter der Terrasse stand. Und er sagte: „Wer von euch mit seiner Spucke die Spitze der Fahnenstange trifft, der kriegt die ganze Belohnung.“
Da spuckten die Zwillinge auf die Fahnenstange. Und was passierte? Weil sie Zwillinge waren, trafen sie beide die Spitze der Fahnenstange.
„Ihr spuckt ja beide wie die Weltmeister“, lachte der Hundehalter. Aber er war genauso schlau wie vorher. Wem sollte er nun die Belohnung geben? Ihm oder ihr?
Wie hättet ihr anstelle des Hundehalters entschieden?
Hättet ihr ihm das ganze Geld überlassen oder ihr?
Oder hättet ihr es zwischen beiden geteilt?
Und wieviel hättet ihr dann ihm, und wieviel ihr zugesprochen?
Ich denke, diese Zwillinge werden mit ihren außergewöhnlichen Begabungen noch mehr aufgedeckt und zum Dank dafür noch manche Belohnung kassiert haben. Aber ich fürchte, sie werden sich jedes Mal wieder in die Wolle gekommen sein, wer mit seiner Begabung mehr dazu beigetragen hat als der andere und wem deshalb die ganze Belohnung zusteht.
Sprachlich geht es in dieser Geschichte um die Benutzung der Personalpronomen.
Nach jeder Episode kann man mit den Kindern besprechen, wer der beiden Zwillinge mehr von der Belohnung verdient oder ob sie sich diese teilen sollen.
Am Ende kann man schließlich dazu auffordern, sich neue Abenteuer der Zwillinge auszudenken und wie sie sich wieder um die Belohnung stritten.Diese lange und ausführliche Erzählung lässt aber auch auf ein oder zwei Abenteuer kürzen oder die verschiedenen Abenteuer können in Fortsetzungen erzählt werden.