Die vergessliche Kuh

Mei­ne Geschich­te erzählt, was eine Kuh erleb­te, die lei­der sehr ver­gess­lich war.
Eines Mor­gens trot­te­te sie mit den andern Kühen vom Kuh­stall auf die Wei­de. Da sah sie, dass ein Wei­de­tor offen stand, und statt auf die Wei­de lief die Kuh auf die Stra­ße. Kaum stand die ver­gess­li­che Kuh auf der Stra­ße, hat­te sie schon ver­ges­sen, dass sie eigent­lich eine Kuh war.

Auf der Stra­ße sah sie einen Bau­ar­bei­ter ins Gast­haus gehen und schon lief die ver­gess­li­che Kuh hin­ter ihm in die Gast­stu­be. Der Bau­ar­bei­ter setz­te sich an die The­ke und bestell­te ein Bier.
Und was mach­te die ver­gess­li­che Kuh? Sie setz­te sich neben ihn an die The­ke. Die Kuh beob­ach­te­te, dass der Bau­ar­bei­ter sein Bier­glas hoch­hob und dar­aus trank. Kaum hat­te er es wie­der abge­setzt, lang­te die Kuh nach dem Bier­glas, hob es hoch, indem es das Glas zwi­schen bei­den Hufen fest­hielt und woll­te dar­aus trin­ken.
„Halt, Süße“, rief der Bau­ar­bei­ter, „das ist mein Glas!“ Und riss ihr das Glas zwi­schen den Hufen weg. Und zum Wirt sag­te: „Stell der Dicken ein Glas auf mei­ne Kos­ten hin!“
Da zapf­te der Wirt auch der Kuh ein Glas Bier. Die klemm­te es zwi­schen die Hufe, aber das Glas war vom über­schäu­men­den Bier nass und rutsch­te ihr zwi­schen den Hufen durch, fiel zu Boden, zer­brach und das Bier lief über den Boden.
Davon erschrak die Kuh so sehr, dass ihr plötz­lich wie­der ein­fiel, dass sie ja eigent­lich eine Kuh war und sie lief aus dem Gasthaus.

Aber kaum war sie auf der Stra­ße, hat­te sie schon wie­der ver­ges­sen, dass sie eigent­lich eine Kuh war. Sie kam an eine Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­le, an der gera­de eine Stra­ßen­bahn hielt. Sie bemerk­te, wie Fahr­gäs­te aus­stie­gen und ande­re ein­stie­gen.. Sie stieg auch in die Stra­ßen­bahn ein und setz­te sich auf eine Sitz­bank.
Kaum war die Bahn los­ge­fah­ren, stand ein Mann auf, ging von von einem Fahr­gast zum andern, zeig­te einen Aus­weis und sag­te: „Fahr­schein­kon­trol­le! Ihren Fahr­schein bit­te!“
Die  Kuh beob­ach­te­te, dass die Leu­te dem Kon­trol­lör etwas zeig­ten. Schließ­lich kam der auch bis zur Kuh, schau­te sie etwas komisch an und mein­te: „Ihren Fahr­schein bit­te!“ Da dach­te die Kuh, sie muss ihm auch was zei­gen, des­halb streck­te sie ihre rie­si­ge Zun­ge raus. 
Gegen­über der Kuh saß ein älte­rer Herr und mein­te: „Sehen Sie denn nicht, dass das eine Kuh ist?“
„Auch Haus­tie­re brau­chen einen Fahr­schein. Gehört die zu Ihnen?“ frag­te der Kon­trol­lör.
„Seh ich viel­leicht so aus, als wür­de ich mit einer Kuh spa­zie­ren fah­ren?“ frag­te der Herr zurück.
„Wenn sie kei­nen Fahr­schein hat, hat sie hier nichts zu suchen.“ Der Kon­trol­lör ließ die Bahn anhal­ten und schob die Kuh zur Tür hin­aus.
Da stand sie mit­ten auf der Fahr­bahn, gera­de kam auch ein Auto ange­fah­ren, das mit qui­te­schen­den Brem­sen hal­ten muss­te. Das Quiet­schen erschreck­te die Kuh und da ihr fiel wie­der ein, dass sie doch eigent­lich eine Kuh war.


Aber kaum trot­te­te sie wei­ter die Stra­ße ent­lang, hat­te sie schon wie­der ver­ges­sen, dass sie eigent­lich eine Kuh war. Sie kam an einem Sport­platz vor­bei, wo gera­de ein Fuß­ball­spiel gespielt wur­de. Die Kuh blieb ste­hen und schau­te den Spie­lern zu.
Plötz­lich flog der Ball auf sie zu und klemm­te zwi­schen ihren Hör­nern fest. Da rann­te die Kuh los und lief mit dem Ball zwi­schen den Hör­nern ins Tor.
Der Schieds­rich­ter pfiff und schrie: „Tor“. Aber die Kuh war schon mit­samt dem Ball durch das Netz gerannt und hat­te es zer­ris­sen.
„Fehl­ent­schei­dung! Das gilt nicht!“ rief der Tor­wäch­ter. „Die hat den Ball durch das Tor getra­gen!“
„Wie­so?“ mein­te der Schieds­rich­ter. „Das war ein­deu­tig Kopf­ball!“
„Aber die gehört doch gar nicht zur Mann­schaft,“ beschwer­ten sich die Spie­ler.
Da zähl­te der Schieds­rich­ter die Gegen­mann­schaft und wie vie­le waren es? Mit der Kuh zwölf.
„Raus!“ brüll­te der Schieds­rich­ter. „Die­ses Tor zählt nicht.“ Und damit jag­te er die Kuh vom Spiel­feld. Er gab ihr sogar noch einen Tritt, da fiel der ver­gess­li­chen Kuh wie­der ein, dass sie ja eigent­lich eine Kuh war und sie rann­te vom Spielfeld.

Kaum trot­te­te sie wie­der die Stra­ße ent­lang, hat­te sie schon wie­der ver­ges­sen, dass sie eigent­lich eine Kuh war.

Wohin geriet die ver­gess­li­che Kuh dabei? Was mach­te sie und war­um bemerk­te sie schließ­lich doch wie­der, dass sie eigent­lich eine Kuh ist?

Auf der Stra­ße spielt ein Stra­ßen­mu­si­ker, aber nie­mand hört ihm zu. Die ver­gess­li­che Kuh stellt sich dane­ben und klopft mit ihren Hufen den Takt dazu. Pas­san­ten den­ken, sie sei von dem Musi­ker abge­rich­tet, blei­ben ste­hen, klat­schen und wer­fen Geld in sei­nen Hut. Der Musi­ker beginnt zu sin­gen, die Kuh singt mit. „Muh! Muuuh! Muh!“ Da hal­ten sich die Pas­san­ten die Ohren zu und lau­fen weg. Der Musi­ker ver­jagt die Kuh, da fällt ihr wie­der ein, dass sie eine Kuh ist.

Die ver­gess­li­che Kuh sieht eine Fami­lie ins Schwimm­bad gehen, geht hin­ter ihr her. Der Mensch an der Kas­se glaubt, sie gehört zur Fami­lie. Drin­nen rut­schen Kin­der über die Was­ser­rut­sche. Die Kuh klet­tert über die Lei­ter hoch, setzt sich in die Rut­sche, bleibt aber bald hän­gen, weil sie zu dick dafür ist. Die Kin­der hin­ter ihr schie­ben sie an und sie ruscht wei­ter und platscht ins Becken. Das sieht der Baden­meis­ter und jagt sie aus dem Bad, weil eine dicke Mut­ti auf dem Spiel­ge­rät für Kin­der nichts zu suchen hat. Da fällt ihr wie­der ein, dass sie eine Kuh ist.

Die ver­gess­li­che Kuh kommt an einem Boots­ver­leih am See vor­bei. Sie sieht Leu­te über den See rudern. Ein Mann steigt allein in ein Boot, die Kuh steigt zu ihm ins Boot, dabei kippt das Boot und sie lan­den bei­de im Was­ser. Der Mann springt ans Ufer und schimpft: „Was fällt Ihnen ein, Sie blö­de Kuh?“ Da fällt ihr wie­der ein, dass sie eine Kuh ist. Sie steigt aus dem Was­ser und läuft weg.

Die ver­gess­li­che Kuh geht am Kino vor­bei, in das gera­de Zuschau­er rein­ge­hen. Sie drängt sich dazwi­schen, braucht im Kino drei Sitz­plät­ze. Im Film küsst sich ein Lie­bes­paar, da meint sie, sie muss auch küs­sen und schleckt einen Jun­gen neben ihr mit ihrer Zun­ge übers Gesicht. Der Jun­ge schreit: „Hil­fe!“  Der Vor­füh­rer macht Licht, ent­deckt die Kuh und jagt sie hin­aus. Da fällt ihr wie­der ein, dass sie eine Kuh ist.

Fällt euch ja noch etwas ein, was die ver­gess­li­che Kuh an die­sem Tag in der Stadt trieb und was ihr dabei passierte?

Als sie wie­der auf der Stra­ße stand, war es schon Abend und die ver­gess­li­che Kuh drück­te ihr vol­les Euter. Da konn­te sie nicht mehr ver­ges­sen, dass sie  eigent­lich eine Kuh war. Wo soll­te sie jetzt nur ihre Milch los­wer­den? Sie schau­te sich um, aber sie sah weit und breit kei­nen Melk­stand. Dabei drück­te sie die Milch im Euter immer hef­ti­ger. Ver­zwei­felt rann­te sie durch die Stadt  und muh­te zum Herz­er­wei­chen.
Da kam ihr eine Schul­klas­se ent­ge­gen, die vom Wan­der­tag nach Hau­se kam. Die ver­gess­li­che Kuh muh­te kläg­lich, die Schü­ler stan­den um sie her­um und frag­ten: „Was hat sie bloß?“
Zum Glück war ihre Leh­re­rin auf dem Bau­ern­hof groß gewor­den. Sie sah gleich, dass die Kuh das vol­le Euter drück­te, setz­te sich auf ihren Ruck­sack, stell­te ihre Ves­per­schach­tel auf den Boden und melk­te die Kuh. Jeder Schü­ler bekam Milch in sei­nen Trink­be­cher, bis das Euter leer war.
Dann stu­dier­te die Leh­re­rin die Kenn­mar­ke der ver­gess­li­chen Kuh, rief den Bau­ern an, der auch gleich mit dem Trak­tor kam und die Kuh abholte.

Ihr wollt mir die Geschich­te von der ver­gess­li­chen Kuh nicht glau­ben? Bit­te dann geht doch sel­ber hin und fragt sie! Ich kann euch ger­ne die Adres­se des Bau­ern geben, in des­sen Stall sie steht. Aber falls sie euch nur anmuht und nichts erzäh­len will, dann liegt das eben dar­an, dass sie schon wie­der alles ver­ges­sen hat. Sie ist eben lei­der eine sehr ver­gess­li­che Kuh.

Die Erzäh­lung star­tet mit einer von Hein­rich Han­no­ver geschrie­be­nen Geschich­te, die in wei­te­ren Epi­so­den aus­phan­ta­siert wird. Sie lebt davon, eine Kuh in der mensch­li­chen All­tags­welt agie­ren (und schei­tern) zu lassen.

Beim Erzäh­len soll­te die Kuh jeweils ein Zei­chen bekom­men, wenn sie wie­der ver­gisst, dass sie eine Kuh ist (etwa Glot­zen mit auf­ge­ris­se­nen Augen) sowie ein wei­te­res Zei­chen, sobald sie sich wie­der erin­nert, eine Kuh zu sein (z.B. ein hin und her wackeln­der Kopf).

Das Mit­er­zäh­len ver­langt von den Zuhö­ren­den eine beweg­li­che Phan­ta­sie und gute sprach­li­che Aus­drucks­fä­hig­keit, jeden­falls, sofern sie eine Epi­so­de allein bestrei­ten wol­len. Oft wird nur geäu­ßert wer­den, was die Kuh ent­deck­te, als sie schon wie­der ver­gaß, dass sie eine Kuh ist. Sol­che Ein­fäl­le soll­ten die Erzäh­len­den auf­neh­men und selbst impro­vi­sie­rend aus­ge­stal­ten.
Falls kei­ne Vor­schlä­ge kom­men, kön­nen die Erzäh­len­den anhand der skiz­zier­ten Epi­so­den eine durch­ge­hen­de Erzäh­lung bestreiten.

Die Sze­nen, wie sich die Kuh in der mensch­li­chen Umwelt ver­hält, kön­nen nach­ge­spielt wer­den, indem die Kuh als Sta­tio­nen­spiel von Spiel­ort zu Spiel­ort trot­tet. Beim Nach­spiel kann Erin­nern und Ver­ges­sen gezeigt wer­den, indem sich die Spie­len­den mit hän­gen­den Armen vor­beu­gen und sich wie­der auf­rich­ten, sobald sie wie­der ver­gisst eine Kuh zu sein.