1.
Es gibt Geschichten, die kann man kaum glauben, obwohl sie tatsächlich passiert sind. Wie die Geschichte mit meinem Anzug.
Ich arbeitete damals in einem Verlagsbüro, und unser Chef war zwar ein netter und zuvorkommender Mensch, aber mit einer Sache war mit ihm nicht zu spaßen: Wer nicht rechtzeitig zur Arbeit erschien, den hatte er auf dem Kieker. Nun gut, mich störte das nicht, ich gehöre zu denen, die gern früh aufstehen, und in den Jahren, die ich bei ihm angestellt war, bin ich nur ein einziges Mal zu spät zur Arbeit erschienen.
Dieses eine Mal hatte allerdings unerwartete Folgen. Ich gebe zu, ich hatte am Abend zuvor über den Durst getrunken, und als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich Mühe, die Augen aufzukriegen. Ich räkelte mich noch einen Moment in den Kissen, da fiel mein Blick auf den Wecker: O Gott, schon zwanzig nach neun! Seit punkt acht Uhr hätte ich im Büro sitzen müssen. Und grade heute musste mir das passieren, wo ich dem Chef doch in die Hand versprochen hatte, einen Bezuschussungsantrag ans Arbeitsamt fertig zu stellen, der dort bis punkt 12 Uhr eingereicht werden musste. Mit einem Satz sprang ich aus den Kissen, schlüpfte in Unterhemd und Unterhose, warf mir das Hemd über und griff nach meinem Anzug.
Nanu, wo war denn der Anzug? Ich lege ihn jeden Abend ordentlich zusammengefaltet über einen Stuhl. Hatte ich das mit meinem Schwips gestern Abend nicht mehr geschafft? Hatte ich ihn etwa an die Garderobe gehängt? Oder in den Schrank? Oder hatte ich den gar unters Bett gefeuert? Nichts zu machen, mein Anzug blieb verschwunden.
Ich hatte keine Zeit mir lang Gedanken zu machen. Der Antrag! Ich musste so schnell wie möglich ins Büro. Aber halt, erst wollte ich kurz noch in der Firma durchgeben, dass ich heute ausnahmsweise etwas später komme, dass das mit dem Antrag aber trotzdem klar geht.
Ich rief also unseren Hausmeister an: „Hallo Willi, du, mir ist was ganz Dummes passiert, ich hab verschlafen. Kannst du es dem Alten schonend beibringen? Aber halt, sag besser nichts vom Verschlafen. Ich hab einen grippalen Infekt oder so. Aber ich komme trotzdem, wegen dem Antrag. Das macht sich besser!
– Wie bitte? Wer ich überhaupt bin? Nun stell dich aber nicht so an!
– Was sagst du da? Der Meier sitzt seit acht im Büro? Willst du mich verscheißern?
– Mensch warte doch!“ Aber da hatte er schon aufgelegt.
Habt ihr mitgekriegt, was mir der Willi aufgetischt hatte? Ich soll angeblich schon seit punkt acht Uhr an meinem Schreibtisch sitzen und arbeiten. Während ich den Telefonhörer sinken ließ, fiel mir plötzlich wieder ein, was ich vorm Aufwachen geträumt hatte. So ganz genau konnte ich mich nicht mehr erinnern, aber irgendwie stand im Traum mein Anzug vorm Bett und fauchte mich an, ob ich nicht mal gefälligst aus den Federn steigen und ins Büro gehen möchte. Und dann erinnerte ich mich, dass ich ihn laut angebrüllt hatte: „Wenn du so scharf drauf bist, dann geh doch allein ins Büro!“ Komisch, was man manchmal zusammenträumt!
Ich hatte nicht die Zeit darüber nachzudenken. Der Antrag! Ich musste versuchen, ihn auf jeden Fall bis punkt zwölf auf die Beine zu kriegen. Hals über Kopf stürzte ich aus der Wohnung, warf die Tür hinter mir zu und lief auf die Straße.
Da erlebte ich die nächste Überraschung: Mein Auto war weg. Oder hatte ich es doch woanders geparkt? Nein, Schwips hin oder her, ich konnte mich genau erinnern: Hier hatte ich es gestern abgestellt. Hatte es am Ende die Polizei abschleppen lassen? Unmöglich, es stand doch nicht im Parkverbot.
Da schoss mir wieder der Antrag durchs Hirn, und im gleichen Moment sah ich eine Straßenbahn in die Haltestelle einfahren. Kurzentschlossen spurtete ich los, konnte mich im letzten Moment noch zwischen die sich schließenden Türen quetschen und ließ mich keuchend auf einen freien Sitz fallen.
2.
Was starrten mich hier eigentlich alle so komisch an? Gut, ich schaute vielleicht noch etwas verschlafen aus, aber das ist ja andern auch schon passiert, oder? Oder hatte ich vielleicht mein Hemd verkehrt herum an? Oder vergessen, den Hosenschlitz zuzumachen? Ich schaute vorsichtig an mir runter: Schreck lass nach, ich lief ja in Hemd und Unterhosen herum.
War mir das vielleicht peinlich! Was machst du jetzt? dachte ich. Steigst eben an der nächsten Haltestelle aus, läufst in die Wohnung zurück und ziehst dich erst mal ordentlich an. Da bekomme ich den nächsten Schreck: Wie sollte ich wieder in die Wohnung reinkommen? Meine Schlüssel steckten doch in dem verschwundenen Anzug, und Geld und Ausweise obendrein. Half alles nichts, ich musste eben so ins Büro fahren, wie ich war. Ich tat, als wär’s das Normalste von der Welt, in Hemd und Unterhosen in der Straßenbahn zu sitzen, schaute interessiert zum Fenster raus und pfiff unbeteiligt vor mich hin
Da kam zu allem Überfluss auch noch ein Kontrollör. „Bitte sehr, meine Herrschaften, die Fahrscheine. Danke, jawohl. Und Sie mein Herr?“
Ich nehme an, der hat erst mal vor mir gestanden und sich die Augen gerieben. Ich hab so getan, als hätte ich nichts gehört, und schaute weiter interessiert zum Fenster raus.
Er tippt mir auf die Schulter: „Hallo, Sie sind gemeint. Ihren Fahrschein bitte.“
„Fahrschein? Wo hab ich nur meinen Fahrschein?“ Ich tat so, als suchte ich meinen Fahrschein in der Brusttasche meines Hemdes. Da war natürlich keiner. „Ich fürchte, den hab ich verloren.“
„Dachte ich mir doch gleich! Macht vierzig Euro erhöhtes Beförderungsfeld.“ Und schon hatte er seinen Block mit den Strafanzeigen in der Hand.
„Ich hab aber auch kein Geld einstecken,“ sagte ich.
„So? Ihren Ausweis bitte.“
„Leider hab ich auch keinen Ausweis dabei. Wissen Sie, das war nämlich so. Heute früh steh ich auf und da ist mein Anzug weg. Ich schau unters Bett, ich schau in den Schrank, ich schau …“
„Erzählen Sie mir keine Romane! Sie steigen mit mir an der nächsten Haltestelle aus und wir klären das bei der Polizei.“
Auch das noch. Was sollte ich machen? Ich trottete mit dem Kontrollör zur nächsten Polizeiwache. Dort stellten sie meine Personalien fest. Sie fragten mich, wie ich heiße, wo ich wohne, wo ich arbeite usw. und tippten alles in einen Computer rein. Schließlich bestätigten sie mir, ich würde tatsächlich Meier heißen. Als ob ich das noch nicht vorher gewusst hätte! Ich musste unterschreiben, dass ich die 40 Euro für die Straßenbahn bezahle, dazu noch 20 Euro Gebühr für die Feststellung der Personalien. Danach ließen sie mich laufen.
3.
Da stand ich in Hemd und Unterhose vor dem Polizeirevier und guckte ziemlich dumm aus der Wäsche. Die 60 Euro konnte ich ja verschmerzen. Aber wie kam ich jetzt wieder an meinen Anzug und vor allem an mein Geld, mein Scheckheft, meine Schlüssel und meine Ausweise? Mein Blick fiel auf die Normaluhr vor dem Polizeirevier: Es ging schon auf halb elf, und ich sollte doch bis punkt zwölf den Antrag stehen haben. Mir fiel ein, dass im Büro ja noch eine alte Arbeitshose herumliegen musste, die konnte ich ja zur Not erst einmal anziehen. Ich machte mich also zu Fuß auf den Weg ins Büro.
Seid ihr schon mal am helllichten Tag in Unterhose und Hemd durch die Stadt gelaufen? Dann wisst ihr ungefähr, wie mir zumute war. Schließlich hatte ich es geschafft. Durch eine Seitentür schlich ich mich in meinen Betrieb. Ich hatte Glück, niemand begegnete mir auf den Gängen. Ich husche hoch in den zweiten Stock, drücke vor meinem Büro lautlos die Klinke und schiebe mich durch die Tür. Ich bin noch damit beschäftigt, die Tür so lautlos wie nur möglich zu schließen, da höre ich hinter mir eine Stimme:
„Kei-ne Sprech-zeit! Verbit-te mir je-de Stö-rung!“
Ich fahre herum, und was muss ich sehen? Hinter meinem Schreibtisch thront mein Anzug. Nichts als der Anzug, ohne Gesicht, ohne Hände, aber er bewegt sich so täuschend ähnlich, als würde ich in ihm stecken und angestrengt arbeiten. Jetzt fing mir auch an zu dämmern, was es heute morgen mit dem Traum auf sich hatte: Das war ja wohl gar kein Traum gewesen. Weil ich verschlafen hatte, versuchte mein Anzug mich zu wecken.
Und als ich ihn dafür auch noch anfuhr, muss er kurzerhand allein ins Büro gegangen sein. Natürlich, deswegen hatte der Willi doch auch stur und steif behauptet, ich wäre schon längst an der Arbeit.
Offen gestanden: Ich war gerührt. War das nicht lieb von diesem Anzug, mir aus der Patsche zu helfen? Wie gesagt, zu spät zu kommen, konnte unsern Chef maßlos aufbringen. Mein treuer Anzug hatte mir also einen Anschiss erspart. Und wer weiß, vielleicht hatte er sich ja auch schon an den Antrag gemacht.
Ich gehe also auf ihn zu und sage: „Großartig, dass du mich hier vertrittst. Das werde ich dir nie vergessen!“ Dabei schaue ich ihm vorsichtig über die Schulter. Wunderbar, er saß tatsächlich über dem Antrag! „Wie weit bist du denn damit gekommen?“
Ich meine, ich war doch wirklich nett und freundlich zu ihm. Ich wollte ihm sogar schon anerkennend auf die Schulter klopfen, aber was musste ich hören?
„Sie sind i-den-ti-fi-ziert und als Stör-fak-tor ein-ge-stuft. Ent-fer-nen Sie sich!“
Alles, was Recht ist, aber das ging mir doch etwas zu weit. Und ich sagte, übrigens noch immer ausgesprochen freundlich: „Bitte, spiel dich hier nicht auf! Genau genommen bist nichts weiter als mein Anzug, und wenn du nicht parierst, pack ich dich in die Altkleidersammlung und kauf mir einen neuen. Okay? Und jetzt lässt du dich schön brav anziehen.“
Als ich nach ihm greifen will, springt der Kerl auf, und ich fassse ins Leere.
„Ihr-re An-ga-ben sind un-zu-tref-fend. Sie wa-ren als An-zug-trä-ger be-schäf-tigt. Sie sind ent-las-sen. Un-kos-ten wer-den er-stat-tet.“
Und damit steckt er mir genau 286,95 Euro in die Hemdtasche. Erst später begriff ich, was das heißen sollte. Das war nämlich genau der Preis, den ich für ihn im Kaufhaus bezahlt hatte.
Mit einem Schlenker seines Ärmels deutete mein Anzug auf die Tür:
„Sie ha-ben Haus-ver-bot. Ent-fern-nen Sie sich!“
Was fällt diesem dreisten Lappen ein? Mich aus meinen eigenen Büro rauswerfen zu wollen! Na warte, dich werde ich kriegen! Ich hechte vor, um ihn zu fassen, da schlägt er mit dem Ärmel nach mir, und zwar so heftig, dass es schmerzt. Während ich mir die Hand reibe, hat er mit einer Schnelligkeit, die ich ihm nie zugetraut hätte, nach dem Telefonhörer gegriffen und dem Hausmeister durchgegeben, er werde von einem renitenten Besucher belästigt.
Der Willi war ein Brocken Mensch, und wir riefen ihn manchmal um unangenehme Zeitgenossen an die Luft zu setzen. Der kennt mich ja nun seit Jahren, von dem, dachte ich, hast du nichts zu fürchten. Von wegen! Der kam zur Tür hereingefegt, packte mich und beförderte mich grob auf den Flur raus.
„Mensch Willi!“ sag ich, „Mach doch die Augen auf! Merkst du gar nicht, wen du vor dir hast?“
Und was muss ich hören? „Na und? Ich tu hier nur meine Pflicht, verstehste? Was kann ich dafür, dass dich der Alte entlassen hat?“ Und damit schubst er mich in den Gang und ruft mir noch hinterher: „Las dich bloß nicht mehr blicken hier! Das nächste Mal geht das nicht mehr so freundlich ab! Verstanden?“
Ehrlich gesagt, ich verstand überhaupt nichts mehr. Nur eins war mir klar: Ich konnte mir das doch nicht bieten lassen. Um den verpassten Antragstermin ging’s mir ja schon nicht mehr. Umso besser, wenn es mein Anzug schaffte, den Antrag allein auszufertigen. Aber ich konnte ihm doch nicht sang- und klanglos meine Schlüssel, meine Scheckkarte, mein Geld und meine Ausweise überlassen! Genau betrachtet war das doch Diebstahl, oder wenigstens Hochstapelei. Und dafür, dass solchen Gaunern das Handwerk gelegt wird, gibt’s ja schließlich die Polizei.
Ich bin also kurzerhand zum Polizeirevier zurückgestapft. Kaum tauchte ich dort auf, musste ich mir anhören: „Na sieh mal an, da kommt ja unser nackter Schwarzfahrer wieder. Haben wir noch immer nichts zum Anziehen gefunden?“
„Deswegen bin ich doch hier,“ sag ich. „Ich will Anzeige erstatten. Mir ist nämlich heute früh der Anzug abhanden gekommen.“
„Eine Anzeige wegen Diebstahl?“
„Ja, natürlich, schließlich stecken meine Papiere, mein Geld und meine Schlüssel in den Anzugtaschen.“
„Haben Sie einen Verdacht?“
„Und ob! Er sitzt in meinem Büro. Sie brauchen ihn nur zu verhaften. Aber passen Sie gut auf, der ist mit allen Wassern gewaschen, mich hat er gerade vom Hausmeister an die Luft setzen lassen.“
„Wie bitte? Wer soll in Ihrem Büro sitzen?“
„Wie oft muss ich’s Ihnen denn noch erklären? Ich habe heute morgen verschlafen, da ist mir der Anzug mit allen Wertsachen abgehauen, und jetzt macht er sich bei mir im Büro breit und lässt mich nicht mehr rein.“
Der Polizeibeamte zerknüllte das Formular, das er gerade ausgefertigt hatte, schaute mich scharf von der Seite an und meinte: „Hören Sie mir mal gut zu. Wenn Sie meinen, sie können sich auf unsere Kosten lustig machen, dann lasse ich Sie auf Ihren Geisteszustand untersuchen. Haben wir uns verstanden?“
Was sollte ich machen? Bevor die mich in die Psychiatrie einwiesen, murmelte ich lieber eine Entschuldigung und verschwand.
4.
Da stand ich also wieder in Unterhose und Hemd vorm Polizeirevier. Die Normaluhr vor der Wache stand auf kurz vor zwölf. Mit einem müden Lächeln dachte ich an den Antrag, da fiel mir ein, dass gleich schon Mittagspause war. Und dazu muss ich euch erklären, dass ich die Angewohnheit hatte, in der Mittagspause immer im Auto in ein kleines Restaurant zum Essen zu fahren. Schon um nicht aufzufallen, kombinierte ich, wird es mein Anzug genauso machen.
Ich ging also zum Betrieb zurück, fand meinen Wagen auf dem Parkplatz, trat einmal kurz gegen die Hecktür. Sie war seit Wochen schon defekt und sprang auch gleich auf. Dann versteckte ich mich im Kofferraum hinter der Rückbank und wartete. Ich hatte mich nicht verrechnet: Kurz darauf hörte ich, wie ein Schlüssel ins Schloss geschoben wurde, die Wagentür aufging und sich mein Anzug knisternd auf den Fahrersitz schob. Der Motor wurde angelassen und der Wagen fuhr los.
Ich kauerte mich auf der Rückbank zusammen und überlegte, wie ich diesen dreisten Lappen am geschicktesten zur Strecke bringen könnte. Nach dem, was ich im Büro erlebt hatte, war ja Vorsicht angesagt. Ich wollte jedenfalls abwarten, bis er sich weit genug vom Betrieb entfernt hatte und der Hausmeister außer Reichweite war.
Plötzlich quietschen die Bremsen, der Wagen kommt zum Stehen und ich höre eine schneidige Stimme: „Guten Tag, Polizeikontrolle. Bitte Ihre Fahrzeugpapiere!“
Ich sage euch, ich kriegte solche Ohren. Vorsichtig lugte ich über die Rücklehne. Der Polizist hatte die Papiere durchgesehen, und gab sie gerade zurück, dabei beugte er sich zum Wagenfenster runter, blickte überrascht auf: „Ja, sagen Sie mal, wo haben Sie denn Ihr Gesicht gelassen?“
Und was antwortete mein Anzug? „Zu Hau-se ver- ges-sen! Ein be-dau-er-licher Irr-tum.“
Ich dachte, jetzt ist er dran! Aber was meint da der Beamte, noch dazu in ganz freundlichem Ton? „Der Fahrer eines Kraftfahrzeuges ist verpflichtet, das in seinen Papieren ausgewiesene Gesicht jederzeit mit sich zu führen und auf Verlangen vorzuzeigen.“
„Die-se Aus-sage wird voll-inhalt-lich be-stä-tigt.“
„Na schön, na schön, Sie sind einsichtig, da wollen wir mal ein Auge zudrücken. Kommen Sie morgen auf die Wache und führen Sie Ihr Gesicht vor.“
„Ist ge-spei-chert und wird aus-ge-führt.“
Der Beamte grüßte und der Wagen fuhr wieder los.
Ich sag euch, ich war vielleicht sauer! Vor allem, weil ich mich über mich selber ärgerte: Als der Wagen angehalten wurde, hatte ich meine Chance gewittert, den Anzug zur Strecke zu bringen. Aber statt hinter dem Rücksitz vorzukommen und den Polizeibeamten aufzuklären, wen er da vor sich hatte, wollte ich ihn erst voll in die Falle tappen lassen. Konnte ich denn ahnen, dass diesem Polizisten noch nicht einmal auffiel, dass er es mit einem gesichtslosen Hochstapler zu tun hatte? Als ich mich endlich aufrappelte, war es zu spät. Der Polizist hatte sich schon abgewendet, die Fahrerscheibe schloss sich wieder, und deswegen hörte er auch nicht, wie ich rief: „Halt! Diebstahl! Anmaßung! Fassen Sie ihn!“
Wer mich aber wohl bemerkte, war mein Anzug. Mist, jetzt hatte ich mich verraten! Ich versuchte das Beste draus zu machen und sagte: „So mein Lieber, jetzt hörst du mir gut zu! Du hast mir heute früh einen großen Gefallen getan. Die Schweinerei vorhin mit dem Hausmeister will ich großzügig übersehen. Aber jetzt ist Schicht! Entweder du lässt dich auf der Stelle anziehen oder ich gehe zur Polizei und flüstere denen, mit wem sie es bei dir zu tun haben! Hochstapelei und Diebstahl, dafür kommst du hinter Gitter, darauf kannst du dich verlassen“.
Wenn ich nur geahnt hätte, was der gemeine Kerl im Schilde führte! Der ließ mich reden, ohne einen Ton von sich zu geben. Und ich bildete mir tatsächlich ein, er würde es einsehen. Aber von wegen! Statt mir wie ein vernünftiger Mensch zu antworten, drückte er plötzlich aufs Gas, preschte bei Rot über Kreuzungen, nahm anderen Fahrern laut hupend die Vorfahrt, schrammte an einem parkenden Wagen entlang, ohne anzuhalten. Ich wurde bleich bis in die Haarspitzen. Ich hatte Angst um mein Leben und versuchte ihn zu beruhigen. Ich erinnere nicht mehr, was ich genau gesagt habe. Irgendsowas wie: „Ich hab es ja gar nicht so gemeint. Jetzt beruhige dich doch schon. Ich meine, wir können uns doch einig werden.“
Als uns dann das erste Polizeiauto mit heulenden Sirenen verfolgte, dachte ich noch: Na endlich, jetzt bist du gleich dran, mein Lieber! Mein Anzug ließ sich davon nicht beeindrucken. Im Gegenteil, er drückte unbeirrt aufs Tempo, ging mit Vollgas in die Kurven, überholte mitten im Stadtverkehr auf der gegenüberliegenden Fahrbahn, wo es nicht anders ging, preschte er kurzerhand über den Gehsteig und durch Grünanlagen. Ich begreife bis heute nicht, wie er es schaffte, da heil durchzukommen. Ich werde jedenfalls immer noch schreckensbleich, wenn ich nur daran denke. Ich hockte hinten im Kofferraum, machte die Augen zu und schloss mit dem Leben ab. Schließlich gab es einen ohrenbetäubenden Krach, der Wagen machte einen Satz, und ich war sicher, dass das meine letzte Minute war. Das Auto kam aber plötzlich zum Halten, ich seh mich vorsichtig um: Hinter mir wird die Heckklappe aufgerissen, ein Polizist hält mir die Pistole unter die Nase und ruft: „Hände hoch! Rauskommen!“ Da hab ich erst mal schön brav die Hände hochgenommen. Und erst als ich mit erhobenen Händen auf der Straße stand, konnte ich sagen: „Entschuldigen Sie, ich bin doch gar nicht gefahren. Es war doch mein Anzug, der am Steuer saß!“
Und dabei deute ich auf den Fahrersitz und kriege einen Riesenschreck: Das durfte doch nicht wahr sein, mein Anzug war weg! Ob er sich unterm Sitz so geschickt zusammengelegt hatte, dass sie ihn nicht fanden? Ob er durchs Fenster davon flatterte? Oder ob er sich in Luft auflöste, ich weiß es nicht. Jedenfalls blieb er verschwunden. Und die ganze Affäre blieb an mir hängen.
Ich will es kurz machen: Sie brachten mich auf die Wache, und wie es der Teufel will, es war wieder die gleiche, wie schon zweimal zuvor an diesem seltsamen Tag.
Und diesmal sprangen sie auch ganz anders mit mir um. Ich weiß nicht, wie oft ich ihnen klarzumachen versuchte, dass nicht ich am Steuer saß, dass ich doch selber Blut geschwitzt hätte vor Angst und dass sie diesen dreisten Hochstapler zu verhaften hätten. Sie zeigten mir nur mitleidig den Vogel. Es setzte eine Anzeige wegen rücksichtslosen Rasens und außerdem behielten sie mich wegen Fluchtgefahr gleich in Untersuchungshaft. „Wir fahren Sie mit einer Streife nach Hause, sie suchen ihre Siebensachen zusammen“, meinte der Kommissar, „und dann ab in den Bau.“
Als ich ihm klarzumachen versuche, dass die Schlüssel in meinem Anzug steckten und dass der Anzug mir doch entwischt ist, knurrt er nur: „Schon wieder der Anzug! Jetzt legen Sie aber mal eine neue Platte auf!“
Bei der Durchsuchung hatten sie in der Hemdtasche das Geld gefunden, das mir der dreiste Gauner ausgezahlt hatte, der Kommissar schickte mich unter Bewachung ins Kaufhaus, mir eine Hose zu erstehen.
5.
Da stand ich wieder in Unterhosen vor dem Polizeirevier, diesmal auch noch von einem Polizisten bewacht. Und diesmal saß ich hoffnungslos in der Tinte. Der Anzug war mit meinen Wertsachen entwischt und ich hatte eine Anzeige am Hals und konnte damit rechnen, dass sie mich Monate dafür einbuchteten. Ich war fix und fertig, als ich neben meinem Bewacher zum Kaufhaus stapfte. Ihr könnt euch denken, dass mir nicht nach einem Einkaufsbummel zumute war. Ich griff mir das nächstbeste Sonderangebot, ging damit in die Umkleidekabine, mein Bewacher postierte sich davor und wartete.
Und während ich grade in die Hose steigen will, höre ich in der Nähe der Kabine einen Verkäufer fragen: „Darf ich Ihnen behilflich sein? Suchen Sie einen Anzug?“
Und darauf antwortete eine Stimme kurz und bündig: „Blöd-sinn!“
Es war der Tonfall, der mich aufhorchen ließ. Ich ließ meine Hose zu Boden gleiten, schob den Kabinenvorhang einen kleinen Spalt auseinander und schielte nach draußen: Tatsächlich, da stand mein Anzug mitten in der Anzugabteilung.
Ihr könnt euch denken, dass ich Hose, Bewacher und alle um mich herum vergaß und nur noch schaute.
„Nun,“ meinte der Verkäufer freundlich lächelnd, „vielleicht verraten Sie mir freundlicherweise, was sie suchen.“
Und was antwortet mein Anzug? „Ein Ge-sicht.“
Ich sehe noch, wie der Verkäufer vor Überraschung den Mund verzieht, dann aber meint: „Aber selbstverständlich, mein Herr!“
Ich muss dazu sagen, dass das gerade zur Faschingszeit war, und die hatten zwischen den ausgestellten Anzügen überall mit Faschingsmasken dekoriert. Der Verkäufer zeigte auf eine Doofmannsmaske und meinte: „Sie wünschen intelligent und vertrauenerweckend zu wirken? Dann darf ich Ihnen dieses Modell empfehlen. Unschlagbar im Preis, robust und von unverwüstlichem Charme.“
Mein Anzug schien nicht sehr begeistert.
„Sie zögern? Sie vermissen eine gehörige Portion Durchsetzungsvermögen? Mit gewissem Recht möchte ich sagen. Was halten Sie von diesem Modell?“ Und jetzt zeigte er auf eine Maske, die einen zähnefletschenden Vampir darstellte. „Damit wirken Sie in jeder Situation absolut unwiderstehlich! Wir geben Ihnen sogar Garantie darauf. Wenn Sie innerhalb der nächsten zwei Jahre einen Menschen finden sollten, auf den Sie nicht unwiderstehlich wirken, nehmen wir das Gesicht anstandslos zurück.“
Mein Anzug winkte mit dem schlaff herabhängenden Ärmel ab. Der Verkäufer senkte die Stimme: „Ich sehe, sie sind überzeugt, aber nicht begeistert. Nun, ich darf Ihnen verraten, wir haben da soeben eine absolute Neuheit hereinbekommen, ein Modell der Spitzenklasse, eine technologische Sensation: Ein Computer errechnet in jeder nur denkbaren Situation im Bruchteil von Sekunden den vorteilhaftesten Gesichtsausdruck.“ Und damit zauberte er eine Maske hervor, deren Gesichtszüge sich mit einem kleinen Hebelchen von einem aufdringlichen Grinsen auf heruntergezogene Mundwinkel verstellen ließen.
Von draußen höre ich meinen Bewacher ziemlich ungehalten fragen: „Na, haben wir jetzt vielleicht endlich mal die Hose an?“ Ich schiebe den Kopf zwischen den Vorhängen raus und flüstere: „Hören Sie, mein entlaufener Anzug treibt sich hier herum. Sie müssen ihn auf der Stelle verhaften. Aber Vorsicht, der ist gefährlich.“ Dabei zeige ich auf den Anzug, der grade eine Maske vorm Spiegel anprobiert.
Aber glaubt ihr, das hätte den interessiert? „Was geht das mich an? Ich hab den Auftrag Sie zu bewachen. Also raus mit Ihnen oder ich werde Ihnen Beine machen!“
Nein, diese Gelegenheit durfte ich mir nicht entgegen lassen! Ich musste mir den entlaufenen Anzug unter allen Umständen greifen, erstens wegen meiner Schlüssel und meines Geldes und zweitens, um der Polizei zu beweisen, dass mir tatsächlich mein Anzug entlaufen war.
Ich setzte also alles auf eine Karte. Ich schoss aus der Kabine um mich auf den Anzug zu stürzen und ihn festzuhalten. Aber mein Bewacher hatte wohl schon was gerochen. Noch ehe ich den Anzug erreichte, hatte er mich am Schlafittchen, drehte mir den Arm auf den Rücken und führte mich ab.
Hinter mir hörte ich noch die Stimme meines Anzugs: „Be-zah-le mit Scheck-kar-te.“
Auch das noch! Das Miststück kleidete sich auf meine Kosten ein!
Auf der Wache eröffneten sie mir, dass ich nun auch noch eine Anzeige wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt am Hals hatte. Der Kommissar wiegte bedenklich den Kopf und meinte: „Nun können Sie sich auf einen verlängerten Urlaub hinter Gittern gefasst machen.“
Ihr könnt euch ausmalen, wie mir zu Mute war. Ich hockte nur noch apathisch herum und ließ alles über mich ergehen: Fingerabdrücke, Fotos für die Verbrecherkartei und was die sonst noch alles machten.
Während sie die Aussage meines Bewachers aufnahmen, drückte mich die Blase und ich fragte ganz schüchtern, ob ich nicht vielleicht kurz austreten dürfte.
Der Kommissar befahl einem Beamten: „Gehen Sie mit ihm zum Dienstklo und warten Sie auf dem Gang, damit er nicht wieder Dummheiten anstellt.“
Der Beamte blieb vor der Klotür stehen und sagte noch: „Machen Sie aber bitte dalli, dalli!“
Ich stiefelte also ins Klo. Im Vorraum ging’s auf der einen Seite zu den Toiletten, auf der andern gab es einige Duschkabinen. In einer Kabine hörte ich das Duschwasser rauschen. Vor der Kabine hing an einem Kleiderhaken eine Polizeiuniform.
Als ich die Uniform sah, hat mich der Teufel geritten. Könnt ihr euch denken, was ich machte? Ich griff mir kurzerhand die Uniform und verschwand damit im Klo. Ich schlüpfe in die Hose, werf mir die Uniformjacke über, schau vorm Klo noch einmal prüfend in den Spiegel: Sie saß wie angegossen. Ich nehme Polizeischritt an, geh durch die Tür auf den Gang raus. Ich muss wohl irgendwie die Uniform von einem höheren Tier erwischt haben, jedenfalls riss der Polizist, der mich bewachen sollte, sofort die Hand an die Mütze und als ich den Gang entlang ging, kamen mir ständig grüßende Beamte entgegen. Ohne sie eine Blickes zu würdigen, ging ich an allen vorbei, schritt die Treppe runter und auf die Straße raus.
6.
Da stand ich wieder vor der Polizeiwache auf der Straße, aber diesmal nicht mehr nackt, sondern in Uniform. Die Polizei hatte ich jetzt erst mal los, aber damit war die Sache noch nicht ausgestanden. Wie kam ich jetzt nur wieder an meinen Anzug und meine Wertsachen?
Das war so einfach, dass man sich’s kaum zu erzählen traut. Ich vermutete, dass mein Anzug am Abend zu Hause sein würde, ging also zu meiner Wohnung, klingelte energisch, und als mir mein Anzug öffnete, sagte ich so zackig wie möglich: „Guten Abend. Sie wurden bei einer Fahrzeugkontrolle ohne Gesicht erwischt. Ich bin beauftragt zu prüfen, ob sie amtlich zugelassene Gesichtszüge besitzen.“
Und was macht mein Anzug? Er holt eine billige Faschingsmaske vom Garderobenhaken und schiebt sie sich über den Kragen.
„Halt!“, sag ich. „Versuchen Sie mich nicht für dumm zu verkaufen. Was sie da aufsetzen ist eine Fälschung. Sie sind verhaftet! Falten sie sich auf der Stelle zusammen und legen Sie sich auf diesen Stuhl!“
Ich muss zugeben, dass ich dabei innerlich zitterte. Was würde er sich jetzt wieder ausdenken, um mich auszutricksen? Aber nein, er parierte. Er klappte sich fein säuberlich zusammen, die Hosen falteten sich auf einem Stuhl zusammen, die Anzugjacke hing sich brav über die Stuhllehne, genau so, wie ich das Abend für Abend vorm Schlafengehen mache.
Mein erster Griff ging in die Jackentasche: Gottseidank, es war alles noch da, Geld, Brieftasche mit allen Papieren, Autoschlüssel und Hausschlüssel. Ihr könnt euch denken, dass mir so ein Stein vom Herzen fiel.
Aber könnt ihr euch auch denken, warum der Anzug plötzlich so prompt gekuscht hatte? Ich dachte natürlich, es hätte am Respekt vor der Uniform gelegen. Von wegen. Später hat er mir’s verraten, wir sind nämlich wieder gute Freunde geworden. Wenn ich es vorher gewusst hätte, wär alles ganz einfach gewesen. Es war schlicht nur der Satz: „Falten Sie sich zusammen und und legen Sie sich auf diesen Stuhl!“
Dieses einfache Sätzchen legte ihn lahm. So leblose Figuren wie ein Anzug, die können nämlich erst lebendig werden, wenn sie einer zum Leben bringt. Ohne den erklärten Willen ihres Trägers sind sie machtlos. Und wenn ich nicht im Halbschlaf am Morgen gemurmelt hätte: „Geh doch allein ins Büro, wenn du scharf darauf bist!“, dann hätte er niemals losziehen können. Als ich das wußte, da begann eine schöne Zeit für mich. Immer wenn ich morgens lieber noch weiterschlafen wollte, brauchte ich bloß zum Anzug zu sagen: „Geh allein ins Büro!“ Dann zog der los und arbeitete pünktlich ab acht und ich konnte in aller Ruhe ausschlafen. Aber das sag ich euch, meine Schlüssel, meine Papiere und mein Geld, die hole ich seitdem vorm Schlafengehen aus dem Anzug und lege sie mir unters Kopfkissen. Für alle Fälle!
Ihr werdet nun auch noch wissen wollen, was aus den Anzeigen bei der Polizei geworden ist. Nun, auch das endete ganz harmlos. Zur nächsten Vorladung schickte ich Ihnen meinen Anzug vorbei. Ich schätze, die staunten nicht schlecht, als ein Anzug ohne Inhalt auftauchte. Aber jedenfalls begriffen sie, daß ich nichts als die Wahrheit gesagt hatte, und zogen die meisten Anzeigen zurück. Nur dass ich ihnen eine Uniform geklaut hatte, wollten sie mir nicht nachsehen. Es gab eine Gerichtsverhandlung und ich wurde zu drei Monaten Haft verurteilt. Aber die habe ich nicht selber abgesessen. Ich schickte meinen Anzug ins Gefängnis, ich selber aber nutzte die Zeit für einen Urlaub auf Mallorca. Dort war es so warm, daß ich dort sowieso nur im Hemd rumlief und den Anzug ganz gut entbehren konnte..
In anderer Form erschienen in: Johannes Merkel, Ich kann euch was erzählen. Spielgeschichten, Reinbek 1981, S. 15-18
Zeichnungen Horst Rudolph